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D ieses Mal umarmte Edith ihn, Stainer konnte es kaum glauben. Sie zog ihn in die Wohnung, drückte wortlos die Tür zu und nahm ihn in die Arme. Er wusste nicht, wie ihm geschah, und ihm wurde ganz warm ums Herz.
«Tut mir leid, Paul, dass ich mich so von meiner kühlsten Seite gezeigt habe letzte Woche», sagte sie leise, und als Stainer begriff, dass seine Frau ihn umarmte und er sie an sich ziehen wollte, ließ sie ihn auch schon wieder los. «Bitte versteh: Ich war unsicher und hatte Angst, dir zu begegnen.»
«Hast du die jetzt auch noch?»
«Natürlich.» Sie nickte. «Es hat sich ja nicht viel geändert seit letzter Woche, oder?» Sie schaute ihn an, so aufmerksam, als wollte sie hinter seine Stirn und in seinen Kopf blicken. «Du bist zurück, ich bin überrumpelt, und du bist maßlos enttäuscht. So ist es doch auch letzte Woche schon gewesen? Dazu kommt: Vor deiner Rückkehr war ich eine Kriegswitwe unter vielen, nun bin ich eine untreue Ehefrau unter vielen treuen. Das fühlt sich nicht gut an.»
«Du wärst also lieber eine Kriegswitwe geblieben.»
Sie verdrehte die Augen und seufzte. «Rede keinen Unsinn, Paul. Doch ein Problem weniger hätte ich schon.»
«Zwei.» Stainer hob zwei Finger. «Du vergisst Brand.»
«Also gut, Herr Kriminalinspektor – zwei Probleme weniger, wenn Sie es so genau brauchen.» Edith nahm ihm Mantel und Fedora ab. «Schöner Hut», sagte sie und hängte beides an die Garderobe. Auch das hatte sie letzte Woche Mittwoch nicht getan, machte sich Stainer erfreut klar. «Der Anzug steht dir gut, wirklich. Allerdings brauchst du zu diesem Fedora unbedingt auch einen passenden Mantel.»
«Meinst du wirklich?» Nachdenklich betrachtete er den Hut und seinen alten Mantel an der Garderobe. Durch wie viele Kriegswinter hindurch hatte ihn dieser verschlissene Mantel gewärmt! Stainer hing an ihm, und er spürte, dass er sich nicht von ihm trennen mochte.
«Ja, das meine ich.» Edith wandte sich ab und winkte ihn hinter sich her in die Wohnküche. «Du hast sicher auch noch nichts gegessen heute.»
Wie aufregend, seiner Frau nach sechs Jahren Kriegswildnis wieder einmal in die gemeinsame Wohnküche zu folgen – Stainer spürte seine Knie weich werden. Aus der Küche duftete es nach Kartoffelsuppe. Er versuchte vergeblich, sich an die Kücheneinrichtung zu erinnern, doch kaum trat er ein und sah den weißen Tisch mit den weißen Stühlen, da war ihm, als wäre er gestern erst von ihm aufgestanden und hinausgegangen.
Einen Moment stand er wie betäubt, denn der vertraute Anblick so vieler Dinge, die einmal zu seinem Leben gehört hatten, überwältigte ihn.
Sein Blick wanderte über den lindgrünen Küchenschrank, über die emaillierte Kelle, die Kochlöffel und den gusseisernen Pfannenwender an der Hakenleiste seiner Schmalseite, glitt dann über den Gasherd, den Backofen, den Spülstein, die lindgrünen Wandregale und über die Porzellanbecher mit dem Mehl, dem Zucker und dem Salz bis zur Wanduhr, die aussah wie ein schwarzer Kirchturmgiebel.
Ihm war, als würde er einen Teil seines Lebens zurückgewinnen, während er Gegenstand um Gegenstand betrachtete, Ding um Ding in sich aufnahm.
Er stutzte, denn das Stillleben mit Blumen über dem dunkelgrünen Küchensofa kannte er nicht. Irgendein Niederländer, mächtig bunt, sah nach Breughel aus. Vielleicht hast du es einfach nur vergessen, sagte er sich, du hast doch so vieles andere auch vergessen. Nein, widersprach er sich selbst sofort, dieser Farbdruck hier gehörte nicht zu seiner Vergangenheit.
«Ein Geschenk von Eugen», sagte Edith, die seinen grüblerischen Blick bemerkt haben musste.
«Das muss weg», sagte er ein wenig schroffer als beabsichtigt. «Sobald ich wieder hier eingezogen bin, besorge ich uns ein anderes Bild.» Er dachte sofort an Böcklin, doch den würde Edith niemals in der gemeinsamen Wohnung dulden.
Edith seufzte. «Bitte, Paul, sei nicht kindisch!» Sie zog einen Stuhl unter dem gedeckten Tisch heraus. «Komm, setz dich.»
Sie stellte ihm eine Flasche Weißwein hin und reichte ihm einen Korkenzieher. Das Gefühl, den alten Horngriff in der Hand zu halten, war ihm so vertraut, dass ihm beinahe die Tränen gekommen wären. Vom Herd trug Edith einen Topf herbei und schöpfte aus, während er die Flasche entkorkte.
«Die Suppe habe ich schon gestern gemacht», sagte sie, «die schmeckt heute sicher noch besser.»
Edith hatte tatsächlich eine Kartoffelsuppe gekocht, eines seiner Leibgerichte. Stainer staunte. War das ein gutes Zeichen? Oder wurde Edith von ihrem Gewissen geplagt? Unsinn, wies er sich selbst zurecht, reiner Zufall. Sie hat die Suppe gestern zubereitet, als sie noch nicht wusste, dass du heute Abend kommen würdest. Oder hatte sie es insgeheim gehofft, bevor sie anrief?
Sie stießen an, tranken und aßen. Sie fragte nach seinem Neuanfang in der Wächterburg, und er fragte nach ihrer Arbeit auf der Wöchnerinnenstation. Jeder erzählte Kleinigkeiten aus seinem Arbeitsleben, und so tasteten sie sich aneinander heran. Nach seinen Erlebnissen auf dem Feld und im Lazarett fragte Edith nicht, und das war gut so.
Als er ihr nach dem Essen Feuer gegeben und sich auch seine eigene Zigarette angezündet hatte, kam er zur Sache und sagte, was zu sagen er sich vorgenommen hatte. «Ich werde heute ein paar meiner Sachen mitnehmen, Edith, nicht viel – nur, was ich am dringendsten brauche. Ich möchte nämlich, dass du eins weißt: Ich will hier wieder einziehen.»
«Ach, Paul, mach es uns doch nicht so schwer.» Edith schenkte Wein nach. «Wir müssen jetzt stark und ehrlich sein und den Tatsachen ins Auge zu sehen. Die Zeit lässt sich einfach nicht mehr zurückdrehen. Inzwischen verbindet mich zu viel mit Eugen.»
«Mehr als mit mir?» Mit seinem Blick hielt er ihren fest; hoffte darauf, dass seine Augen etwas in ihr auslösten, so wie früher. Edith wich ihm aus, rauchte schweigend, sah traurig zum Bild über dem Sofa hin und nippte an ihrem Wein. «So schnell wirst du mich nicht los, Edith», legte Stainer nach. «Ich will dich zurück.»
«Meine Güte, Paul!» Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, und Stainer zuckte zusammen. «Bin ich denn ein Ding?» Sie schüttelte den Kopf und legte schließlich ihre Hand auf seine. «Und wie soll das denn gehen? Soll ich etwa mit zwei Männern leben? Das ist strafbar, wie du als Kriminalinspektor wissen solltest.»
Mit zwei Männern, wiederholte er in Gedanken, wenigstens schloss sie ihn nicht mehr kategorisch aus. «Du sollst mit mir leben, Edith, und nur mit mir.» Wie konnte er ihr nur begreiflich machen, was in ihm vorging? Er rieb sich die Schläfen und atmete tief durch, ehe er fortfuhr. «Ich komme von weit her, weißt du? Weiter, als nur aus Frankreich. Ich komme von so weit her, dass ich keine Worte habe, um dir davon zu erzählen. Der Krieg hat mich verändert, ich bin nicht mehr der, den du geheiratet hast.»
«Ich kenne dich, Paul», sagte sie leise, «du wirst es überstehen.» Ihre Hand schloss sich fester um seine. «Du bist stark – allein, dass du überlebt hast, dass du es zurück nach Hause geschafft hast, spricht für deine Stärke. Deine Mutter hat mir erzählt, dass du nachts schreiend aufwachst, dass dein Gedächtnis dir Mühe macht, dass du manchmal zitterst. Und trotzdem hast du es zurück nach Leipzig und sogar zurück in die Wächterburg geschafft.»
«Das war reiner Zufall.» Stainer dachte an Prollmann und an die Krankenakte Major Paul Stainer , die der Fettsack demnächst auf Kasimirs Schreibtisch legen würde. «Pures Glück, weiter nichts.»
«Hör doch auf!» Sie winkte ab. «Sie haben dich sogar zum Inspektor befördert. Machen wir uns doch nichts vor!» Beinahe flehend schaute sie ihn an. «Über kurz oder lang wärst du wieder in erster Linie Polizist und erst in letzter mein Ehemann. Das will und das werde ich nicht mehr ertragen.»
«Ich habe über alles nachgedacht.» Tief sog er den Rauch ein und blies ihn gegen das grüne Porzellan des trichterförmigen Lampenschirms. «Die Zeit, in der ich mich im Polizeiamt als junger Kommissar durchsetzen musste, war nicht leicht für dich, das muss ich zugeben. Doch nun leite ich eine Abteilung, muss mich von niemandem mehr herumkommandieren lassen, kann meine Arbeit viel freier einteilen. Es wird anders werden als früher, ich werde mir mehr Zeit nehmen für unsere Ehe, das verspreche ich dir. Die Scheidung jedenfalls kommt überhaupt nicht in Frage. Ich will sie unter keinen Umständen.»
«Sei nicht so trotzig.» Sie ließ seine Hand los, drückte ihre Zigarette aus und stand auf. «Komm, ich zeig dir, wo ich deine Sachen aufgehoben habe.»
Er folgte seiner Frau durchs Wohnzimmer bis zum Klavier, dort blieb er stehen. Die Versuchung war zu groß – er konnte nicht anders, als sich auf den Hocker zu setzen, den Deckel hochzuklappen und in die Tasten zu greifen. Erst klimperte er zaghaft, dann spielte er die Tonleiter hinauf und herunter und griff schließlich ein paar Akkorde.
In Frankreich, in zertrümmerten Dörfern hinter der Front, hatte er manchmal ein Klavier in einem stehen gebliebenen Haus entdeckt und sich davor gesetzt. Und dann die Stücke gespielt, die er bei seinen Klavierlehrern in Dresden und Leipzig gelernt hatte, bevor die Kommissarsausbildung ihm die Zeit für die schönen Dinge des Lebens weggefressen hatte.
Nach und nach ging sein Spiel in eine vertraute Melodie über, die er zunächst selbst nicht erkannte. Edith lehnte in der offenen Schlafzimmertür, hielt die Arme vor der Brust verschränkt und lauschte mit zur Schulter geneigtem Kopf. Für wenige Momente vergaß er, warum er hier war, dass Edith einen Geliebten hatte, was sie gesprochen hatten und dass er seit sechs Jahren zum ersten Mal wieder an diesem Instrument saß.
Als er zwischen zwei Takten zu Edith hochschaute, merkte er, dass ihr Tränen über die Wangen rannen, und jetzt erst wurde ihm bewusst, dass er ein Stück spielte, das sie und ihn verband, das sie immer verbinden würde: die ‹Air› aus Bachs dritter Orchestersuite. Seine Mutter hatte sie bei seiner und Ediths Hochzeit in der Paul-Gerhardt-Kirche an der Orgel gespielt.
Nach dem letzten Akkord blieb er ein paar Sekunden lang mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf am Klavier sitzen und wusste nicht recht, wohin mit sich. «Du bist gemein», flüsterte Edith und wischte sich über die Augen. «Komm schon.» Sie wandte sich ab und ging ins Schlafzimmer.
Was blieb ihm anderes übrig, als ihr zu folgen? Als er über die Schwelle trat und sein Blick gleich auf das schwere Eichenbett mit dem geschwungenen, zaunartigen Fuß- und Kopfende fiel, fiel ihm das Atmen schwer. Schnell schaute er woandershin – auf die Kommode mit dem hohen Flügelspiegel und der Marmorplatte, auf die schmalen und hohen Nachttische mit den gusseisernen Türgriffen und auf die beiden schweren Kleiderschränke mit den Spiegeltüren.
Das Schlafzimmer war das Hochzeitsgeschenk von Ediths Eltern gewesen. Als junges Ehepaar hätten Edith und er sich niemals derart edles Mobiliar leisten können, doch Ediths Eltern waren wohlhabende Geschäftsleute und führten ein damals schon gutgehendes Hotel in der Dresdner Innenstadt.
Stainer richtete seinen Blick wieder auf das Bett, das er und Edith sieben Jahre lang geteilt und in dem sie so manche paradiesische Stunde verbracht hatten. «Brand hat darin geschlafen, nicht wahr?» Er spürte, wie ihm die Wut aus dem Bauch in die Kehle heraufkroch.
«Mensch, Paul!» Edith riss die Türen des kleineren der beiden Kleiderschränke auf. «Musst du dich unbedingt so quälen?»
«Ist er gut im Bett?»
Edith fuhr herum und blitzte ihn an. «Du bist gemein!», zischte sie. An ihm vorbei hastete sie aus dem Schlafzimmer.
«Wieso? Man wird doch noch fragen dürfen!» Da hörte er sie schon die Küchentür zuwerfen. «Noch dazu in seinem eigenen Schlafzimmer.» Seufzend trat er vor den Schrank. «Jetzt hast du’s dir endgültig versaut, Stainer.»
Edith hatte weniger von seiner Garderobe verkauft, als er befürchtet hatte. Sein Kleiderschrank war noch mehr als halbvoll. Ganz unten in der Kleiderstangenhälfte mit seinen Anzügen, Mänteln und Hemden fand er seine alte Sporttasche und einen Koffer. Er packte einen Anzug, zwei Hemden und den Sportanzug ein, den er immer im Jiu-Jitsu-Training getragen hatte.
Eine Zeitlang strich er über den dunkelgrauen Wintermantel aus Schurwolle, den er sich im Winter vor dem Krieg gekauft hatte. Er sah noch aus wie neu, und nicht eine einzige Kriegserinnerung steckte in dem Stoff. Nach kurzem Zögern zog er ihn samt Bügel aus dem Schrank und packte ihn ein.
Dazu legte er Wäsche, Socken, einen Pullover, eine Weste und was man so brauchte. Plötzlich war er gar nicht mehr davon überzeugt, bald wieder bei Edith einziehen zu können.
Zwischen seiner Wäsche fand er das in schwarzes Leder gebundene Notizbuch mit der Goldprägung seines Namens, das Edith ihm im Januar 1909 zur bestandenen Kommissarsprüfung geschenkt hatte. Er blätterte darin – es enthielt nur die Notizen zu seinem ersten Fall. Aus Sorge, es allzu schnell füllen zu müssen, hatte er es danach nicht mehr benutzt.
Im obersten Fach fand er ein paar Bücher. Hatte Edith sie in die Dunkelheit des Schrankes verbannt, weil seine Lieblingsbücher sie zu sehr an ihn erinnerten, wenn sie draußen im Regal geblieben wären? Stainer packte nur zwei Bände ein: das Jiu-Jitsu-Lehrbuch Selbstverteidigung ohne Waffen von seinem Lehrer Max Weiß und Rilkes Stundenbuch , die Erstausgabe von 1905.
Als er die anderen Bücher wieder ins Fach legte, ertastete er Bilderrahmen und nahm einige herunter. Gleich das erste Bild schnürte ihm die Kehle zu: Edith und er frisch verlobt vor dem elterlichen Hotel in Dresden. Er schob es nach hinten, betrachtete das nächste Bild: Edith und er vor der Elektrischen, vor der sie sich kennengelernt hatten.
Ein Bild nach dem anderen schaute er sich an: Edith und er in Hochzeitsgarderobe vor der Paul-Gerhardt-Kirche, Edith und er an der Hochzeitstafel, Edith und er unten vor dem Eingang der Gustav-Freytag-Straße Nummer 12.
Ehe er es sich anders überlegen konnte, fuhr Stainer herum und schleuderte die Bilder gegen die Wand über dem Bett. Holz und Glas splitterten, da stürmte auch schon Edith ins Schlafzimmer. Wie angewurzelt stand sie vor dem Bett und betrachtete die zerbrochenen Bilder, die Glasscherben und die Holzsplitter auf den Kopfkissen und dem Bettvorleger.
Irgendwann zog sie eines der Fotos aus den Scherben heraus und hob den Blick – Stainer entdeckte keine Spur von Vorwurf darin, nur Trauer. Sie kam zu ihm und zeigte ihm das Bild, auf dem man sie vor der Elektrischen sah, aus der sie ihm im Frühjahr 1906 buchstäblich in die Arme gestolpert war.
Kraftlos fielen ihr die Hände herunter, und sie ließ sich an seine Brust sinken und lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter. Stainer schloss sie in die Arme und hielt sie fest. Eine Zeitlang standen sie so. Und weinten – Stainer lautlos, Edith herzzerreißend laut.
Später, als sie sich ein wenig beruhigt hatten, saßen sie wieder in der Küche, tranken Weißwein und rauchten. «Eugen ist ein gebrochener Mann», sagte Edith leise.
«Ich weiß, ich habe ihn getroffen.»
«Im Zillertal , er hat es mir erzählt.»
«Er scheint zu trinken.»
«Eugen hat den Tod seiner Söhne nicht verkraftet, und der Selbstmord seiner Frau hat ihm dann den Rest gegeben.»
«Seine Frau hat sich umgebracht?» Stainer erschrak. «Das hat er mir nicht erzählt.»
«Laudanum, eine Überdosis. Die Ampullen hat sie ihm in der Klinik gestohlen. Das Einzige, was ihn noch am Leben hält, ist seine Arbeit in der Gynäkologischen Klinik.» Sie seufzte. «Und ich.»
«Mir kam es vor, als hätte er meinetwegen ein schlechtes Gewissen.»
«Ja, Paul, das hat er.»
Beim Abschied an der Wohnungstür nahm Stainer seine Frau in die Arme und küsste sie. Lange und leidenschaftlich. Bis Edith sich schwer atmend von ihm losmachte und ihn zur Tür hinausschob. «Geh jetzt, Paul. Geh jetzt ganz schnell.»
Er schritt in die Nacht hinaus und trug seinen Koffer und seine Tasche über die abendliche Südstraße hinauf zur Moltkestraße. Die Vorstellung, sich nach dieser Begegnung mit Edith zu hundert Leuten in den Wagen einer Elektrischen zwängen zu müssen, erfüllte ihn mit Grausen.
Die Südstraße war belebt und stark befahren, die Luft roch nach Winter und Braunkohlerauch. Der Wein machte Stainer nichts aus – er ging schnell und ohne zu wanken. Nur Edith machte ihm zu schaffen; er war traurig, wenn er an sie dachte. Und er dachte bei jedem Atemzug an sie.
Dass er sie zurückhaben wollte, wusste er jetzt mit noch größerer Klarheit als vor dem Besuch. Nur das Wie erschien ihm unklarer denn je. Was, außer Mitleid, verband sie bloß mit diesem Arzt? Was hatte Brand ihr denn gegeben, was gab er ihr noch?
Vor seinem Zeitungsladen bog er nach rechts in die Moltkestraße ab. Auf Höhe des schon völlig dunklen Landgerichts fiel ihm unter den entgegenkommenden Radfahrern ein Uniformierter auf, der zu ihm herübersah, winkte und abstieg. «Herr Kriminalinspektor!»
Stainer erkannte Kupfers Stimme und überquerte die Straße. «Ist was passiert?»
«Heiland!» Kupfer schwitzte und war ganz rot im Gesicht. «Seine Tante hat bei Junghans angerufen, eine Frau König!» Er schnappte nach Luft und stieg vom Rad. «Heiland hat sich bei ihr versteckt.»
Aufmerksam verfolgte Stainer den Bericht seines Oberwachtmeisters. Angeblich wollte diese Frau König mit ihrem Neffen gerade zur Wächterburg aufbrechen, als ein unerwarteter Anruf beim Nachbarn sie aufhielt. Heiland habe dann überstürzt das Haus in der Salomonstraße verlassen und sei zum alten Johannisfriedhof gelaufen.
«Einer seiner Neffen ist hinter ihm hergeschlichen», erzählte Kupfer. «Daher weiß die Frau das so genau. Und Junghans ist mit dem Fahrrad losgefahren.»
«Wohin genau?»
«Johannisplatz und Salomonstraße.» Der Oberwachtmeister zuckte mit den Schultern. «Genaueres weiß ich leider nicht.»
«Haben Sie Beamte zu der Frau geschickt?»
«Noch nicht. Ich dachte: Wozu einen Mannschaftswagen voller Polizei zu einem Mann schicken, der sich sowieso stellen will?»
Stainer schaute ihn nachdenklich an. «Verstehe.»
«Ich habe vergeblich versucht, Sie über Fernsprecher zu erreichen, Herr Inspektor», sagte Kupfer, der wohl einen Vorwurf in Stainers Miene las. «Da dachte ich: Fahr zu ihm und klopfe. Sie glauben nicht, wie heilfroh ich bin, dass ich Sie doch noch treffe.»
«Wie lange ist es her, dass Heilands Familie angerufen hat?»
«Eine halbe Stunde höchstens.» Der Oberwachtmeister schob Stainer das Rad hin. «Salomonstraße sieben. Treten Sie in die Pedale, Herr Inspektor. Fahren Sie erst in die Wächterburg und nehmen Sie dort den Dux.» Kupfer nahm ihm Koffer und Tasche ab. «Ich fürchte, Sie müssen sich beeilen.»