49
A m Samstagmorgen musste Stainer Eis von der Windschutzscheibe kratzen. Im Schein der Gaslaternen glitzerte Frost auf dem Bürgersteig und im Vorgarten des Nachbarhauses. Sein dunkelgrauer Wintermantel wärmte ihn entschieden besser, als der alte Offiziersmantel. Er hatte sich den Fedora tief ins Gesicht gezogen und trug die braunen Lederhandschuhe seines Vaters, die seine Mutter gestern bei seiner Vermieterin für ihn abgegeben hatte.
Er kletterte in den Dux, und zum Glück sprang der Motor gleich an. Durch die erwachende Stadt steuerte Stainer den Kraftwagen nach Leutzsch hinauf. Schlag sieben Uhr stieg er vor Rosa Sonntags Villa aus dem Wagen. Er konnte nicht anders, als pünktlich zu sein, das war auch schon vor seiner Offiziersausbildung in der Schule so gewesen. Du bist mit einer Uhr im Kopf auf die Welt gekommen, sagte seine Mutter manchmal.
Das große und verwilderte Anwesen von Rosa Sonntag lag in einem nur spärlich bebauten Gebiet zwischen dem Nordrand von Leutzsch und der Bahntrasse nach Zeitz. Von Kupfer wusste Stainer, dass hier ein Villenviertel entstehen sollte.
Die Villa sah ziemlich alt aus. Er wunderte sich über das herrschaftliche Haus, während er die Vortreppe hinaufstieg. Hatte Kupfer, dessen Männer ihren Nachtclub besucht hatten, nicht erzählt, dass die Frau von einem Bauerngut südlich von Weißenfels stammte?
Rosalinde Sonntag stand auf dem Messingschild unter der Klingel und auf dem älteren Schild über der Klingel: Albert Grünberg . Wohnte sie also nicht allein hier? Wie vereinbart läutete Stainer dreimal. Augenblicklich ertönte drinnen eine Stimme, die sich aufgeregt und seltsam tonlos anhörte.
Doch keine Schritte näherten sich der Haustür von innen, und niemand öffnete. Stainer läutete zum zweiten Mal, und als sich wieder nichts rührte, noch ein drittes Mal. Die aufgeregte Stimme im Haus wurde lauter und krächzender, sonst tat sich nichts. Stainer drückte das Ohr an den Türfalz und hörte, wie jemand kurz nacheinander die Namen Albert und Rosalinde rief.
Stainer runzelte die Stirn und ging ein Weilchen vor dem Haus auf und ab. Vielleicht war die Sonntag ja beim Bäcker und würde jeden Moment zurück nach Hause kommen. Als sie sich nach zehn Minuten noch immer nicht blicken ließ, öffnete er das Gartentor und ging durch den Garten am Haus entlang. Dabei blickte er zu den Fenstern hinauf und rief den Namen der Hausherrin. Keine Reaktion – außer dem merkwürdigen Geschrei, das vor einer Loggia besonders laut zu hören war.
Unter einem Apfelbaum fand Stainer eine alte Stehleiter, schleppte sie zur Loggia und stellte sie dort vor dem Fenster auf. Mit jeder Sprosse, die er hinaufstieg, hörte er die krächzende Stimme deutlicher. «Komm, Rosa, schnell!», rief sie und «Wo bist du, Albert?»
Von der vorletzten Sprosse aus konnte er endlich durch das Loggiafenster in einen großen Raum mit Polstermöbeln, einer Schrankbar und Wänden voller Gemälde schauen. Niemand hielt sich darin auf. Jedenfalls kein Mensch – in einem riesigen Vogelbauer, der auf einer Säule neben einer Staffelei stand, hockte ein Graupapagei auf seiner Stange. Der entdeckte ihn und krächzte Schimpfworte heraus, die Stainer erstaunlich gut verstehen konnte: Kriecher, Kaiserschleimer, Nationalistenarschloch und ähnlich Deftiges.
In der Wächterburg später griff Stainer zum Fernsprecher und wählte den Wohnungsanschluss von Rosa Sonntag. Als niemand abnahm, begann er, sich Sorgen zu machen. Im Nebenzimmer vernahmen Kupfer und Heinze das Dienstmädchen. Jemand hämmerte das Vernehmungsprotokoll in eine Schreibmaschine.
Stainer ging hinüber in Kupfers Reich – alle Köpfe fuhren hoch. Er bedeutete den Kollegen sich nicht stören zu lassen, stellte sich der Frau vor und nahm am Tisch des Wachtmeisters Platz, der die Vernehmung protokollierte.
Die Frau war höchstens Mitte zwanzig, trug einen modischen Kurzhaarschnitt zu langem schwarzem Mantel, schwarzem Kleid und schwarzen Stöckelschuhen und sprach breitestes Sächsisch. Der Wachtmeister an der Schreibmaschine musste manchmal innehalten und nachfragen, weil er sie nicht verstand. Sie schwärmte vom Ehepaar Weingarten und wie gern sie zur Arbeit gehe, seit sie dort den Haushalt mache. Als sie auf den Mittwochabend und die Toten zu sprechen kam, brach Sie in Tränen aus.
«Die armen Herrschaften», schluchzte sie, «der arme Herr Dr. Weingarten! Was für ein Unglück!»
«Das war kein Unglück, Frau Schulze – das war Mord!», sagte Kupfer, der hinter ihr stand, mit scharfer Stimme. «Dreifacher Mord! Das hat mit Glück und Pech gar nichts zu tun, das ist ein Verbrechen, das mit Tod durch Enthauptung bestraft werden kann.» Obwohl die Frau ihr Gesicht teilweise hinter einem Taschentuch verbarg, konnte Stainer erkennen, wie ihre Lippen farblos und ihre Wangen bleich wurden.
«Also noch einmal, Frau Schulze», sagte Heinze, der Ihr gegenüber an Kupfers Schreibtisch saß. «Und reißen Sie sich gefälligst ein bisschen zusammen – wem haben Sie von Ihrer Arbeit in der Villa der Weingartens erzählt?»
«Meinen Freundinnen», schluchzte sie, «natürlich meinem Mann und meiner Mutter, überhaupt meiner Familie …»
«Auch Ihrem Bruder?», fuhr Kupfer dazwischen.
«Ich glaube, ja, doch …»
«Sie haben Ihrer Familie also von Ihrer neuen Wirkungsstätte berichtet», ergriff wieder Heinze das Wort, und die Frau nickte schluchzend. «Sie haben erzählt, was man eben so erzählt – von den Küchenmöbeln, aus denen Sie Geschirr holen, vom Herd, an dem Sie kochen, von den Polstern, die Sie ausklopfen.» Die Frau nickte die ganze Zeit. «Von der Terrasse, wo das Vogelhäuschen steht, in das Sie Körner streuen …»
«Das war noch nicht nötig diesen Winter, Herr Kommissar, es lag ja noch kein Schnee …»
«… von dem großen Eichenesstisch, den Sie Tag für Tag zu decken haben, von den Bildern an den Wänden, die Sie mit dem Staubtuch reinigen …»
«Für die durfte ich nur einen ganz feinen Wedel benutzen, Herr Kommissar», sagte die Frau schluchzend.
«Wann hat Ihr Bruder Manfred Sie zum ersten Mal nach dem Wandschrank im Erdgeschoss gefragt?» Kupfer trat neben sie.
«Nach dem Wandschrank?» Sie hörte auf zu schluchzen und sah zu ihm hoch.
«Nach dem Wandschrank hinter der Flusslandschaft im Erdgeschoss», sagte Heinze, «den mussten Sie doch bestimmt auch hin und wieder abwischen, oder?»
«Ja, nein …»
«Wann hat Manfred zum ersten Mal danach gefragt?» Kupfer beugte sich zu ihr hinunter. «Wann?!», fuhr er sie an.
«Ich weiß es doch nicht mehr.» Sie brach wieder in Tränen aus. «Mein armer Bruder!»
«Dann haben Sie ihm also von sich aus davon erzählt?»
«Ja, nein, vielleicht.» Sie schluchzte so heftig, dass ihr Oberkörper bebte. «Armer Manfred. Vier Kinder …» Stainer musste schlucken.
«Und der Tresor im Obergeschoss hinter dem blauen Bild nach der Frau in Weiß – wann haben Sie ihm davon erzählt?» Die Frau drückte das Tuch ans Gesicht und brach in Tränen aus.
«Reißen Sie sich zusammen, verdammt noch mal!» Heinze schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. «Haben Sie ihm von dem Geldschrank erzählt oder nicht?» Sie nickte.
«Er wollte doch sicher wissen, ob er ein Zahlenschloss hat, oder nicht?» Kupfer übernahm wieder. «Wollte er oder wollte er nicht?» Sie senkte den Kopf und nickte wieder. «Er hat Ihnen doch überhaupt nur deswegen vorgeschlagen, sich bei den Weingartens als Dienstmädchen zu bewerben, damit Sie das Haus ausspionieren!»
«Manfred hat nichts zu tun mit den Morden bei den Weingartens, wirklich nicht!», rief sie unter Tränen.
«Und wie erklären Sie sich, dass er vorgestern Abend auf einen Mann geschossen hat, der den Mördern aus der Villa entkommen konnte?!», fuhr Kupfer sie an.
Erschrocken blickte sie zu ihm hoch. «Manfred hat auf jemanden geschossen?»
«Ja!» Stainer stand auf, er hatte genug gehört. «Unter anderem auch auf uns.» Eine halbe Stunde noch höchstens, dann würde die Frau gestehen, dass sie die Villa für ihren Bruder ausgeguckt hatte. Er ging zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. «Sie müssen sich keine Sorgen machen, Frau Schulze – wenn Sie uns helfen, die Kriegskameraden Ihres Bruders zu fassen, die Herrn Dr. Weingarten und die anderen beiden Männer ermordet haben, dann werden wir beim Richter ein gutes Wort für Sie einlegen. Vielleicht bleiben Ihnen dann Schafott oder Zuchthaus erspart.» Er spürte, wie ihr Körper steif wurde unter seiner Berührung. «Wir haben einen großen Einfluss auf das Urteil, glauben Sie mir.»
«Wenn ich gewusst hätte, dass die mit Pistolen da reingehen, wenn ich das auch nur geahnt hätte …» Ein Weinkrampf erstickte ihre Stimme.
Kupfer drückte Stainer einen zusammengefalteten Bogen Papier in die Hand und beugte sich danach wieder zu dem Dienstmädchen hinunter. «Dass wer mit Pistolen da reingeht?», hakte Kupfer nach. Stainer verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Während er zur Teeküche der Kriminalabteilung schlenderte, entfaltete er Kupfers Notiz. Oberst Richard von Braun , stand darauf, geb. 2.1.1872, Träger des Eisernen Kreuzes I. Klasse und des Ordens Pour le Mérite; schwer verwundet bei der letzten Schlacht an der Somme; Wohnort unbekannt.
«Gute Arbeit, Herr Kollege», murmelte Stainer und steckte das Papier in die Anzugtasche. In der Teeküche füllte er Wasser in die Gießkanne und goss, als er zurück im Büro war, den Gummibaum. Im Zimmer nebenan hörte er Weingartens Dienstmädchen heulen. Gut so. Sie würde reden, und was sowieso schon auf der Hand lag, würde bald in dem von ihr unterschriebenen Verhörprotokoll stehen – dass ihr Bruder Manfred Mitglied eines Verbandes nationalistischer Frontsoldaten und Kämpfer der Operation Judas gewesen war, die Jagd auf Männer machte, die sie für Verräter hielt.
Stainer stellte die Gießkanne neben den Garderobenständer, ließ sich auf seinen Schreibtischsessel sinken und griff nach dem Hörer des Fernsprechers. Er wählte wieder Rosa Sonntags Nummer. Während das Freizeichen ertönte, zog er seine Taschenuhr aus der Hose – kurz nach halb neun. Niemand nahm ab.
Er legte auf, suchte den Zettel mit der Nummer des Berliner Verlages aus dem wachsenden Chaos auf seinem Schreibtisch heraus und wählte die 90, um das Ferngespräch nach Berlin anzumelden. Es dauerte fast fünf Minuten, bis Baumanns Chef in der Leitung war. «Polizeiamt Leipzig, Kriminalabteilung, Inspektor Stainer. Ich ermittle im Fall Ihres ermordeten Lektors Baumann und …»
«Schlimme Sache», unterbrach der Verleger ihn. «Ich habe Heinrich gewarnt. Er soll sein Manuskript für acht bis zehn Jahre in der Schublade versenken, habe ich gesagt, frühestens dann könnte die Zeit reif werden für Kriegsbücher. Jetzt wollen die Leute doch erst einmal vergessen und Gras wachsen lassen über die ganze Scheiße – entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise. Doch Heinrich war ein Getriebener, wissen Sie? Glaubte, die Wahrheit ans Licht bringen zu müssen, wie er sich ausdrückte. Herr Baumann war ein hochmoralischer Mensch, wissen Sie? Er …»
«Sie hören sich an, als hätten Sie sein Manuskript gelesen», unterbrach Stainer den Redeschwall des Verlegers.
«Einzelne Kapitel. Darin schilderte er Gräueltaten deutscher Soldaten in Belgien – Dinant, Löwen und so weiter –, die haben ganze Stadtviertel abgefackelt und zig Zivilisten massakriert. In einem Kapitel erzählt er, wie ein Leutnant und sein Feldwebel ein Mädchen vergewaltigen und seine Angehörigen erschießen. Eine Loch-im-Kopf-Geschichte, habe ich gesagt, vergiss das.»
Eine Geschichte aus dem Hauptarchiv!, dachte Stainer, während der Verleger erzählte, dass sich Baumann in seinem Text nicht einmal bemüht hatte, die Identität der Vergewaltiger zu verschleiern. An Namen erinnerte der Mann sich jedoch nicht.
Nach dem Gespräch mit Berlin hatte Stainer eine klarere Vorstellung von dem, was Baumann in seinen Aufzeichnungen das Hauptarchiv genannt hatte. «Er hat seinen Mörder gekannt», dachte er laut, «aus Löwen oder Dinant. Und in seinem Hauptarchiv erzählt er von ihm.» Er griff zum Fernsprecher. «Baumanns Tasche muss her.»
Er wählte die Nummer von Rosa Sonntag, doch sie nahm wieder nicht ab. War ihr womöglich etwas zugestoßen?