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inter Stainer drückte Junghans die Bürotür zu. «Warum rückt er erst jetzt damit heraus?» Seite an Seite gingen sie durch die Zimmerflucht im ersten Stockwerk der Kriminalabteilung. «Als Kupfer mit der Exekutionsliste kam und Sie von den Erschießungen erzählten, wäre doch eine gute Gelegenheit gewesen, Murrmanns Brief ins Spiel zu bringen. Warum hat er es nicht getan?»
Stainer zuckte mit den Schultern. «Vergesslichkeit? Gleichgültigkeit? Die Weigerung, eine militärische Operation als Massaker zu bezeichnen? Fragen Sie mich etwas Leichteres.»
«Täusche ich mich, oder entwickelt sich da eine ungute Chemie zwischen Ihnen und dem Kommissar Heinze?»
«Da könnten Sie richtigliegen.» Stainer dachte an Hummels’ Warnung, Heinze würde eines Tages versuchen, ihm die Butter vom Brot zu kratzen. So hatte sich Heinzes Mordverdächtiger doch ausgedrückt, oder? «Sie waren übrigens gut gestern, Junghans, verdammt gut.» Stainer wechselte lieber das Thema. «Weiter so.»
«Danke, Herr Inspektor.» Zwei von Kupfers Wachtmeistern kamen ihnen entgegen; Stainer und Junghans erwiderten ihren Gruß. «Darf ich fragen, was wir beim Polizeidirektor wollen?»
«Ich brauche ihn als Türöffner ins Reichsgericht. Dort weiß man mehr, schätze ich. Und dort kennen Sie womöglich Zeugen, die sie in den künftigen Prozessen gegen Kriegsverbrecher aufbieten wollen.»
«Sie glauben, dass noch weitere Menschen auf der Abschussliste der Operation Judas
stehen?»
Stainer nickte. «Ich fürchte, die betrachten jeden als Verräter, der gegen Reichswehrangehörige aussagen will.»
Sie erreichten die Treppe. «Heiland geht’s übrigens hundsmiserabel.» Junghans’ Miene verdüsterte sich. «Die Ärzte haben wenig Hoffnung.»
«Woher wissen Sie das?» Trotz des Tatendrangs, den der junge Mann ausstrahlte, konnte Stainer sich nicht vorstellen, dass er heute Morgen schon in der Universitätsklinik gewesen war. «Haben Sie die Klinik angerufen? Oder Frau Königs Nachbarn?»
«Nein, ich habe Heilands Cousine heute Morgen zur Schule begleitet.» Oha, dachte Stainer, die Natur macht auch vor gar nichts Halt. «Liegt auf dem Weg», sagte Junghans verlegen. «Und bei der Gelegenheit habe ich sie natürlich gleich vernommen.» Wenigstens errötete er. «Fräulein König ist verzweifelt.»
«Bestimmt ist es Ihnen gelungen, das arme Mädchen ein bisschen zu trösten, Herr Kollege.» Stainer konnte sich den spöttischen Unterton nicht verkneifen.
«Ich fürchte nicht.» Sie stiegen die Stufen zum zweiten Obergeschoss hinauf. «Der Mann, den Sie erschossen haben, heißt Manfred Schulze», berichtete Junghans übergangslos. «Mechaniker, dreißig Jahre alt. Er wohnte mit Frau und vier Kindern in Dölitz unten. Er hatte noch nichts mit uns zu tun gehabt, jedenfalls habe ich ihn nicht in unserer Kartei gefunden.»
Stainer stand so abrupt still, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gestoßen. Überdeutlich sah er plötzlich den Toten mit der blutgefüllten Augenhöhle vor sich auf dem Bürgersteig liegen. Hatte er richtig gehört? Einen Vater von vier Kindern hatte er erschossen? Ihm wurde auf einmal so übel, dass er sich am Geländer festhalten musste.
«Alles in Ordnung, Herr Inspektor?» Sein Assistent musterte ihn verwundert. «Ist Ihnen noch was Wichtiges eingefallen?»
Stainer winkte ab und ging weiter. «Und der in der Fliegerjacke?»
«Wilhelm Körner, siebenundzwanzig, ledig, wohnt oben in Mockau. War bis November achtzehn Kampfpilot der Reichswehr.»
«Haben Sie etwas aus ihm herausgekriegt?» Sie nahmen die letzte Stufe, Stainer atmete tief ein und aus.
«Nur Flüche und Beschimpfungen wegen seines Knies – gestern Abend vor seiner Operation. Er hat mir gedroht, mich zu erschießen.»
«Ich wünschte, ich hätte seinen Komplizen Schulze ins Knie getroffen», sagte Stainer leise.
«Wohin haben Sie denn gezielt, Herr Inspektor?»
«Sonst noch Fragen, Junghans?» Stainers Stimme klang schärfer als beabsichtigt, und sein Assistent hob beschwichtigend die Hände.
Während sie auf die Tür zum Vorzimmer des Direktors zugingen, blätterte Stainer in den Papieren, die Kupfer ihm gegeben hatte. Auf einem Blatt waren die Namen von Bürgern der belgischen Stadt Dinant aufgelistet, deren Erschießung Murrmann im August 14 kommandiert hatte. Vor Kubitz’ Tür blieb er stehen und zog Murrmanns Briefkuvert heraus.
«Einen Moment noch, Kollege.» Er las den Namen des Absenders und suchte ihn auf der Liste. Junghans guckte ihm neugierig über die Schulter. Da die Liste alphabetisch geordnet war, fand Stainer den Namen auf Anhieb.
«Da.» Junghans deutete auf die Liste. «Leclerc. Allerdings ein anderer Vorname.»
«Ein Toter wird Murrmann ja kaum einen Brief geschrieben
haben.» Stainer zog das Foto aus dem Kuvert und drehte es um. «Monique Leclerc», las er laut.
«Wo haben Sie das her?» Junghans staunte das Foto an und Stainer erzählte es ihm. «Sie steht tatsächlich auf der Totenliste!» Der junge Mann zeigte mit dem Finger auf den Namen der Frau; er schien ernsthaft erschüttert zu sein. «Vielleicht die Tochter oder die Schwester des Absenders.»
«Oder seine Ehefrau.» Stainer steckte das Kuvert wieder in seinen Mantel, klopfte und trat ein.
«Du bist spät dran, Paul.» Lena Falke begrüßte Junghans, den sie offenbar schon kannte, und reichte Stainer eine zusammengerollte Zeitung. «Das Berliner Tageblatt
von gestern, bitte. Es ist schon Viertel nach acht, der Direktor hat um halb neun bereits den nächsten Termin.» Sie ging voran zum Chefzimmer. «Übrigens sitzt Polizeirat Kasimir gerade bei ihm.»
Stainer zerbiss einen Fluch zwischen den Zähnen und ging mit Junghans an ihr vorbei zu Kubitz hinein. Der Polizeidirektor und sein Vize Kasimir hockten in den Sesseln am Konferenztisch und tranken Kaffee. Den dicken Ordner, der neben der Kaffeekanne lag, erkannte Stainer schon von weitem: Jagodas Akte.
Kasimir begrüßte sie kühl, Kubitz freundlich wie immer. Er erkundigte sich bei Junghans, wie es ihm nach dem ersten Tag als Kommissaranwärter ging, und wies auf zwei freie Sessel.
«Gestern Morgen verhänge ich eine strenge Informationssperre über die Morde in der Weingarten-Villa», sagte Kasimir nach Junghans’ kurzem Bericht, «und schon am gleichen Tag muss ich in der Abendausgabe der Leipziger Zeitungen davon lesen! Irgendjemand in Ihrer Abteilung hat meinen Befehl missachtet, Herr Inspektor Stainer. Haben Sie einen Verdacht?»
«Nicht den Hauch eines Verdachtes, Herr Polizeirat»,
entgegnete Stainer seelenruhig. «Und für die Männer, mit denen ich direkt zusammenarbeite, lege ich die Hand ins Feuer.»
«Wir sprachen nämlich gerade über diese scheußlichen Morde in Gohlis.» Der Polizeidirektor wechselte rasch das Thema. «Glückwunsch zur Festnahme des Täters, Herr Kriminalinspektor.»
«Danke, Herr Dr. Kubitz.» Stainer nahm neben Junghans Platz. «Max Heiland ist zwar in die Weingarten-Villa eingebrochen, hat aber keinen einzigen Schuss dort abgegeben.»
«Woher wissen Sie das?», wollte Kasimir wissen.
Stainer berichtete von der Geschossanalyse und von Rosa Sonntags Aussagen. «Fräulein Sonntag konnte den Mörder beschreiben, wahrscheinlich haben wir auch einen Sohlenabdruck von ihm. Die Personenbeschreibung und das Sohlenprofil legen den Verdacht nahe, dass dieser Mann nicht nur Karl Krüger und Heinrich Baumann erschossen hat, sondern auch in der Wohnung Murrmann gewesen ist. Außerdem gehörte er zu den Männern, die gestern Abend auf Max Heiland und uns beide geschossen haben.»
«Das wird ja immer schöner!», entfuhr es Kasimir.
«Verwirrende Geschichte, diese Schießerei», sagte der Polizeidirektor. «In der Tat. Warum schießt einer auf Komplizen, mit denen er nach Lage der Dinge einen Einbruch begangen hat, Herr Stainer? Haben Sie eine Erklärung dafür?»
«Noch nicht. Fragen Sie mich bitte am Montag noch einmal, Herr Dr. Kubitz. Im Moment spricht vieles dafür, dass es die Einbrecher auf Unterlagen abgesehen hatten, die der junge Dr. Weingarten für seinen Freund Heinrich Baumann im Wandtresor seines Vaters deponiert hat.»
Stainer fasste den Stand der Ermittlungen in einem knappen Bericht zusammen, erwähnte auch die Operation Judas
aus
Jagodas Tagebuch und Rosa Sonntags Aussage. «Murrmann hat einen Brief an das Reichsgericht geschrieben, den der oder die Mörder mitgenommen haben», schloss er. «Friedrich Jagoda hatte einen Termin für eine Anhörung im Reichsgericht, und Hans Weingarten war Assessor in einer Abteilung des Oberreichsanwalts. Lange Rede, kurzer Sinn: Um in den Ermittlungen weiterzukommen, benötige ich dringend einen Termin im Reichsgericht.»
«Um Gottes willen!» Viel fehlte nicht, und der Polizeirat hätte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. «Wir wollen doch den Oberreichsanwalt nicht mit Angelegenheiten aus den Niederungen des alltäglichen Verbrechens belästigen! Der hat weiß Gott genug zu tun dieser Tage!»
«Ich würde ihn schon gern damit belästigen, Herr Dr. Kasimir», sagte Stainer kühl. «Davon abgesehen kann ich mich nicht Ihrer Auffassung anschließen, fünf Morde innerhalb einer Woche für Leipziger Alltag zu halten.» Aus dem Augenwinkel sah er Junghans ständig die Beine übereinanderschlagen und in seinem Sessel herumrutschen.
«Sogar von fünf Morden wollen Sie ihm erzählen?», entgegnete Kasimir mit seiner gepressten Kopfstimme. «Wie kommen Sie überhaupt auf diese Zahl?» Er verschränkte die Arme vor der Brust. «Dass Herrn Murrmanns Tod kein Suizid war, ist in meinen Augen noch lange nicht bewiesen, und die Akte Jagoda ist längst geschlossen.»
«Mit Verlaub, Herr Polizeirat – ich werde sie wieder öffnen.»
Kasimir wurde bleich und sog scharf die Luft durch die Nase ein. Kubitz aber kam seinem Protest zuvor und sagte: «Sie scheinen Ihrer Sache sicher zu sein, Stainer. Können Sie mir kurz Ihre wichtigsten Gründe nennen? Der Oberreichsanwalt wird mich danach fragen, wenn ich ihn um einen Termin bitte.»
Stainer zog das Kuvert aus Dinant und das Foto der Belgierin aus der Tasche und reichte beides seinem Chef. «Das haben wir hinter dem Sekretär gefunden, an dem Murrmann den verschwundenen Brief ans Reichsgericht geschrieben hat. Der Name der jungen Frau steht auf dieser Liste der Bürger Dinants, deren Erschießung Murrmann kommandiert hat.» Auch die Liste schob er über den Tisch. «Und hier die erste Seite des Briefes, den Murrmann an das Reichsgericht schreiben wollte. Ein Geständnis.» Er legte Kubitz den Briefblock hin. «Die Originalhandschrift hat sein Mörder mitgenommen, wie gesagt, doch wir konnten die durchgedrückte Schrift mit einem weichen Stift sichtbar machen.»
Der Polizeidirektor nahm den Briefblock hoch, lehnte sich zurück und las. Seine Brauen zogen sich zusammen, seine Augen wurden schmal. «Er bezichtigt sich, für ein Massaker verantwortlich zu sein? In Dinant?» Er schüttelte den Kopf und las murmelnd: «Es war eine Sünde wider die Menschlichkeit und Gottes Gebot, diese Männer und Frauen erschießen zu lassen. Manch Halbwüchsiger war unter ihnen, mancher Greis. Ich sehe die Gesichter noch vor mir, bis zum heutigen Tag umzingeln sie mein Bett und rauben mir den Schlaf und die Lebensfreude. Ich weiß, dass ich keine Gewissensruhe finden werde, wenn ich mich nicht vor einem Gericht zu diesem Verbrechen bekenne. Deswegen bitte ich Sie, verehrter Herr Oberreichsanwalt, als höchste juristische Instanz des Deutschen Reiches und meines Vaterlandes um ein persönliches Gespräch …»
«Eine Art Selbstanzeige.» Kubitz ließ den Briefblock sinken. «Er wollte allen Ernstes angeklagt und verurteilt werden. Und er nennt den Namen seines Vorgesetzten, der die Erschießung damals befohlen hat, ein gewisser Oberst von Braun.»
«Dieser Murrmann hat schlicht die Nerven verloren, wie es
aussieht», sagte Kasimir. «Der Krieg ist kein Sonntagsspaziergang. Er erfordert mitunter harte Maßnahmen und schmerzhafte Befehle. Nicht jeder ist stark genug, das zu ertragen.»
«Oder nicht gewissenlos genug.» Stainer, der Mühe hatte, seinen Zorn im Zaum zu halten, musterte den Polizeirat scharf. «So viel jedenfalls zu Robert Murrmann. Friedrich Jagoda, um zum nächsten Ex-Offizier zu kommen, wollte ebenfalls vor dem Reichsgericht aussagen. Er sollte dort in einer Sache Löwen, 25. August 14
angehört werden. Und Baumann, unser dritter ermordete Offizier, wollte sich mit beiden treffen. Er fühlte sich von einer Einheit der Schwarzen Reichswehr verfolgt. Ist Baumann womöglich auch aktenkundig im Reichsgericht? Der Begriff …»
«Leiten Sie die politische oder die Kriminalabteilung?!», rief Kasimir dazwischen.
«… Der Begriff Operation Judas
legt in meinen Augen den Verdacht nahe, dass hier irgendjemand Männer beseitigt, die in seinen Augen Verräter sind. Ein Gespräch mit dem Oberreichsanwalt könnte uns der Wahrheit ein Stück näher bringen.»
«Hanebüchen!» Während Kasimir wie fassungslos den Kopf schüttelte und mit der Zunge schnalzte, musterte der Polizeidirektor Stainer mit forschendem Blick. «Einen derart absurden und hanebüchenen Unsinn habe ich seit der letzten Rede des USPD
-Fraktionsführers in der Weimarer Nationalversammlung nicht mehr gehört!» August Kasimir konnte sich gar nicht mehr beruhigen.
«In Ordnung, Herr Stainer», sagte der Polizeidirektor ruhig und bestimmt. «Ich werde nachher im Reichsgericht anrufen und um einen Gesprächstermin bitten. Ich unterrichte Sie, wenn ich mehr weiß.»
Stainer holte sein Notizbuch heraus und schrieb ein paar
Zahlen hin. «Der bedauernswerte Jagoda hätte am kommenden Montag seine Anhörung gehabt, gleich morgens um sieben. Leider kann er ihn nicht mehr wahrnehmen.» Er riss das Blatt ab und schob es dem Polizeidirektor über den Tisch. «Falls man sich im Reichsgericht in gar zu schlimmer Terminnot befinden sollte, können Sie ja diesen frei gewordenen Termin ins Gespräch bringen.»
«Guter Vorschlag, danke.» Kubitz steckte den Zettel ein, und Kasimir hing in seinem Sessel wie ein angeschlagener Boxer in den Seilen. Sein Adamsapfel tanzte auf und ab, seine Kaumuskeln arbeiteten, und sein Blick blieb starr auf Stainer gerichtet.
Was bewegt diesen Menschen?, fragte Stainer sich. Hat er etwas zu verlieren? Oder zu verbergen?
Er griff nach der Akte Jagoda und zog sie zu sich. «Die Akte nehme ich wieder mit.»
«Lassen Sie gefälligst die Akte liegen, Stainer!», zischte Kasimir. «Habe ich Ihnen nicht eben erklärt, dass sie geschlossen ist?»
«Und ich habe Ihnen erklärt, dass ich sie wieder öffnen muss.»
Kasimir schoss aus seinem Sessel nach vorn und langte ebenfalls nach dem Ordner. Beider Hände lagen nun auf dem Aktendeckel, Stainers und Kasimirs, und beide schauten den Polizeidirektor erwartungsvoll an.
Kubitz räusperte sich. «Nun, Herr Kollege Kasimir, mir scheint, unser neuer Kriminalinspektor pflegt einen besonders sorgfältigen Arbeitsstil, nicht wahr? Aus genau diesem Grund haben wir ihm die Abteilung anvertraut. Ich finde, wir sollten ihn nicht daran hindern, auch die unwahrscheinlichsten Thesen zu Ende zu denken und gegebenenfalls auszuschließen.» Er lächelte dem Polizeirat ins Gesicht, und das mit einem Charme,
den Stainer ihm nicht zugetraut hätte. «Nicht, dass wir beide uns am Ende noch vorwerfen müssen, irgendetwas übersehen zu haben.» Und an Stainer gewandt. «Nehmen Sie sich die Akte noch einmal vor. Sie hören von mir.»
Später auf der Treppe kam ihnen Bruno Schilling entgegen, blieb stehen und kramte drei Fetzen eines zerrissenen Papiers aus dem Arbeitsmantel. «Das habe ich in unserem Abfall zwischen alten Zeitungen gefunden, Paul. Wahrscheinlich ein Versehen.» Er gab Stainer das Papier und ging weiter.
«Danke, dass Sie für mich die Hand ins Feuer legen würden, Herr Inspektor», sagte Junghans, während sie in die Kriminalabteilung hinabstiegen. «Warum haben Sie Baumanns Manuskript und seine Befehlsverweigerung nicht erwähnt?»
«Muss man immer alle Karten auf den Tisch legen?»
«Nein. Doch warum wollten Sie, dass ich dabei bin, Herr Kriminalinspektor?»
Stainer sah ihm ins Gesicht. «Damit Sie etwas lernen, Herr Kriminalkommissar in spe.»
«Wirklich nur deswegen?»
Stainer blieb stehen. «Ich dachte, ich weihe Sie bei der Gelegenheit in meine Gedankenwelt ein, und bei solchen Gesprächen Zeugen an seiner Seite zu haben, kann auch nicht schaden.» Er setzte Junghans den Zeigefinger auf die Brust. «Und? Haben Sie was gelernt?»
«O ja.» Der Jüngere nickte. «Nie nachlassen, immer Druck machen, keine Angst vor irgendwem.»
Stainer grinste und ging weiter die Treppe hinunter. «Korrekt, wenn ich ausnahmsweise mal unseren Kollegen Heinze zitieren darf.» Er drückte seinem Assistenten das Berliner Tageblatt
in die Hand. «In dieser Ausgabe finden Sie eine Liste mit
achthundertneunzig Namen. Die Entente hat sie gestern dem Reichskanzler übermittelt.»
«Ich habe davon gehört.» Sie gingen durch die breite Zimmerflucht der Kriminalabteilung auf ihr Büro zu. «Die Siegermächte wollen diese Leute als Kriegsverbrecher vor Gericht stellen und verlangen ihre Auslieferung. Gemäß den Artikeln zwohundertachtundzwanzig bis zwohundertdreißig des Versailler Friedensvertrags.»
«Oha, Sie sind ja mittendrin in der Materie, merke ich.» Stainer warf Junghans einen anerkennenden Blick zu. «Gehen Sie diese Liste bitte durch – wenn mich nicht alles täuscht, werden Sie neben einigen prominenten Namen auch den einen oder anderen finden, der uns bei den Ermittlungen der letzten Tage in die Akten geraten ist.»
«Denken Sie eher an Fliegerjacken-Körner und an diesen Joseph, vor dem Heiland uns gewarnt hat, oder eher an die Mordopfer?»
Stainer antwortete nicht gleich, denn er erinnerte sich, vergangene Nacht auch den Namen Körner auf der Rückseite eines Fotos gelesen zu haben. «Lassen wir uns überraschen,», sagte er schließlich.
Zurück am Schreibtisch schob er die drei Schnipsel zusammen, die Schilling ihm zugesteckt hatte. Ein Bericht aus der Spezialabteilung für Spurensicherung vom 27. Januar. Er betraf den Mordfall Jagoda. In dessen Wohnung hatte die Spurensicherung drei Fingerabdrücke von Manfred Körner gefunden.