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I
m Traum rannte Stainer an Ediths Hand in das seichte Uferwasser des Störmthaler Sees. Sie lachten, sie waren jung und frisch verlobt, und im Wasser spiegelte sich deutlich sein schwarzes Haar. Seite an Seite schwammen sie hinaus, am anderen Ufer wollten sie sich lieben.
Schwarze Wolken bedeckten auf einmal den Himmel, Blitze zuckten, Donner grollte, eine Sturmböe jagte eine Flutwelle über den See und begrub Edith unter sich. Stainer wollte schreien, doch nicht einmal ein tonloses Stöhnen löste sich aus seiner Kehle.
Von einem Augenblick auf den anderen verdunkelte schwarzer Rauch den Himmel. Ringsum detonierten Artilleriegranaten in Sekundenintervallen, Männer schrien hinter Stainer, Explosionsblitze blendeten ihn. Sein Herz raste, und voller Angst drückte er das Gesicht in den Schlamm.
Der Störmthaler See war plötzlich zu einem Granattrichter geschrumpft, und gelbliches Wasser stand Stainer bis zum Hals. Zu siebt drängten sie sich in dem vollgeregneten Krater, einer versuchte, den anderen über Wasser zu halten, und trotzdem waren schon zwei Verwundete untergegangen. «Die Einschläge kommen näher!», brüllte Renkewiz. «Wir müssen hier raus!»
Ein Leutnant, ein Feldwebel und zwei Schützen kletterten zum Kraterrand hinauf, rissen sich die Gewehre von den Schultern und sprangen aus Stainers Blickfeld und in den schwarzen Qualm hinein. Renkewiz packte ihn, den Angeschossenen, und zerrte ihn hinter sich her durch den Schlamm zum Rand des
Granattrichters hinauf. Ein schweres Artilleriegeschoss detonierte so nahe vor ihrem Bombentrichter, dass Stainer die Ohren zufielen. Eine Lawine aus Schlamm, Holzsplittern, menschlichen Gliedern und Erdbrocken ging auf sie nieder. Die Panik sprengte Stainer schier die Brust, der Torso des Feldwebels stürzte auf ihn und drückte ihn tief in das gelbliche Wasser hinein, das sich nach und nach rot färbte.
Wieder verwandelte das Gewässer sich, und der Kraterteich wurde zum nächtlichen Fluss. Stainer schwamm weg vom Tank und vom englischen Maschinengewehrfeuer, schwamm weg vom brennenden Ölteppich, schwamm um sein Leben. Die Einschläge des feindlichen Geschützfeuers hörten sich an, als hätte ein Titan Felsbrocken aus einem steinernen Himmel gesprengt, die nun unaufhörlich hinunter auf die Erde trommelten.
Die Umrisse des überfüllten Bootes schälten sich aus der Nacht, die Hand des Hauptmanns streckte sich ihm erneut entgegen, und Renkewiz brüllte wieder: «Greif zu, Paul, greif doch zu!»
Schreiend fuhr Stainer aus dem Schlaf hoch. Angst drückte ihm die Luft ab, sein Herz raste, und nasses Haar klebte ihm in der Stirn. Er drückte die Hände auf die schmerzende Brust, weil er fürchtete, sein Herz könnte zerspringen. Wie ein Gehetzter blickte er sich um – alles war dunkel und still, nirgendwo Explosionsblitze oder Rauch und auch sonst keine Anzeichen von Krieg.
Warum aber bebte dann sein Bett? Er tastete Decken und Kissen ab – sein Bettzeug war nassgeschwitzt und der Platz auf dem feuchten Kissen, wo die Katze sonst immer schlief, fühlte sich warm an.
Immer noch schwer atmend beugte er sich zum Nachttisch und tastete nach dem Lampenschalter. Auch der Nachttisch
bebte, das Buch darauf fiel hinunter, der Wecker stürzte um – und jetzt erst merkte Stainer, dass er am ganzen Körper zitterte. Endlich erwischte er den Schalter, und Licht flammte auf.
Schwer atmend schob er die Beine aus dem Bett, blieb auf der Bettkante sitzen und kreuzte die Arme vor Brust und Schultern. Eine Zeitlang schaukelte er vor und zurück. Konnte denn ein einziger Mensch so viel Angst fühlen? Konnte denn ein erwachsener Mann dermaßen zittern und Herzklopfen bekommen?
«Wenn er lange genug auf Frankreichreise gewesen ist, kann das schon mal passieren, oder nicht?» Er flüsterte, lachte bitter auf und schüttelte sich.
Von irgendwoher drang das jämmerliche Miauen des Kätzchens in sein Bewusstsein. Er blickte sich um: Eule hockte mit gesträubtem Fell an der Tür und miaute. Stainer stand auf, torkelte zu ihr, nahm sie hoch. «Nichts passiert», raunte er dem Tierchen zu, «nur ein Traum, alles gut.»
Auf dem Weg zum Badezimmer fiel sein Blick auf die leere Cognacflasche, die auf dem Tisch aus Baumanns Unterlagen ragte. Die Schießerei gestern Abend, die war schuld – er war schon zitternd nach Hause gekommen, und die Fotos und Dokumente des Toten hatten ihm den Rest gegeben. Er hatte die innere Anspannung nicht mehr ausgehalten und getrunken, ohne aufhören zu können. «Mist, verdammter!», fluchte er.
Im Bad knipste er Licht an, stellte sich mit der Katze vor den Spiegel, schaute sich ins Gesicht. Wie der Tod selbst sah er aus – hohläugig, knochig, aschfahl. Und dann noch dieses greisenhaft weiße Haar! Wie sollte er sich so unter Menschen trauen? Wie sollte er in diesem Zustand arbeiten? Er fühlte sich, als wäre er unter eine Dampfwalze geraten, gegen die er sich zuvor die ganze Nacht lang vergeblich gestemmt hatte.
Die Katze maunzte zu ihm herauf. Er wandte sich vom
Spiegel ab und streichelte sie, während er mit hängenden Schultern aus dem Bad schlurfte.
Die Schießerei gestern hatte ihn fertiggemacht, schon bevor sie überhaupt richtig losging. Und danach der Tote auf dem Bürgersteig: Ein blutiges Loch hatte da geklafft, wo vorher sein rechter Augapfel gewesen war. Und dann noch der schwerverletzte Heiland, der in Thonberg am Straßenrand neben dem gestohlenen Fahrrad in einer Blutlache lag … Stainer glaubte nicht, dass er durchkommen würde.
Er ging zurück ins Schlafzimmer, holte die Milch von der Fensterbank und füllte dem Kätzchen den Napf. «Trink, kleine Eule, trink und mach dir keine Gedanken wegen meines Geschreis. Es kommt nicht mehr vor.»
Zurück im Bad stöpselte er den Badewannenabfluss zu und ließ kaltes Wasser einlaufen. Vor allem deswegen hatte er keine Bedenken gehabt, diese kleine Wohnung hier im Dachgeschoss zu mieten – wegen des Bads und der Wanne darin.
Während die sich mit Wasser füllte, betrachtete Stainer wieder sein Spiegelbild. «Seit wann sehen Kriminalinspektoren aus wie verkaterte Gespenster?», fragte er sich selbst. Und gab sich selbst die Antwort: Die Schießerei vor dem Friedhof, die Toten in der Villa, der stinkende Murrmann neben dem Vogelbauer und dann noch eine Gattin, die sich scheiden lassen wollte – das alles war ein bisschen viel für vier Tage Kriminalistenexistenz; zu viel für einen, der zuvor dreieinhalb Jahre in Kriegsgefangenschaft zugebracht hatte.
«Dr. Doppelmann hätte seine Freude an dir», sagte er bitter. «Quittier deinen Dienst, kauf dir eine Kraftdroschke und versuche es als Chauffeur. Ein Mann, der eine Schießerei mit Mördern und drei Tote in einer Villa nicht verkraftet, kann kein Kriminalpolizist sein.»
Eine Woge von Trauer und Verzweiflung erfasste ihn. Er stützte sich seufzend auf das Waschbecken auf und beugte den Kopf. «Der gottverdammte Krieg ist schuld», flüsterte er. Seit November 1918 schwiegen die Waffen, im Juni letzten Jahres hatte die Regierung den Friedensvertrag unterschrieben, seit fast einem Monat war er in Kraft – doch in Stainers Brust tobte er weiter, der Krieg. Und würde immer gegenwärtig sein – in jeder Schießerei, in jedem Mordopfer.
Er hob den Blick und sah seinem erbärmlichen Spiegelbild in die Augen. «Du brauchst Hilfe, Stainer.» Und sofort lag ihm der Widerspruch auf der Zunge: Ich bin Major, ich bin Kriminalinspektor, ich bin Paul Stainer und habe Krieg und Gefangenschaft überlebt – ich helfe mir selbst.
Er erinnerte sich an das Gemälde im Zillertal
, das ihn zurück an die Somme ins englische Artilleriefeuer katapultiert hatte, und schüttelte den Kopf. «Sieh der Realität ins Auge, Stainer – allein schaffst du das nicht.»
Doch der Widerspruch in der eigenen Brust gab keine Ruhe: Wäre es nicht ein Zeichen von Schwäche, sich Hilfe zu suchen, womöglich noch bei einem Nervenarzt? Er stellte sich vor, irgendjemand in der Wächterburg würde davon erfahren. Bloß nicht! Er, Stainer, in nervenärztlicher Behandlung? Das kam überhaupt nicht Frage!
Den Blick auf sein jämmerliches Spiegelbild gerichtet, beobachtete er seine Gedanken und versuchte, sein inneres Chaos zu ordnen. Neben ihm rauschte das Wasser in die Wanne, unter ihm rieb sich das Kätzchen an seinem Knöchel. «Es ist, wie es ist, Stainer», sagte er schließlich. «Du suchst dir Hilfe, oder du gibst deine Dienstwaffe ab und kaufst dir eine Kraftdroschke.»
Er wandte sich vom Spiegel ab, drehte den Wannenhahn zu, schälte sich danach aus dem schweißnassen Schlafanzug und
stieg ins eiskalte Wasser. Der Kälteschock trieb ihm die Tränen in die Augen, die Erschöpfung aus den Knochen und die Angst aus dem Hirn. Bestimmt drei Minuten hielt er das aus, dann zog er den Stöpsel und stieg wieder aus der Wanne. Die giftigen Bilder hatten sich in die verborgenen Gewölbekeller seiner Seele zurückgezogen, und er fühlte sich besser.
Zum Kaffee rauchte er eine Zigarette. Von der Marmeladenstulle, die er sich gestrichen hatte, brachte er nur den ersten Bissen herunter. Er stellte sich vor, ihm würde in der Wächterburg passieren, was ihm im Zillertal
oder in Hummels Zelle passiert war, bei einer Fallkonferenz oder einer Besprechung mit Kubitz oder Kasimir. Womöglich noch in Gegenwart von Prollmann.
Kopfschüttelnd und leise fluchend schenkte er sich Kaffee nach und löffelte Zucker hinein.
So kann das nicht weitergehen, Stainer.
Er dachte an die bedauernswerte Rosa Sonntag und was sie über das krankmachende Gift schlimmer Erlebnisse gesagt hatte: Erinnern und aussprechen und ihnen so die Giftigkeit nehmen. Kluge Frau. Oder vielmehr: kluger Nervenarzt.
Hatte er eigentlich dessen Telefonnummer aufgeschrieben?