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A
n eine Holzwand gefesselt hockte sie in altem Stroh. Eine Trennwand aus Brettern teilte ihr kleines Gefängnis in zwei Teile. Ein Stall, vermutete Rosa, denn es roch nach Pferd. Hin und wieder hörte sie einen Eichelhäher krähen. Ich muss irgendwo im Wald sein, dachte sie. Durch zwei kleine Fenster in der anderen Wand fiel mattes Licht herein.
Der Eichelhäher war nicht das einzige Lebewesen, das Rosa hörte. Manchmal drangen Männerstimmen von hinter der Wand, vor der sie im Stroh hockte, zu ihr. Wenn sie sich auf den Knien aufrichtete, konnte sie ihr Ohr gegen eine Fuge zwischen den Stämmen pressen und einzelne Worte und Sätze verstehen. Es ging um Heinrichs Tasche, um einen Mann, den sie den Oberst nannten, und um einen Hauptmann namens Renkewiz. «Es wird ihm nicht gefallen, dass ihr Hagens Schwester hierhergeschafft habt», hörte sie jemanden sagen.
«Der Befehl des Hauptmanns war eindeutig: ‹Beschafft mir die Tasche›», entgegnete eine Stimme, in der sie sofort die von Heinrichs Mörder wiedererkannte, dem Untersetzten mit den kalten Augen. «Und wenn jemand weiß, wo Baumanns Tasche ist, dann die Sonntag. Wahrscheinlich kennt sie sogar ihren Inhalt.»
«Und wie werden wir sie wieder los, wenn wir die Tasche haben, Joseph?»
«Das lasst meine Sorge sein», antwortete der Untersetzte.
Rosa hielt den Atem an. «Er will mich umbringen, Albert», flüsterte sie. «Ich spüre es – er will mich umbringen.» Sie blickte
sich um. Vermutlich gehörte der kleine Stall zu einer größeren Hütte. Rosa wusste nicht, wohin man sie gebracht hatte, denn die Männer hatten ihr die Kapuze erst von den Augen gezogen, nachdem sie ihre gefesselten Hände an den rostigen Wandring gebunden hatten.
So gut es ging kuschelte sie sich in den Nerz und wickelte sich die Decken um die Beine, die sie ihr ins Stroh geworfen hatten. Die Kälte kroch ihr bereits in die Knochen. Hin und her gerissen zwischen Wut und Angst, dachte sie mal an ihren Bruder Hagen, mal an den untersetzten Mann mit der Lederkappe. Einer ihrer beiden Entführer hatte ihn Joseph genannt. «Ich hasse ihn, Albert», flüsterte sie. «Und ich habe Angst vor ihm.»
Da! Wieder hörte sie Männerstimmen hinter der Wand. Augenblicke später ging eine Tür und Stroh raschelte unter Schritten. Der namens Joseph trat vor den Verschlag, in dem sie hockte. Er musterte sie aus regloser Miene und mit gleichgültigem Blick.
Neben ihm erschien der andere, der sie in ihrem Haus von hinten gepackt hatte, ein junger Mann von höchstens fünfundzwanzig Jahren. Er trug Reichswehrstiefel unter einem schwarzen Ledermantel und hatte schwarzes Haar.
«Wo ist Baumanns Tasche?», fragte der namens Joseph.
«Mir ist kalt», sagte Rosa.
«Ich habe dich was gefragt.»
«Mir ist kalt und ich muss mal.» Rosa hielt seinem Blick stand. «Außerdem habe ich Durst.» Ein dritter Mann tauchte nun hinter den beiden auf, ein Blonder in einem Anzug unter dem Mantel.
«Sobald wir die Tasche haben, kannst du gehen, wohin du willst, und tun, was du willst.»
«Gern auch trinken und pissen», sagte der Blonde und grinste. «Was hat Baumann dir über den Inhalt der Tasche erzählt?»
«Nichts. Ich habe Ihnen alles gesagt: Der Inspektor hat die Tasche abgeholt, gestern Abend gegen halb acht.»
«Wir wissen, wo der Inspektor gestern Abend gegen halb acht war», sagte der Blonde. «Nicht bei dir.»
Elende Mörder, dachte sie, von mir erfahrt ihr nichts. «Vielleicht hat er sie auch eine Stunde später geholt, so genau weiß ich das nicht mehr.» Harndrang und Kälte quälten Rosa, sie biss die Zähne zusammen. «Rufen Sie ihn doch in der Wächterburg an, er wird es Ihnen bestätigen.»
Der Blonde und der mit den Militärstiefeln tauschten verstohlene Blicke aus, Joseph aber hielt den Blick starr auf sie gerichtet. Rosa sah ihm an, dass er nicht auf ihren Bluff hereinfiel. «Wir kennen wirksame Mittel, Vögelchen, um dich zum Reden zu bringen», sagte er gleichmütig, «doch weil wir deinen Bruder als guten Bekannten betrachten, kriegst du noch ein wenig Zeit zum Nachdenken, bevor wir sie anwenden.»
Hagen steckt mit ihnen unter einer Decke, dachte Rosa. «Grüßen Sie ihn von mir», sagte sie mit fester Stimme, «und er soll mich gefälligst hier abholen.»
Joseph kam zu ihr, griff ihr ins Haar und bog ihr den Kopf in den Nacken. «Ich warne dich», flüsterte er. «Wenn du meine Geduld überstrapazierst, werde ich mich allein mit dir beschäftigen. Ganz allein, meine ich. Dann wirst du Schmerzen kennenlernen, von denen du noch nicht einmal weißt, dass es sie gibt.»
Er stieß ihren Kopf gegen die Wand und verließ den Stall. Die anderen beiden folgten ihm, ohne Rosa noch eines Blickes zu würdigen.
«Dreckskerle!», zischte Rosa. Und dann schrie sie: «Mir ist kalt! Ich muss mal! Ich habe Durst!»