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eil er am nächsten Tag in aller Frühe nach Leutzsch hinauf zu Rosa Sonntag wollte, nahm Stainer den Dux, um nach Plagwitz zum Felsenkeller
zu fahren. Das Leipziger Polizeiamt war beklagenswert schlecht motorisiert, doch er würde entschieden zu viel Zeit verlieren, wenn er den Wagen auf dem Nachhauseweg erst noch im Hof der Wächterburg abstellen wollte. Notfalls musste Junghans eben den Mannschaftswagen oder ein Polizeifahrrad nehmen.
Der Felsenkeller
mit seinem zweigeschossigen Kuppelturm sah aus wie ein Barockschlösschen, war aber noch keine dreißig Jahre alt. Er gehörte einem Bierbrauer, der darin einen Brauereiausschank betrieb und einen großen Veranstaltungssaal mit zahlreichen Nebenräumen über tausend Sitzplätzen unterhielt. Hier hatte Stainer vor dem Krieg an so manchem Silvesterball mit Edith getanzt oder gemeinsam mit ihr Klavierabende besucht oder, meist allein, Vorträgen von sozialistischen Denkern wie Liebknecht, Thälmann und Rosa Luxemburg gelauscht.
Der Schäferhund eines blinden Bettlers beschnüffelte Stainer am Eingangsportal. Er nahm ihn kaum wahr, denn seine Gedanken kreisten schon um Renkewiz. Als er den großen Schankraum betrat, wusste er sofort, wo er hinschauen musste, um ihn zu entdecken – zu einem der Fenstertische, von dem aus man sowohl die Straße als auch das Eingangsportal beobachten konnte. Renkewiz war immer ein wachsamer und misstrauischer Kompanieführer gewesen, und warum sollte er sich als Zivilist geändert haben?
Und wirklich: Ihre Blicke trafen sich schon, als Stainer zu den Fenstertischen der Straßenseite hinschaute. Auf dem Weg zu Renkewiz’ Tisch entdeckte er zuerst das Eiserne Kreuz an seinem Jackett, dann das Verwundetenabzeichen und schließlich den leeren Mantelärmel links. Seine Ahnung verdichtete sich zum konkreten Verdacht: Dieser Einarmige mit dem Eisernen Kreuz dort am Fenstertisch vor seinem Bierkrug und mit der brennenden Zigarette im Mundwinkel könnte einer der beiden Männer gewesen sein, die man am Mordtag zu Murrmanns Wohnung hinaufsteigen gesehen hatte.
Der Gedanke erschreckte ihn. Wie sollte er wegen Mordverdachts gegen einen Mann ermitteln, der ihm das Leben gerettet hatte und ohne den er niemals wieder wegen irgendetwas hätte ermitteln können? Ohne Renkewiz wäre er jetzt kein Polizist, sondern tot.
Renkewiz erhob sich, um ihn mit Handschlag zu begrüßen. «Ich bin nicht ganz so heil aus dem Krieg gekommen wie du, Paul», sagte er mit einem Seitenblick auf seinen leeren Mantelärmel.
Gut, dass man einem Mann nicht in den Kopf schauen kann, dachte Stainer und sagte: «Freu mich, dass du in Frankreich nicht noch mehr verloren hast als nur deinen Arm, Gregor.» Er nahm den Hut ab und fuhr sich durchs Haar. «Ich habe nur meine Haarfarbe und meinen guten Schlaf eingebüßt.»
«Steht dir aber gut.» Renkewiz setze sich. «Gibt dir den Anschein von Weisheit. Das ist doch ganz brauchbar für einen Polizisten, oder?»
«Schon möglich.» Stainer legte Hut und Mantel auf den freien Stuhl neben sich und nahm gegenüber von Renkewiz Platz.
«Dafür bin ich drei Jahre länger in Freiheit als du, Paul. Es war die Flucht aus der Gefangenschaft, die mich den Arm
gekostet hat. Ich bin kurz vor den deutschen Linien in MG
-Feuer geraten.» Renkewiz winkte ab. «Das war es mir wert. Gratulation übrigens zum Kriminalinspektor.»
«Woher weißt du von meiner Beförderung?»
«Manches spricht sich auch außerhalb der roten Front herum.» Renkewiz winkte der Kellnerin und bedeutete ihr, einen Krug Bier für Stainer zu bringen. «Das geht natürlich auf meine Rechnung. Oder trinken Sie kein Bier mehr, Major Stainer?»
«Bei besonderen Gelegenheiten wie diesen schon, Hauptmann Renkewiz.» Stainer zog sein Zigarettenetui aus der Anzugjacke und steckte sich eine Salem in den Mund. Während Renkewiz ihm Feuer gab, fragte er sich, was der Mann noch alles wusste. «Noch einmal, Gregor: Ich bin Sozialdemokrat, und so etwas wie eine ‹rote Front› existiert meines Wissens nicht.»
«Dann bist du schlecht informiert, Paul, doch das sehe ich dir nach – bist schließlich erst vor ein paar Tagen aus der Gefangenschaft zurückgekommen.» Auch das wusste Renkewiz also. Stainer lehnte sich zurück, nahm einen tiefen Zug und ließ ihn reden. «Ihren Roten Soldatenbund
hat die KPD
letztes Jahr doch nur zum Schein aufgelöst, immer noch operieren Dutzende Verbände roter Frontkämpfer im Reich. Erzähl mir nicht, dass du davon keine Ahnung hast, Paul.»
«Ich habe davon gelesen. Davon und von den Verbänden der sogenannten Schwarzen Reichswehr.» Die Kellnerin brachte sein Bier, sie stießen an und tranken. Stainer wollte eine politische Diskussion vermeiden und nahm sich vor, Renkewiz frontal anzugehen. «Hast du aus dieser Ecke von meiner Beförderung gehört?» Er stellte seinen Krug ab. «Und von meiner Entlassung bei den Franzosen?»
«Ich erinnere mich nicht mehr genau.» Renkewiz lächelte kalt. «Doch zum Glück hast du recht und es gibt neben den
roten und republikanischen Frontkämpferverbänden auch solche, die nicht bereit sind, ihr Volk und ihr Vaterland dem Feind und den jüdischen Bankiers auszuliefern.»
«Die Reichswehr scheint solche Verbände nicht nur zu tolerieren, sondern auch zu fördern.» Das hatte Stainer in der Leipziger Volkszeitung
gelesen, wusste aber bis zur Stunde nicht, was er von dieser Nachricht halten sollte.
Renkewiz lachte trocken. «Nicht nur die Reichswehr, lieber Herr Major, der Feind selbst fördert uns. Weil wir nämlich die Einzigen im Reich sind, die politisch einen klaren Kopf bewahren. Die Siegermächte wissen ganz genau, dass es im Reich nur eine einzige Kraft gibt, die Deutschland von Kommunisten säubern und die Bolschewiken schon an den Reichsgrenzen aufhalten kann. Und diese Kraft sind wir.»
«Wer ist ‹wir›?» Stainer dachte an seinen Vater, dessen Sprüche ähnlich klangen. «Die Deutschnationalen?»
«Auch. Wenn ich mich nicht daran erinnern würde, wie deine Augen geleuchtet haben, als du den linken Vögeln der Kompanie zugehört hast, wenn sie aus dem Heimaturlaub zurückkehrten und von Streiks, Kaisersturz und Revolution schwadronierten, dann …»
Er unterbrach sich und zündete die Zigarette an, die er sich in der Manteltasche und nur mit der Rechten gedreht hatte. Statt den Satz zu beenden, musterte er Stainer mit misstrauischem, beinahe lauerndem Blick. Seine Augen waren ähnlich grau wie Stainers und lagen in noch tieferen Höhlen als früher schon. Auch hatte sich ein bitterer, verächtlicher Zug um seinen Mund eingegraben, den Stainer vor vier Jahren noch nicht bemerkt hatte.
«Was ‹dann›?», fragte er.
«Dann würde ich dir vorschlagen, noch einmal gründlich
über die SPD
, Ebert, Bauer und Konsorten nachzudenken und dir genau anzuschauen, in welche Katastrophe sie unser Vaterland mit dem Schandvertrag von Versailles stürzen.»
Stainer nahm einen Schluck Bier und erwog seine Antwort sorgfältig. Er wusste, dass ihm ein gleichwertiger Gegner gegenübersaß. «Du spielst auf die Auslieferungsliste an?»
«Die Spitze des Eisberges, nur die sichtbare Spitze. Mensch, Paul, wo lebst du denn?!» Renkewiz lehnte sich über den Tisch. Sein Blick brannte jetzt und versuchte, Stainers einzufangen. «Die Reparationszahlungen! Die Gebietsabtretungen! Die Anerkennung der alleinigen Kriegsschuld! Muss ich wirklich weitermachen? Der Vertrag raubt dem Deutschen Reich Würde und Zukunft, das muss sich doch auch in der SPD
herumgesprochen haben!»
«Der Vertrag …»
«Das Diktat, Paul, das Diktat!»
«… ist in vielen Punkten fragwürdig, das stimmt. Andererseits bringt er Frieden. Dein Vorschlag, die Seiten zu wechseln, Gregor …» Stainer nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette.
«Ja?» Aus hellwachen Augen beobachtete Renkewiz jede seiner Gesten, jede Bewegung seines Mienenspiels.
«… ist der auf deinem Mist gewachsen, oder haben deine Vorgesetzten dich beauftragt, ihn mir zu unterbreiten?» Er dachte an jenen Oberst von Braun, sprach aber Namen und Rang nicht aus. Renkewiz musste seine Theorien nicht im Einzelnen kennen.
«Natürlich macht man sich auch an höherer Stelle Gedanken über dich.» Renkewiz zuckte mit den Schultern. «Ist das so wichtig, Paul?»
«Nein. Doch wie auch immer: Ich bin Polizist und muss mich politisch zurückhalten. Danke für dein Angebot.»
«Das Vaterland braucht gute Offiziere, Paul, Männer wie dich.»
«Beziehst du dein Gehalt von der Schwarzen Reichswehr?»
Renkewiz zuckte zurück, und seine Miene zeigte Verachtung. «Der Name stammt von unseren Gegnern, ich mag ihn nicht besonders. Und was mich betrifft: Ich stehe noch auf der Soldliste der deutschen Reichswehr.» Er griff zum Bierkrug und trank.
«Und du stehst auf der Liste jener Männer, die das Ausland wegen Kriegsverbrechen vor Gericht stellen will.»
Renkewiz blies verächtlich die Backen auf und winkte ab. «Auf dieser Liste stehen mit Tirpitz und Ludendorff auch unsere besten Generäle. Es ist mir eine Ehre, in einem Atemzug mit ihnen genannt zu werden.»
«Man muss ziemlich oft atmen, bevor man neunhundert Namen gelesen hat. Kommandierst du die Operation Judas
?» Die Frage war ein Blattschuss, das wusste Stainer, und er konnte daneben gehen.
Renkewiz Miene verdüsterte sich, und Stainer merkte, dass er getroffen hatte. «Woher weißt du davon?» Mit heftiger Geste zog er den Aschenbecher zu sich.
«Aus dem Tagebuch eines Mordopfers. Das haben deine Leute übersehen.»
Stainer sah, wie Renkewiz den Atem anhielt. Sein ehemaliger Hauptmann fixierte ihn jetzt aus sehr schmalen Augen, wobei seine Kaumuskeln arbeiteten und sein Mund sich in einen farblosen Strich verwandelte.
«Oder du hast es selbst übersehen.» Stainer setzte nun alles auf eine Karte. «Warst ja in Jagodas Wohnung dabei, als deine Bande ihn getötet hat.»
Eine Zeitlang saßen sie so – einer musterte schweigend den
anderen, und keiner wollte den Blick als Erster abwenden. Irgendwann zog Renkewiz seine Rechte wieder mit einer Zigarette aus der Manteltasche und zündete sie an der Kippe an, die noch in seinem Mundwinkel brannte. Seine Miene war jetzt eine steinerne Maske. Er stieß seine Kippe im Ascher aus, hob den Bierkrug an die Lippen und trank lange.
Er wiegt jetzt seine Worte genauso sorgfältig ab wie du, dachte Stainer und war gespannt, was er zu hören bekommen würde.
Renkewiz setzte seinen Bierkrug ab und beugte sich weit über den Tisch. «Hör mir gut zu, Paul», sagte er leise. «Exekutionen sind Heeresangelegenheiten, kümmere du dich um Verbrechen.»
«Mord ist eine Angelegenheit der Reichswehr?» Am Nachbartisch horchten sie auf, doch Stainer dachte nicht daran, seine Stimme zu senken. «Das Blutbad, das ihr in der Artilleriestraße veranstaltet habt, war eine Angelegenheit der Reichswehr? Willst du mir das sagen, Gregor?»
Renkewiz richtete sich auf und nahm einen Zug von seiner Zigarette. Als er zum Nebentisch hinüberblickte, wandten die Leute dort sich sofort ab und plauderten weiter, als hätten sie sich niemals unterbrochen. «Ich denke, du bist mir etwas schuldig, Paul», sagte Renkewiz. «Und ich spreche nicht von deinem Bier.»
«Ich weiß, was ich dir schuldig bin, Gregor. Doch ich schätze, wir sind jetzt quitt: Heute bin ich als Privatmann zu dir gekommen, als Kriegskamerad. Und ich gehe allein als Privatmann und Kriegskamerad.» Stainer griff nach seinem Hut. «Das nächste Mal komme ich als Kriminalinspektor, und dann wirst du mit mir gehen. In Handschellen.» Er setzte den Hut auf, erhob sich und zog seinen Mantel über. «Danke für das Bier.»
Als er sich abwandte und gehen wollte, hörte er Renkewiz aufspringen und hinter ihm herlaufen. Der Hauptmann überholte ihn und versperrte ihm den Weg. «Ein roter Judas bist du, Stainer!», zischte er. «Ein elender Verräter! Ich habe dir eine Chance gegeben, und du hast sie nicht genutzt – dafür wirst du bezahlen müssen.»