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U m Viertel vor acht betrat Stainer das Büro. Junghans war noch nicht da, Heinze saß stramm und grüßte mit einem ebenso korrekten wie lauten «Guten Morgen, Herr Kriminalinspektor Stainer!» Nicht, dass Stainer das ungern hörte, angeschlagen, wie sein Selbstvertrauen und seine Nerven an diesem Morgen waren. Doch irgendetwas gefiel ihm nicht an Heinzes Art.
«Guten Morgen, Kollegen!», rief er und eilte an seinen Schreibtisch, ohne den Mantel abzulegen. Hinter der halb offenen Tür zum Nebenzimmer hörte er Kupfer grüßen. «Konnte der Tote schon identifiziert werden, Heinze?» Er suchte die Unterlagen zusammen, die er für das Gespräch mit Kubitz brauchte.
«Darum wollte unser Stift sich kümmern, Herr Kriminalinspektor», sagte Heinze.
«Und der in der Fliegerjacke? Hat er geredet?» Dem Mann hatte Junghans mit einem gut gezielten Schuss das Knie zerschossen, sodass sie ihn hatten festnehmen können. Der Tote ging auf Stainers Konto, und der dritte Mann, der mit der Ledermütze, war ihnen entkommen.
«Wollte das Verhör nicht auch unser Stift führen, Herr Inspektor? Das hatte ich doch hoffentlich richtig verstanden. Wenn nicht, mache ich mich natürlich sofort auf den Weg in die Universitätsklinik!»
Es gefiel Stainer nicht sonderlich, wie der Kommissar über Junghans redete, und seine übertrieben beflissene Art machte ihn stutzig. Was war mit Heinze los? Und wo war Jagodas Tagebuch abgeblieben? Stainer konnte es nirgends finden und ging zu Heinzes Schreibtisch hinüber. «Ich brauche die Akten Murrmann und Jagoda, vor allem dessen Tagebuch. Ich muss mit dem Chef darüber sprechen, damit er mir einen Termin im Reichsgericht besorgt.»
«Die Akte Jagoda ist geschlossen, Herr Inspektor, wissen Sie das denn noch nicht?»
«Nein, Kollege Heinze, das weiß ich nicht, und davon will ich auch nichts wissen.» Sein Blick wanderte suchend über Heinzes aufgeräumten Arbeitsplatz. «Die werden Sie nämlich noch einmal öffnen müssen. Wo ist sie?»
«Im Büro des Polizeirats oben. Herr Dr. Kasimir wollte sie noch einmal durchschauen, bevor er sie dem Staatsanwalt zur endgültigen Erledigung übergibt.»
Stainer musterte den Kommissar mit hochgezogenen Brauen. Deswegen also die überkorrekte Begrüßung und der devote Tonfall. «‹Zur endgültigen Erledigung› – aha. Wenn der Herr Polizeirat sich da mal nicht täuscht.» Heinzes Augäpfel zuckten, und das Blut stieg ihm ins Gesicht, doch er hielt Stainers Blick stand. «Sie bleiben also bei Hummels als Mörder, Kollege Heinze?»
«Korrekt, Herr Kriminalinspektor, selbstverständlich.»
«Ich nicht, und Jagodas Tagebuch hatte ich nicht aus Versehen auf meinem Schreibtisch liegen lassen. Darin deutet er nämlich an, dass Hummels ihn im Auftrag einer Operation Judas bedroht haben könnte.»
«Ich bitte um Entschuldigung, Herr Inspektor, aber ich dachte, wir wären uns einig im Fall Jagoda.»
«Wie sind Sie bloß zu diesem Eindruck gekommen?» Stainer wurde allmählich wütend. «Schaffen Sie mir die Akte wieder herunter auf meinen Schreibtisch!»
Die Tür wurde geöffnet, Stainers junger Assistent kam herein. «Guten Morgen allerseits!»
Stainer fuhr herum. «Endlich, Junghans! Ist der Tote identifiziert? Guten Morgen.»
Siegfried Junghans nickte. «Und der andere auch.» Er sah kein bisschen übernächtigt aus, wie Stainer ein wenig neidisch feststellte. Dabei hatte sein Assistent bis spät in die Nacht Spuren, Beweise und Tatorte gesichert. Wie Stainer gehört hatte, war er sogar noch einmal bei den Königs gewesen, um sie über Heilands schwere Verletzungen zu informieren.
«Sehr gut.» Stainer nickte zufrieden. «Sie werden mich gleich zu einem Gespräch mit dem Polizeidirektor begleiten. Auf dem Weg hinauf zu ihm können Sie mir berichten.» Und wieder an Heinze gewandt, sagte er: «Bringen Sie mich noch schnell auf den neusten Stand im Mordfall Robert Murrmann, bevor wir zu Kubitz hochgehen. Sie wollten ja die Dinant-Spur verfolgen.»
«Leider gibt es keine Neuigkeiten.» Heinze breitete bedauernd die Arme aus. «Den Absender konnte ich noch nicht erreichen, er scheint keinen Fernsprecher zu besitzen. Und ob der Feind uns bei der Kontaktaufnahme behilflich sein wird?» Er guckte so traurig wie eine Dogge, die gerade auf den Teppich gepinkelt hatte. Wegen seiner zuckenden Augäpfel sah das durchaus lustig aus, fand Stainer.
«Aber ich habe Neuigkeiten über Murrmann, Herr Inspektor.» Oberwachtmeister Kupfer kam ins Hauptbüro und winkte mit einigen Papieren. Sein bleiches Gesicht war zerknautscht, sein Haarkranz zerzaust. «Er war Ende August 14 als Leutnant in Dinant. Als Major hat er später in der Etappe hinter der Front unseren Nachrichtendienst organisiert.»
«Und davor hat er sich die Beförderung zum Hauptmann verdient, weil er die Erschießung von Zivilisten kommandiert hat», sagte Stainer und nahm die Unterlagen entgegen, die Kupfer ihm reichte. «Und wissen Sie, wer sich zuvor geweigert hat, diese Leute zu erschießen und sich dafür ein Todesurteil einhandelte?» Alle schauten ihn gespannt an. «Heinrich Baumann.» Er hob das Kuvert. «Geht aus den Unterlagen hervor, die im Wandtresor des alten Weingartens gelegen haben.» Er berichtete von den Fotos und Dokumenten. «Wie Baumann der Hinrichtung entgangen ist, bleibt allerdings sein Geheimnis», schloss Stainer. «Noch.»
Die Neuigkeiten verschlugen erst einmal allen die Sprache. Junghans fand sie als Erster wieder: «Ein Mann lässt Bürger von Dinant erschießen und steht sechs Jahre später im Briefwechsel mit Bürgern von Dinant?»
«Und bekommt von diesen Bürgern auch noch Fotos zugeschickt?», ergänzte Kupfer. Er sah völlig übermüdet aus, allerdings nicht halb so übermüdet, wie Stainers Spiegelbild ausgesehen hatte.
«Bei diesen ‹Bürgern› handelte es sich um belgische Scharfschützen in Zivil», warf Heinze ein, «um sogenannte ‹Franctireurs›. Die haben unseren Soldaten auch schon 1871 das Leben schwergemacht.»
«Ich habe eine Erschießungsliste aus dem Archiv des sächsischen Regiments in Gohlis bekommen», verkündete Kupfer.
«Wie haben Sie das hingekriegt?», fragte Stainer und hätte dem Oberwachtmeister beinahe anerkennend auf die Schulter geklopft.
«Beziehungen. Auf dieser Liste stehen fast 700 Bürger von Dinant.» Kupfer zeigte auf die Papiere in Stainers Hand. «Auch Frauen.»
«Feindliche Scharfschützen», beharrte Heinze.
«Im ersten Kriegsmonat schnappt die Reichswehr fast siebenhundert feindliche Scharfschützen?» Junghans klang ungewohnt ernst. «Das glaubst du nicht wirklich, Rudi!»
Stainer war erschrocken. «So viele Belgier haben unsere Leute auf dem Durchmarsch erschossen?» Er hatte von Erschießungen beim Vorstoß nach Frankreich gehört, kannte aber keine Zahlen.
«Es war Krieg, Herr Kriminalinspektor», sagte Heinze.
«Eine Schweinerei war das!», rief Junghans grimmig aus. Derart freimütigen Zorn hätte Stainer ihm gar nicht zugetraut. «Erst Dinant und dann Löwen! Siebzig Prozent aller Häuser Dinants haben unsere Truppen damals zerstört und von Löwen noch mehr!»
«So kann das gehen im Krieg, Siggi.» Heinze sprach das in allergrößter Ruhe aus, doch seine Wangen waren von dunkelroten Flecken übersät. «Das weißt du doch selbst.»
«Ich habe zur See gegen Engländer und Amerikaner gekämpft, die haben uns den Krieg erklärt», entgegnete Junghans. «Belgien aber ist neutral gewesen. Warum mussten wir dann bis Oktober über fünftausend Belgier erschießen? Sag mir das, Rudi.» Sein Assistent schien nachgeforscht zu haben, registrierte Stainer erstaunt, auch dass er bei der Marine gewesen war, überraschte ihn.
«Feindliche Scharfschützen werden standrechtlich erschossen, wenn man sie gefangen nehmen kann», erklärte Heinze. «So ist das nun einmal im Krieg.»
«Fast sechstausend belgische Scharfschützen?! Das glaubst du doch selbst nicht, Rudi! Die meisten von denen hatten im ganzen Leben noch kein Gewehr in der Hand gehabt, jede Wette!»
«Willst du damit sagen, dass die Reichswehr willkürlich Zivilisten erschossen hat?» Ein scharfer Unterton hatte sich in Heinzes Stimme geschlichen.
«Bitte, meine Herren!», rief Kupfer energisch. «Die Politik sollte uns nicht von der Arbeit abhalten, nicht wahr? Ich jedenfalls habe zu tun. Deswegen noch ein Satz zu Murrmann, Herr Inspektor.» Er sprach Stainer an, nicht Heinze. «Er blieb als Major in der Etappe, kämpfte nie mehr direkt an der Front.» Er deutete auf die Blätter in Stainers Hand. «In den Berichten ist von einer Verwundung die Rede, die allerdings nicht näher bezeichnet wird.»
«Wahrscheinlich hat er sich bei einer der Hinrichtungen in den großen Zeh geschossen», sagte Junghans bissig. «Kann schon mal vorkommen bei so vielen Erschießungen.»
Mit einem warnenden Blick brachte Stainer ihn zum Schweigen. «Danke für die Berichte, Kupfer.» Er schob die Papiere zu seinen Unterlagen. «Haben Sie eigentlich den Berliner Verlag ausfindig machen können, bei dem Baumann gearbeitet hat?»
«Ein junger Wissenschaftsverlag.» Kupfer nickte. «Erst zwei Jahre alt. Der Verleger sagt, Baumann sei Lektor für Historisches gewesen, habe aber nebenbei an einem eigenen Buch gearbeitet. An einem Werk über seine Kriegserlebnisse.»
«Ein Teil des Manuskripts steckt hier drin.» Stainer hob das große Kuvert aus der Weingarten-Villa hoch. «Irgendwo hat Baumann den anderen Teil mit weiteren Fotos und Dokumenten deponiert. Vielleicht irgendwo in seinem Verlag. Legen Sie mir bitte Adresse und Fernsprechnummer auf den Schreibtisch, Kupfer.»
«Und die Männer, die hinter dem Einbruch in der Weingarten-Villa stecken, waren hinter diesen Unterlagen her?», fragte Junghans.
«Und hinter Baumann. So ist es.» Stainer wandte sich an Heinze, den er gestern Abend noch zum Alten Johannisfriedhof hatte rufen lassen. «Hat die Spurenauswertung von gestern Abend schon etwas ergeben?»
«Zwei Patronen aus einem Baumstamm werden heute untersucht», antwortete der Kommissar. «Die Fotos vom Tatort liegen noch nicht vor, doch ich habe die fotografierten Fußspuren in den Beeten vor der Trauerhalle ausgeleuchtet. Ein Absatzprofil ähnelt tatsächlich den Spuren aus der Weingarten-Villa und der Albertstraße.»
«Brat mir ’nen Storch!», entfuhr es Kupfer. Junghans pfiff durch die Zähne, und Stainer fragte sich, wann Heinze damit herausgerückt wäre, wenn er nicht nachgefragt hätte. «Gucken Sie sich vorsichtshalber noch die Schuhe des Toten und des Gefangenen an, Kollege Heinze.»
Er folgte dem Oberwachtmeister bis zur Tür seines Büros. «Wenn Sie so gute Beziehungen zum Regiment in Gohlis haben, Kupfer, dann kriegen Sie vielleicht auch heraus, was aus dem Oberst geworden ist, der den Befehl zu den Hinrichtungen gegeben und der Baumanns Todesurteil unterschrieben hat.» Stainer senkte die Stimme. «Er heißt Richard von Braun.»
«Ich versuch’s», versprach Kupfer und ging in sein Büro.
Als er sich umdrehte, sah Stainer, wie Heinze schnell den Blick abwandte. Er winkte seinen Assistenten hinter sich her zur Tür. Der Kopf schwirrte ihm.
«Bevor ich es vergesse, Herr Kommissar –» Kupfer kam zurück und zählte drei Groschen auf Heinzes Schreibtisch, «– mein Einsatz.»
Heinze zog eine Schublade auf und holte eine Geldschatulle und eine Kladde heraus. «Wo bleibt deiner, Siggi?», rief er Stainers Assistenten hinterher, während er die Kladde aufschlug. «Du hast noch nicht einmal gewettet, sehe ich.»
Junghans, schon hinter Stainer an der Tür, machte noch einmal kehrt. «Zwei zu eins für den VfB!» Er warf drei Groschen auf den Schreibtisch.
«Am Sonntag fahren wir zusammen nach Lindenau zum Sportplatz», erklärte er Stainer grinsend. «Leipzig gegen Berlin.» Stainer, der sich nicht für Fußball interessierte, nickte nur. Er beobachtete, wie Heinze die Wette des Kommissaranwärters mit einem Bleistift in die Kladde eintrug. Und plötzlich fiel ihm ein, was er Heinze schon gestern hatte fragen wollen.
«Sagen Sie, Herr Kollege – was ist eigentlich aus dem Brief geworden?» Er ging zurück zu Heinzes Platz.
«Aus was für einem Brief, Herr Kriminalinspektor?»
«Ich hatte Sie doch gebeten, die erste Seite des Briefblocks aus der Murrmann-Wohnung mit einem weichen Bleistift zu bearbeiten, um eventuell den Text sichtbar zu machen, den Robert Murrmann an das Reichsgericht geschrieben hat.»
«Ach so, dieser Brief.» Heinze zog eine Schublade auf und holte den Briefblock heraus. «Ein Geständnis, Herr Inspektor. Ich wollte es noch abtippen, bevor ich es Ihnen vorlege. Doch da Sie nun danach fragen –» Er reichte Stainer den Briefblock. «Murrmann beschuldigt sich selbst, im August 14 in einem Kloster bei Dinant ‹ein Massaker an neununddreißig Unschuldigen› verübt zu haben. Genau so drückt er sich aus: ‹Massaker an neununddreißig Unschuldigen›.»