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E r wusste nicht, wie er in dieses fremde Zimmer, in dieses fremde Bett gekommen war. Die Decke war höher als zu Hause im Schlafzimmer, und eine Lampe wie diese dort oben hatte er noch nie gesehen, jedenfalls konnte er sich an keine solche Lampe erinnern. Ihr Licht blendete ihn, und er kniff die Augen zu, blinzelte und riss sie wieder auf.
Weiß gekleidete Männer und Frauen umringten sein Bett, und obwohl sie nahe bei ihm standen, kamen ihre Stimmen von weit her. Sogar die des Mannes, der sich jetzt über ihn beugte und seinen Namen rief. «Herr Heiland? Hören Sie mich?»
Der Mann in Weiß erinnerte ihn an seinen Trainer. Jänig fragte auch manchmal, ob er ihn hören konnte, wenn Heiland nach einer besonders harten Runde auf den Hocker in seiner Ringecke sank. Er versuchte zu antworten, bekam aber keinen Ton heraus.
Auch sonst fühlte er sich wie nach einer besonders harten Runde im Ring: Alles tat ihm weh – die Rippen, die Schulter, die Beine, der Rücken und jeder Atemzug. Wie viele Runden lagen denn schon hinter ihm? Und würde er die nächste überstehen?
Von links hob jemand seinen Oberkörper an und Heiland stöhnte auf, denn das schmerzte höllisch. Von rechts setzte ihm jemand eine Art Becher an die Lippen, der ihm fremdartig vorkam, denn er mündete in etwas, das sich auf Heilands Lippen wie ein Schnabel anfühlte oder wie ein Rohr. Daraus floss Wasser auf seine trockene Zunge.
Warum lag er bloß in diesem fremden Zimmer unter dieser fremden Lampe in diesem fremden Bett? Irgendetwas musste passiert sein, irgendetwas mit Karl Krüger.
Der Mann in Weiß hob eine Decke von seiner Brust, steckte sich Schläuche in die Ohren und setzte ihm dieses Ding auf die nackte Brust, das auch er manchmal benutzte, wenn er einem Zahlenschloss sein Geheimnis abzulauschen versuchte – wie hieß es gleich?
Von links wischte ihm jetzt jemand mit einem feuchten Tuch übers Gesicht, von rechts rief ihm der Mann in Weiß etwas ins Ohr, das klang wie Operation , wird schon werden und so ähnlich. Aus irgendeinem Grund kam die Bedeutung der Worte nicht in Heilands Hirn an.
Er fand es anstrengend, über ihre Bedeutung nachzugrübeln, anstrengender noch, als zu trinken, diese Leute in Weiß anzugucken und in das blendende Licht der fremden Deckenlampe zu blinzeln. Heiland schloss die Augen. Sein Bett schaukelte wie auf Wellen, Wasser rauschte, etwas summte um ihn herum – vielleicht ein Bienenschwarm –, und dann brach von einem Augenblick auf den anderen wieder die Nacht an und hüllte ihn in stickige, klebrige Dunkelheit ein.
Als er das nächste Mal aus ihr auftauchte und die Augen öffnete, sah er einen Schleier, ganz so, als würde irgendwer neben ihm rauchen. Doch er roch keinen Zigarettenrauch, dafür sah er hinter dem Schleier ein vertrautes Gesicht – das Gesicht seiner Tante Josephine. Heiland war sehr froh, sie zu erkennen, auch wenn er sie nur undeutlich sah. Ob Christel und sein Mäuschen sich auch irgendwo hinter dem Schleier aufhielten?
«Weißt du, wo du bist, Max?», fragte Fine.
«Nein», flüsterte er.
«In der Chirurgie. Weißt du, was passiert ist?»
«Irgendwas mit Karl.» Er stöhnte.
«Den haben sie erschossen und dich beinahe auch.»
«Erschossen?», flüsterte er. Ein komisches Wort, doch je länger es durch sein Hirn hallte, desto klarere Umrisse nahm seine Bedeutung an – Heiland sah eine Pistole, Heiland sah eine blonde Frau vor einer Treppe, Heiland spürte brennenden Schmerz an den Rippen und in der Schulter.
Jemand hatte auf ihn geschossen! Jetzt erinnerte er sich.
«Ich hab nicht geschossen», hörte Heiland es krächzen, und es dauerte, bis er begriff, dass es seine eigene Stimme war, die er da hörte. «Wirklich nicht …»
«Wir wissen es.» Tante Fines Stimme klang näher und deutlicher als die Stimme des Mannes in Weiß. War der womöglich ein Arzt gewesen?
Ein zweites Gesicht beugte sich über ihn, Heiland erkannte es sofort: Seine kluge und strenge Cousine Mona war auch da. Wie gut. Würde er gleich auch die lieben Gesichter seiner Christel und seines Mäuschens sehen?
«Christel?», flüsterte er.
«Bringt die Kleine zu ihren Eltern», sagte Fine, «sie kommt heute Abend. Solange musst du noch durchhalten, verstanden?» Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich zu Monas Gesicht. «Gib mir die Losungen, Mona.»
«Lass doch dein frommes Buch, Mutti.»
«Gib schon.»
«Max kann doch mit so etwas gar nichts anfangen.»
«Gib endlich, los!»
Monas Gesicht verschwand aus dem Schleier über ihm. Bald sah Heiland eine feingliedrige Mädchenhand über sich schweben und in ihr ein kleines schwarzes Buch. Eine andere Hand nahm es, schlug es auf, und dann beugte sich wieder Fine über ihn, und ihre Stimme verkündete feierlich: «‹Ich habe dein Gebet gehört und deine Tränen gesehen, spricht der Herr.›» Sie machte eine Pause und holte geräuschvoll Luft, bevor sie weiterlas. «‹Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist.›»
Heiland kam es vor, als würde ihre Stimme zittern und mit jedem Wort, das sie las, schwächer werden. Auch jetzt noch, wo sie das kleine schwarze Buch zwischen die Hände nahm, die Augen schloss und ein Gebet sprach, das in Heilands Ohren seltsam vertraut klang. «Vater unser im Himmel», hörte er sie sagen, doch dann schweiften seine Gedanken ab zu den beiden frommen Sprüchen, die Tante Fine aus ihrem kleinen frommen Buch vorgelesen hatte.
Mit jedem Gedanken, der ihm noch gelang, tastete er die Worte ab und versuchte, ihre Bedeutung zu ermessen. Das strengte ihn an, doch irgendwann hatte er das Gefühl, etwas verstanden zu haben, und während um ihn herum die Nacht wieder aufstieg, betete er im Stillen: Lieber Gott, wenn es dich wirklich gibt, lass mich Christel und mein Mäuschen noch einmal sehen.