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Samstag, 7. Februar 1920
Fünf Uhr morgens und ich habe noch kein Auge zugemacht! Ich bin vollkommen durcheinander seit Mittwochabend. Und seit Hagens Besuch vorhin stehe ich erst recht neben mir. Meine Güte, Albert, wie sehr bräuchte ich jetzt dich an meiner Seite!
Sobald es hell wird draußen, werde ich Dr. Polanski anrufen und ihn bitten, mir noch heute eine Sitzung zu gewähren. In Notfällen tut er das manchmal. Wenigstens eine Spritze Laudanum brauche ich von ihm, sonst drehe ich noch durch!
In zwei Stunden läutet Inspektor Stainer und holt endlich Heinrichs Aktentasche ab. Soll er selbst in den Keller gehen und sie unter den Kartoffeln ausgraben. Nicht einmal anfassen möchte ich sie mehr. Hätte der Inspektor sich nicht für sieben Uhr angekündigt, würde ich noch ein paar Tropfen Veronal nehmen, so muss ich die zwei Stunden irgendwie …
… es läutete an der Tür, und im gleichen Moment fing Willy an zu schreien, «Vorsicht, Rosalinde!» Rosa staunte, denn das waren ganz neue Töne. «Arme Rosalinde, Vorsicht!»
Zuerst dachte sie an den Inspektor, doch den hatte Rosa gebeten, zweimal zu läuten, und es hatte nur ein einziges Mal geläutet. Sie steckte die Feder ins Tintenfass, klappte ihr Tagebuch
zu, zog behutsam die Schublade auf, um es hineinzulegen. Auf leisen Sohlen schlich sie aus dem Wohnzimmer in die Bibliothek, drückte sich neben dem Vorhang gegen die Wand und lugte zur Schützstraße hinaus. Hagens neuer Opel stand vor dem Gartentor und dahinter ein großer dunkler Mercedes.
Rosa zog die Schuhe aus und schlich zurück ins Wohnzimmer. Wieder läutete die Türglocke. Willy machte ein fürchterliches Geschrei. Sie nahm Alberts Gewehr aus dem Schrank und schlich die Treppe hinauf. Im Schlafzimmer stieg sie in den Schrank und schloss ihn hinter sich.
Unten hämmerten sie gegen die Haustür. Rosa wühlte sich unter der Stange durch ihre Kleider und Mäntel, ordnete sie hinter sich so gut es ging und schob die Holztür in die Wandkammer zur Seite und hinter sich wieder zu. Sie ging in die Hocke, klemmte das Gewehr zwischen die Knie und versuchte, ihren Atem zu beruhigen.
Noch nie hatte sie diese verschließbare Wandnische hinter dem Schlafzimmerschrank benutzt. Albert hatte sich als Kind manchmal darin versteckt. «Ein jüdischer Tick, so eine Geheimkammer im Haus haben zu müssen», hatte er ihr erklärt, als er ihr den Raum zeigte, «oder einfach nur ein Tick reicher Leute.» Rosa fror.
Eine halbe Stunde verging, vielleicht auch eine ganze – die Angst verwirrte Rosas Zeitgefühl – da hörte sie die Schlafzimmertür knarren. Sie umklammerte das Gewehr, versuchte, geräuschlos zu atmen, und lauschte. Jemand öffnete den Schrank, jemand tastete das obere Fach ab und strich unter den Kleidern und Mänteln entlang. Weil Schrank- und Zimmertür offen blieben, hörte sie Schritte, die sich auf der Treppe ins Untergeschoss entfernten.
Und wieder verging eine lange Zeit, und Rosa fror so sehr,
dass sie zitterte. Schließlich wagte sie es und verließ ihr Versteck. Sie wühlte sich durch ihre Kleider, zog ihren Nerzmantel von einem Bügel und schlüpfte hinein. Der Pelz wärmte sie; in seiner linken Tasche fand sie ein Zigarettenetui, in der rechten ein Feuerzeug.
Das Gewehr in beiden Händen stieg sie durch den offenen Kleiderschrank hinaus in ihr Schlafzimmer. An der Schlafzimmertür lauschte sie – vollkommene Stille herrschte im Haus, nur hin und wieder von einem Fluch Willys unterbrochen. Rosa knöpfte den Pelzmantel zu, hob das Gewehr, schlich in ihr Atelier und blickte zur Schützstraße hinunter. Draußen war es noch stockdunkel. Kein Automobil stand mehr vor dem Haus. Sie atmete auf.
Ähnlich wie das Schlafzimmer hatten Hagen und seine nationalistisch gesinnten Frontkameraden auch das Atelier nur oberflächlich durchsucht. Sie waren hinter Heinrichs Tasche her, gar keine Frage. Hatte Hagen etwa mit den Morden in Gohlis zu tun?
Der Gedanke sorgte dafür, dass ihr ein Kloß im Hals schwoll. Hagen verehrte den Kaiser, er hasste Juden und Kommunisten, und er war im Grunde seines Herzens ein grober, ungebildeter Sachsenbauer geblieben, auch wenn er nach außen hin den erfolgreichen Gastronomen heraushängte. Aber ein Mord? Sie mochte es nicht glauben.
Das Gewehr im Anschlag nahm sie Stufe um Stufe nach unten. Im Keller brannte Licht, aber Geräusche von dort unten hörte sie keine mehr. Vor der Treppe blieb sie stehen schaute hinunter. Der Gang vor den Kellerräumen lag voller Gerümpel: Kleidersäcke, Pinsel, Werkzeug, alte Koffer, Bilderrahmen, die alte Staffelei.
Den Keller hatten sie besonders gründlich durchsucht.
Eigenartig. Ob sie die Tasche gefunden hatten? Rosa schlüpfte in ihre Stöckelschuhe, wollte die Treppe hinuntersteigen und nachschauen und setzte den Fuß auf die erste Stufe. Plötzlich legte ein Unterarm sich an ihre Kehle und eine Hand verschloss ihr den Mund.
Jemand riss sie rückwärts und zurück in die Diele. Die Hand auf ihrem Mund stank säuerlich und nach Zigarettenrauch. Ein Mann in feldgrauem Mantel tauchte vor ihr auf – untersetzt, mit einer abgeheilten Schürfwunde auf der Wange und schwarzer Ledermütze auf dem dunklen Haar. Rosa erkannte ihn sofort: Heinrichs Mörder! Er nickte kurz, und der Mann hinter Rosa nahm die Hand von ihrem Mund. Sie holte keuchend Luft.
«Wo ist sie?», fragte der Untersetzte.
«Wer?» Rosa konnte nur flüstern, denn ihre Kehle war wie zugeschnürt.
Der Mann hinter ihr hebelte ihr den Kopf ruckartig in den Nacken. «Baumanns Tasche», sagte der Untersetzte.
Hatten sie die Tasche also nicht gefunden? Rosa registrierte es mit einer Befriedigung, die ihre Angst ein wenig dämpfte. Sie schaute Heinrichs Mörder in die Augen – sein abschätziger, lauernder Blick erregte ihren Hass.
«Raus damit!», zischte er. Aus dem Augenwinkel sah Rosa eine Messerklinge in der Faust des Unterarmes, der ihr den Hals einklemmte. «Du gibst uns die Tasche und bist alle Sorgen los.»
Weil ich danach tot bin? Rosa sprach es lieber nicht aus, denn der sie festhielt, drückte seinen Unterarm nun noch fester gegen ihren Hals. «Die Polizei hat die Tasche abgeholt.» Sie würgte die Worte heraus.
«Wer genau?»
«Ein Inspektor Stainer.» Vielleicht enthielt die Tasche
Hinweise auf Heinrichs Mörder – ein Grund mehr, ihr Versteck nicht diesen Kerlen zu verraten.
«Wann?» Heinrichs Mörder trat bedrohlich nahe an sie heran.
«Schon gestern Abend.» Im Wohnzimmer ließ Willy eine Kanonade von Flüchen und Schimpfwörtern vom Stapel.
«Wann genau, verdammt noch mal?!»
Der hinter ihr drückte ihr schier die Luft ab. Rosa überlegte fieberhaft, wann Kriminalpolizisten wohl gewöhnlich Feierabend machten. «Zwischen sieben und halb acht», flüsterte sie schließlich.
«Da war Stainer im Felsenkeller
. Du lügst!»