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D as einzige Traumbild, das Stainer nach dem Kaffee noch vollkommen klar vor Augen stand, war das von der ausgestreckten Hand des Hauptmanns und dessen verzerrtes Gesicht. Und das war keine giftige Erinnerung, weiß Gott nicht!
Stainer seufzte tief, blies den Rauch in den Stapel aus Fotos, Dokumenten und Typoskripten und fischte Renkewiz’ Foto samt dem Briefbogen mit seiner Nummer heraus. Durch die Lupe schaute er sich noch einmal das Gesicht des Hauptmanns an: Es war Renkewiz’ Gesicht, daran gab es überhaupt keinen Zweifel. Nicht zu fassen, dass der Mann diese Kriegshölle überlebt hatte.
Ohne Renkewiz hätte er, Stainer, sie nicht überlebt; auch daran gab es keinen Zweifel. Wäre Renkewiz nicht gewesen, könnte er jetzt nicht hier sitzen, rauchen, Kaffee trinken und sein Marmeladenbrot verschmähen. Er dachte gern an den Hauptmann, diesen unbeugsamen Willensmenschen mit der Unfähigkeit zu kapitulieren. Schön, dass auch er überlebt hat, dachte Stainer, ob ich ihn einfach mal anrufe?
Stainer drückte seine Zigarette aus, hob Rilkes Stundenbuch vom Boden auf, das er vor lauter Zittern vom Nachttisch gewischt hatte, und stellte den Wecker wieder hin. Natürlich würde er Renkewiz anrufen und nicht irgendwann, sondern so schnell wie möglich. Er musste ihn sogar anrufen, schließlich hatte er Namen und Nummer in den Unterlagen eines Mordopfers gefunden!
Es war kurz vor sieben, und die Wächterburg wartete. Stainer machte sich nichts vor: Mit ein bisschen gutem Willen würde er heute noch durchhalten und nächste Woche wahrscheinlich auch noch. Doch auf die Dauer konnte er kein Polizist sein, wenn Albträume ihn zerrütteten, wenn jede Schießerei ihm gleich das große Zittern bescherte und idyllische Bilder von Bergseen, Hirschen und ihren Jägern ihn in die Schlacht an der Somme zurückschickten.
Er musste sich Hilfe suchen – so einfach lagen die Dinge.
Er schälte sich aus seinem Morgenmantel und stieg in seine Kleider. Aus seiner Anzugjacke an der Garderobe zog er sein Notizbuch. Darin blätternd, ging er hinaus auf den Flur, der seine kleine Wohnung und die seiner Vermieterin trennte und leider auch verband. Ilse Bergmann gehörte zu jenen interessierten älteren Damen, die gern am Leben ihrer Mitmenschen teilnahmen.
Im verbindenden und zugleich trennenden Flur stand auch der neue Fernsprecher. Frau Bergmann benutzte ihn mit, wogegen Stainer nichts einzuwenden hatte; das Polizeiamt bezahlte ja den Anschluss.
Als Erstes wählte er die Nummer der Wächterburg und ließ sich mit Lena Falke verbinden. Die gab mit ihrer fröhlichen, hellen Stimme bekannt, dass das Sekretariat der Polizeidirektion am Apparat sei. Stainer, der Lenas Stimme gern hörte, spürte, wie seine Stimmung sich ein wenig aufhellte.
«Hallo Lena, du klingst gut. Liegt die gestrige Ausgabe des Berliner Tageblatts noch irgendwo bei dir herum?» Von Prollmann wusste er, dass diese Zeitung die Auslieferungsliste der Siegermächte abgedruckt hatte.
«Guten Morgen, Paul», flötete sie. «Ich guck gleich mal. Wie geht es dir?»
«Ging schon schlechter», sagte er und dachte an den blutigen Granattrichter, in den er heute ihm Traum wieder einmal eingetaucht war. «Ich muss mit dem Chef sprechen, persönlich.»
«Komm doch gleich um acht, da hat Herr Dr. Kubitz noch keinen Termin.»
«Sehr gut, bin schon unterwegs.» Er verabschiedete sich, legte auf und fuhr fort, in seinem Notizbuch zu blättern. Seine Vermieterin öffnete ihre Küchentür, wünschte ihm einen guten Morgen und lugte mit besorgter Miene zu ihm herüber. Wahrscheinlich hatte sie ihn schreien hören. Er schenkte ihr ein Lächeln, das beruhigend wirken sollte, während er Polanskis Nummer wählte.
«Es ist kalt und bewölkt», verkündete Ilse Bergmann, «aber Schnee kriegen wir wohl nicht mehr in diesem Winter.» Stainer nickte freundlich und drehte ihr den Rücken zu. Der Nervenarzt meldete sich mit seinem Namen. Im Hintergrund hörte Stainer Musik – ein Grammophon leierte eine Opernarie ab.
«Stainer am Apparat.» Die Vorstellung, um diese Zeit schon Arien hören zu müssen, grauste ihn. «Kriminalinspektor Paul Stainer.» Der Arzt erinnerte sich sofort an ihn. «Ich müsste Sie sprechen, Herr Dr. Polanski, privat sprechen, meine ich. Es ist dringend.»
Er hörte Polanski in seinem Terminkalender blättern. «Nächste Woche ist eine Stunde frei geworden. Donnerstagvormittag?»
«Die kommende Woche habe ich Arbeit ohne Ende, Herr Doktor, und ehrlich gesagt –» Stainer schaute sich nach der Bergmann um, doch die hatte ihre Tür wieder geschlossen. Seine innere Stimme aber warnte ihn, dass sie lauschen könnte, also sprach er sehr leise weiter: «Ehrlich gesagt: Ich bin in einem Zustand, in dem ich mich frage, wie lange ich meine Arbeit noch bewältigen kann.»
Polanski stellte keine weiteren Fragen, was Stainer ihm hoch anrechnete, und bot ihm einen späten Termin für den kommenden Tag, den Samstag an. Stainer sagte zu.
Zurück in seiner Wohnung, fragte er sich, ob er verrückt sei, morgen Abend allen Ernstes zu einem Nervenarzt gehen zu wollen. Sein Albtraum erschien ihm auf einmal halb so schlimm und der wilde und blutige Start in seine zweite Kriminalistenlaufbahn als völlig normales Berufsrisiko.
«Mensch, Stainer», sagte er laut, «reiß dich einfach ein bisschen zusammen.» Er stellte sich vor, Kupfer, Junghans oder gar Heinze würden erfahren, dass er sich von einem Nervenarzt behandeln ließ. «Da kannst du auch gleich den fetten Prollmann bitten, deine Krankenakte von der Reichswehr anzufordern und Kasimir auf den Schreibtisch zu legen.»
Doch er durchschaute sein inneres Ausweichmanöver und gab den eigenen Einwänden, Bedenken und Widerständen nicht nach. Die Entscheidung war gefallen – er würde morgen Abend als Patient zu Polanski gehen, basta!
Als er Baumanns Unterlagen zurück ins Kuvert steckte, fiel sein Blick wieder auf Renkewiz’ Foto und die Leipziger Telefonnummer darunter. Der ehemalige Hauptmann hatte einen Wohnungsanschluss, wie es aussah. Stainer zögerte nicht lange: Bevor er die Wohnung verließ, griff er zum Hörer und wählte die Nummer.
Lange nahm niemand ab, und Stainer vermutete schon, dass die Fernsprechnummer nicht stimmte oder nicht mehr gültig war, doch dann ertönte plötzlich ein tiefes und raues «Ja?» am anderen Ende der Leitung.
«Gregor? Paul Stainer am Apparat. Freut mich wirklich, deine Stimme zu hören.»
«Überraschung! Der Herr Major ruft seinen Hauptmann doch noch an! Na so was? Woher hast du meine Nummer, Paul?»
«Von einem Bekannten», wich Stainer aus, denn Renkewiz’ Worte und sein aggressiver Tonfall irritierten ihn. Hatte er auf seinen Anruf gewartet? Er hielt sich nicht lange mit Konversation auf, außerdem erwartete Kubitz ihn in einer halben Stunde, also kam er schnell zur Sache. «Wo kann ich dich treffen, Gregor? Ich habe ein paar Fragen an dich.»
«Das glaube ich dir aufs Wort, Paul. Ich wundere mich sowieso, dass du jetzt erst anrufst.»
«Woher soll ich wissen, dass du in der Stadt bist?»
«Ihr linken Vögel wisst doch sonst immer alles und in der Regel viel zu früh nach meinem Geschmack.» Stainer antwortete nicht gleich, denn Renkewiz’ Tonfall und Wortwahl gefielen ihm immer weniger. «Sag bloß, die rote Front hält dich nicht auf dem Laufenden über unsereins.»
Jetzt begriff Stainer: Renkewiz versuchte wohl, ihn zu provozieren, um ihm unbedachte Worte zu entlocken. Nur warum? «Du verwechselst da etwas, Gregor. Ich bin bei der SPD
«Rot ist rot, alles eine Wichse. Ich war enttäuscht, als ich nach dem Krieg hörte, dass du immer noch zur falschen Seite gehörst.»
Stainer schwieg erneut für einen Moment. Zur falschen Seite? Was meinte Renkewiz? Er fragte nicht nach. «Lass uns persönlich reden», schlug er stattdessen vor. «Wann? Wo? Mach einen Vorschlag.»
«Von mir aus gleich heute Abend. In Plagwitz im Felsenkeller
Stainer überlegte kurz: Der Brauereischankraum im Felsenkeller war groß, man fiel nicht auf unter den vielen Leuten dort. Wahrscheinlich schlug Renkewiz ihn deswegen vor. «Einverstanden», sagte er. «Es kann sieben werden bei mir.»
«Ist mir recht», sagte Renkewiz, «doch hör gut zu, Paul: Wir leben in wilden Zeiten, politisch, meine ich. Da rede ich nicht mit jedem, falls du verstehst, was ich meine. Wenn du mich wirklich sprechen willst, kommst du also besser allein.»
Das dürfte interessant werden, dachte Stainer, und laut sagte er: «Nichts anderes hatte ich vor.»