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m Viertel nach sieben stand Stainer vor dem Garderobenständer, schlüpfte in seinen alten Uniformmantel und setzte seinen Fedora auf. Er wollte vor Renkewiz im Felsenkeller
sitzen. Kupfer und seine Wachtmeister hatten sich schon in den Feierabend verabschiedet, Heinze räumte noch seinen Schreibtisch auf und Junghans, der für die Nachtbereitschaft eingeteilt war, brütete über Baumanns Unterlagen und den Zeitungsseiten mit der Auslieferungsliste.
Vor dem Garderobenspiegel entschied Stainer, dass Edith recht hatte und ein Kriminalinspektor dringend einen neuen Mantel zum neuen Hut brauchte. Morgen würde er sich von seinem verschlissenen Militärmantel trennen und in den Wollmantel umsteigen, den er bei Edith im Kleiderschrank gefunden hatte.
Auf seinem Schreibtisch läutete der Fernsprecher. Edith, dachte er, ging hin und nahm ab. «Polizeiamt Leipzig, Kriminalabteilung, Inspektor Stainer.»
Rosa Sonntag meldete sich. «Ein Glück erreiche ich Sie noch, Herr Inspektor. Können Sie zu mir nach Leutzsch heraufkommen?» Ihre Stimme klang müde.
«Worum geht es denn, Frau Sonntag?»
«Um eine Aktentasche. In all der Aufregung habe ich vergessen, Ihnen zu sagen, dass Heinrich eine Tasche bei mir im Keller versteckt hat. Der Inhalt muss ihm sehr wichtig gewesen sein.»
Das Hauptarchiv!, schoss es Stainer durch den Kopf. «Wissen Sie, was in der Tasche drinsteckt, Frau Sonntag?»
«Entsetzliche Fotos! Von erschossenen Menschen und brennenden Ruinen. Und ein dicker Stapel Papiere. Auf einigen habe ich den Briefkopf der Reichswehr gesehen. Ich habe nur einmal kurz in die Tasche hineingeschaut und sie dann schnell wieder zugemacht.»
Tatsächlich Baumanns Hauptarchiv – das Jagdfieber packte Stainer. «Ich komme morgen um die Mittagszeit vorbei und hole die Tasche, Frau Sonntag.»
«Können Sie nicht heute Abend schon kommen, Herr Inspektor? Die Tasche ist mir unheimlich, ich will sie so schnell wie möglich loswerden.»
«Heute werde ich es nicht mehr schaffen.» Stainer dachte an Renkewiz. «Aber ich komme morgen früh auf dem Weg in die Wächterburg bei Ihnen vorbei. Sind Sie um sieben schon aus dem Bonaparte
zurück?»
«Seit diesem schrecklichen Abend war ich nicht mehr in der Bar. Ich kann nicht mehr tanzen, Herr Inspektor, und singen erst recht nicht. Bitte kommen Sie, sobald es Ihnen möglich ist. Und läuten Sie zweimal, damit ich weiß, dass Sie es sind, der vor der Tür steht.»
Stainer versprach es und legte auf. «Rosa Sonntag hat noch eine Tasche voller Unterlagen von Baumann bei sich im Haus», sagte er an Heinze und Junghans gewandt. «Das Hauptarchiv, schätze ich, Baumann hat es irgendwo in ihrem Keller versteckt.»
«Ich kann sie abholen, bevor ich nach Hause fahre», bot Heinze an, der gerade seinen Mantel von der Garderobe nahm.
«Danke, Herr Kommissar, doch das würde ich gern selbst tun. Ich habe mich schon mit der Frau verabredet. Sie hat Angst, dass jemand hinter der Tasche her ist.»
«Diese Angst muss auch den armen Baumann geplagt
haben», sagte Junghans, «sonst hätte er die Tasche sicher nicht im Keller versteckt.»
«Haben Sie eigentlich schon mit Weingartens Dienstmädchen gesprochen, Herr Kollege?», wandte Stainer sich wieder an Heinze.
«Das hat sich überraschend krankgemeldet.» Heinze klemmte seine Aktenmappe unter den Arm. «Zu Hause habe ich sie heute Mittag allerdings trotzdem nicht angetroffen, doch die Nachbarn haben mir ihren Familiennamen verraten. Ich habe Frau Schulze schriftlich für morgen Vormittag in die Wächterburg einbestellt.»
«Schulze?» Stainer horchte auf. «Doch nicht etwa verwandt mit dem toten Schützen vom Johannisfriedhof?»
«In der Tat, Herr Kriminalinspektor.» Heinzes Hand lag bereits auf der Türklinke. «Sie ist Manfred Schulzes Schwester.» Er wünschte einen schönen Feierabend und ging.
Stainer drehte seinen Stuhl um, betrachtete den kranken Gummibaum und trommelte mit den Fingerkuppen auf den Schreibtisch. Die Identität Schulzes kannte Heinze seit vergangener Nacht, die des Dienstmädchens seit ungefähr sechs Stunden. Wäre er zu dumm, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen, hätte er die Kommissarsprüfung kaum bestanden. Also wollte er sie nicht ziehen. Doch warum nicht?
«Seit wann weiß er das schon, und warum rückt er erst jetzt damit heraus?», fragte Junghans. «Ich begreife den Kollegen nicht.»
Stainer zuckte mit den Schultern. «Hat der Oberwachtmeister morgen Vormittag Dienst?» Junghans bejahte, und Stainer schrieb eine Anweisung an Kupfer und Heinze, das Dienstmädchen der Weingartens unter allen Umständen zu zweit zu vernehmen. Während er jedem der beiden Kollegen einen Zettel
auf den Schreibtisch legte, gestand er sich ein, dass er Heinze misstraute. Der Kommissar spielte falsch oder zumindest nach seinen eigenen Regeln.
Junghans stand auf und kam mit dem Berliner Tageblatt
zu ihm, als er fast an der Tür stand. «Haben Sie noch einen Moment, Herr Inspektor?»
Er breitete die Zeitung auf Stainers Schreibtisch aus und deutete auf die Auslieferungsliste der Siegermächte. Stainer machte kehrt und setzte sich wieder. Einige Namen auf der Liste hatte sein Assistent unterstrichen. «Drei Männer sind bei uns aktenkundig. Wie zu erwarten Robert Murrmann, dann der Mann mit der Fliegerjacke Wilhelm Körner und Manfred Schulze, den Sie gestern Abend am Alten Johannisfriedhof erschossen haben.»
Stainers Blick fiel auf das Kreuz, das Junghans hinter Schulzes Namen gezeichnet hatte, und sofort sah er wieder den Toten mit der blutgefüllten Augenhöhle vor sich auf dem Bürgersteig liegen. Sein Puls beschleunigte sich, und er presste die Lippen zusammen.
«Ich habe in der Reichskanzlei angerufen», sagte Junghans, der Stainers Erschütterung nicht bemerkte. «In der Originalliste der Entente sind unter jedem Namen die Verbrechen aufgelistet, die man dem Betreffenden vorwirft. Die hat die Regierung entfernen lassen, bevor sie die Liste an die Presse lancierte.»
«Um dem Deutschen nicht seinen heiligen Zorn auf den Feind zu verderben.» Stainer beugte sich über die Liste. «Raffinierter Schachzug.» Er deutete auf die eingekreisten Namen, die Junghans noch nicht erwähnt hatte. «Was sind das für Namen hier?»
«Reichswehrangehörige mit dem Vornamen Joseph, mehr als ein Dutzend. Immerhin hat Heiland einen gewissen Joseph beschuldigt, Baumann erschossen zu haben.»
«Wahrscheinlich der mit dem Stein im Absatzprofil.» Stainer ging die Josephs durch. Ein Leutnant mit diesem Vornamen war durchgestrichen. Er deutete darauf und schaute seinen Assistenten fragend an.
«Den kenn ich», sagte Junghans, «der ist im letzten Kriegssommer an der Spanischen Grippe gestorben.» Und als Stainers Blick ihn gar nicht mehr loslassen wollte, fügte er hinzu: «Wir haben zusammen im gleichen U-Boot gedient.» Seine Miene nahm einen harten und bitteren Ausdruck an.
«Sie haben also tatsächlich bei der Marine gekämpft?» So todernst hatte Stainer seinen Assistenten noch nie erlebt.
Junghans nickte. «Unter diesem Kapitänleutnant zur See.» Er deutete auf einen Namen in der Liste, den er nicht markiert hatte, aber dennoch sofort fand. «Er steht auf der Liste, weil er die Versenkung eines britischen Lazarettschiffes befohlen hat. Und er –», Junghans zeigte auf den durchgestrichenen Joseph, «er hat den Torpedo ins Ziel gelenkt. Und einen zweiten auf ein überfülltes Rettungsboot.»
Stainer musterte den Jüngeren ungläubig und so lange, bis Junghans den Blick senkte. «Was für eine gottverdammte Scheiße», flüsterte Stainer. Er schloss die Augen und stützte die Stirn auf die Faust. Und fragte sich, ob es wirklich eine gute Idee war, sich mit Polanski zu verabreden. Erinnern und aussprechen? Wäre für einen wie Junghans ein Gedächtnisverlust nicht die größere Hilfe?
Seufzend schüttelte er den Gedanken ab, richtete sich auf und konzentrierte sich wieder auf die Zeitung. Der letzte Joseph auf der Auslieferungsliste war ein Feldwebel namens Tilger. «Das hier muss unser Joseph sein», sagte er. «Ein Foto mit diesem Namen auf der Rückseite lag in Baumanns Unterlagen.» Einer Eingebung folgend, wanderte er mit dem Finger zurück zu den
Namen, die mit R begannen – und las den Namen des Hauptmanns Gregor Renkewiz.
«Und der hier verbirgt sich hinter dem Foto mit den Initialen G.R.
, falls es Ihnen aufgefallen ist. Nehmen Sie alle beide als Verdächtige zu den Akten, Herr Kollege.»