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E r mied die breiten Friedhofswege, schlich lieber auf den schmalen, teils überwucherten Pfaden durch die alten Gräberfelder. Max Heiland kannte sich nicht gut aus auf dem Alten Johannisfriedhof, doch wie man von dessen Nordrand zur Trauerhalle an der Hospitalstraße kam, wusste er trotzdem.
Manchmal, wenn er wegen der Dunkelheit die Orientierung verlor, blieb er stehen, lauschte und lief dann in die Richtung weiter, aus der er den Verkehrslärm auf der Hospitalstraße oder die Glocken der Johanniskirche hörte. An der Front hatte er gelernt, sich im Niemandsland zwischen den Linien zu orientieren, wo Artilleriegranaten jede Landmarke zertrümmert und untergepflügt hatten.
Heiland huschte von Deckung zu Deckung. Er hatte den stillgelegten Friedhof durch den Nordeingang betreten, vom Täubchenweg aus und nicht von Süden her über die Hospitalstraße, wie der Einarmige es am Fernsprecher verlangt hatte. Er traute dem Satan nicht und wollte aus einer Ecke in dessen Rücken schleichen, mit der dieser nicht rechnete.
Dass es nichts Gutes sein würde, was ihn an der Trauerhalle erwartete, war Heiland vollkommen klar. Seit er wusste, dass Karl Krüger die Villa in der Artilleriestraße in einer Blechwanne verlassen hatte, zweifelte er nicht mehr daran, dass Joseph seinen Freund erschossen hatte. Und daran, dass Josephs letzte Kugel für ihn bestimmt war, zweifelte er sowieso nicht mehr.
Er war da in eine Sache hineingeschlittert, die mindestens zwei Nummern zu groß für ihn war. Die Art, wie Joseph in den Papieren aus dem Wandschrank gewühlt hatte, wie er im Obergeschoss den Mann ins Zimmer gerissen und sofort das Feuer auf ihn eröffnet und wie er den armen Kerl auf der Treppe regelrecht hingerichtet hatte, sprach Bände. Verdammt, er hätte sich niemals mit diesen Leuten einlassen dürfen!
Für Heiland ging es jetzt nur noch um eines: die Aufmerksamkeit dieser Mörderbande von seiner Familie weg auf sich selbst zu lenken. Dafür hatte er sich einen Plan zurechtgelegt.
Er duckte sich hinter einen starken Baumstamm, huschte über eine Wegkreuzung und kauerte sich auf der anderen Seite neben den Sockel einer großen Statue. Aufmerksam spähte er in die Dunkelheit – der breite Weg, der sich da zehn Schritte weiter nach Süden hin öffnete, führte wahrscheinlich direkt zur alten Trauerhalle. Heiland blickte zur Statue hinauf – ein Engel. Er erinnerte sich an einen Spaziergang mit Christel hier auf dem alten Friedhof und daran, dass ein etwa dreihundert Meter langer Weg von der Halle zu dieser Kreuzung mit dem großen Engel geführt hatte.
Lautlos schlich er in die Büsche und dann immer in Sichtweite des Hauptweges nach Süden. Das winterkahle Laubgehölz auf dem Friedhof bot wenig Deckung, doch zum Glück wuchsen überall Zypressen, Wacholderbüsche und Eibenhecken. Und wenn einmal gar kein dichtes Nadelgehölz mehr zu erkennen war, huschte Heiland in geduckter Haltung von Baumstamm zu Baumstamm. Die Eichen, Ulmen und Kastanien hier waren so alt, dass ihre Stämme locker zwei Männer seiner Statur verdeckten.
Das um diese Zeit nur noch im Minutentakt an- und abschwellende Motorengebrumm auf der Hospitalstraße rückte immer näher, und irgendwann rasselte und quietschte eine Elektrische so dicht hinter der dunklen Wand aus Baumstämmen, Kreuzen und Hecken vorbei, dass Heiland die Gleise noch höchstens einen Steinwurf weit entfernt vermutete. Als das Rasseln der Elektrischen sich nach Reudnitz hin verlor, hörte Heiland plötzlich Stimmen.
Er richtete sich hinter einer Brunnenfassung auf und erkannte die Umrisse der Trauerhalle vor einem Spalier hoher Bäume. Mehr als dreißig Meter weit war es nicht bis dorthin. Die Stimmen kamen aus der Dunkelheit vor dem Gebäude, glühende Zigaretten bewegten sich dort auf und ab. Heiland glaubte, die Konturen von drei oder vier Männern zu erkennen.
Das Herz schlug ihm bis zum Hals, und um seinen Brustkorb schienen sich Stahlbänder gelegt zu haben, so schwer fiel ihm plötzlich das Atmen. Er ballte die Fäuste und biss sich auf die Unterlippe – wie hatte er nur so naiv sein können zu glauben, der Einarmige würde allein hier auf ihn warten, allenfalls noch von Joseph begleitet?
Vom Brunnen aus huschte er hinter eine Hecke aus mannshohen Zypressen und schlich hinter ihr weiter in Richtung Hospitalstraße. Er wollte den Platz vor dem Eingang zur Trauerhalle erreichen, wo ihn nur noch ein Katzensprung von der Straße trennen würde. Sein Plan war einfach: Sich den Kerlen zeigen, damit sie wussten, dass er sich nicht mehr in der Salomonstraße versteckte, und die Tante in Ruhe ließen. Und danach nichts wie weg auf die Hospitalstraße und im Spurt zur Polizeiwache am Johannisplatz; die lag höchstens zweihundert Meter von hier. Dort wollte er sich stellen und um Polizeischutz für Christel und die Kleine bitten.
Etwas Hartes bohrte sich in seinen Rücken, und eine Stimme hinter ihm rief: «Hier ist er! Er ist von der anderen Seite gekommen, wollte wohl ganz schlau sein, der Bursche.»
Einen Augenblick lang verharrte Heiland wie gelähmt. Vor der Trauerhalle flogen Glutpunkte durch die Dunkelheit, dann näherten sich rasche Schritte. Heiland wirbelte herum, schlug mit der Linken einen Flintenlauf weg und stieß die rechte Faust in ein Gesicht, von dem er nur Umrisse sah.
Der Getroffene ächzte und taumelte – und als er im Buschwerk aufschlug, rannte Heiland schon an Zypressen und Kreuzen vorbei, schlug einen Haken um ein Denkmal und sprang neben einem Laternenpfahl über den Bürgersteig auf die Straße.
Da puffte etwas irgendwo hinter ihm, und sofort schnitt es ihm glühend heiß über die Rippen. Er schrie auf, rannte aber weiter, rannte vor einer Elektrischen, die vom Johannisplatz heranfuhr, zur anderen Straßenseite. Ein Wagen bremste, eine Warnglocke läutete, eine Frauenstimme schimpfte, das Horn einer Kraftdroschke tönte, und Heiland kämpfte gegen die aufbrandende Panik an.
Vorbei an ausweichenden Passanten hetzte er über den Bürgersteig und der Polizeiwache entgegen. Irgendetwas brannte und stach ihn an der rechten Rippenseite, doch er achtete nicht darauf und rannte einfach weiter. An einer großen Limousine, die am Straßenrand parkte, flogen Türen auf.
Siedend heiß fuhr Heiland der Schreck in die Glieder – ein schwarzer Mercedes Cardan!