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U m die Mittagszeit stand Stainer im Gang einer großen chirurgischen Station der Universitätsklinik. Der Stuhl vor dem Krankenzimmer, das er betreten wollte, war leer. Nach Kupfers Auskunft sollte hier eigentlich ein Wachtmeister sitzen. Stainer schwante Übles.
Er öffnete die Tür und schaute ins Zimmer hinein – ein einziges Krankenbett stand darin und auf dem Stuhl neben dem Bett saß Christel Heiland; in der Faust hielt sie ein weißes Taschentuch. Sie hob den Kopf und schaute ihn aus rot geweinten Augen an. Stainer trat ein, schloss leise die Tür hinter sich und ging zu ihr.
Heiland lag auf einem weißen Kissen. Man hatte ihm die Hände über der Brust gefaltet und das Kinn mit einem Tuch hochgebunden. Sein wächsernes Gesicht sah aus, als würde es lächeln. Stainer hatte Hunderte Tote anschauen müssen in den letzten Jahren. Einen wie diesen jedoch – so sauber, so vollständig und so friedlich – hatte er noch nie gesehen.
Stainer, nahm seinen Hut ab. «Mein Beileid», sagte er und schritt zu Heilands Witwe. «Tut mir sehr leid für Sie und Ihre Tochter.» Er holte sich einen Stuhl vom Tisch und setzte sich zu ihr ans Bett.
Es fiel ihm schwer, seinen Blick von Heiland loszureißen. Dieser Mann war einmal Boxer gewesen. Und Frontsoldat. Nach dem Krieg hatte er seine Familie mit Diebstählen und Einbrüchen über die Runden gebracht. Jetzt sah er aus, als könnte er kein Wässerchen trüben.
«Danke, Herr Inspektor.» Christel Heilands Stimme klang hohl, ihr Blick war leer. «Ich begreife gar nichts, wissen Sie? Ich sitze schon seit gestern Abend hier, seit Fine und Mona gegangen sind, und begreife gar nichts.»
«War er noch ansprechbar, als Sie kamen?»
«Als er die Stimme der Kleinen gehört hat, hat er die Augen geöffnet.» Sie schnäuzte sich. «Sogar die Hand hat er gehoben und ihre Backe gestreichelt. Ich habe das Kind Tante Josephine und Mona mitgegeben, die haben es zu meinen Eltern gebracht.»
«Und seitdem ist er nicht mehr zu sich gekommen?»
Sie nickte und schnäuzte sich. «Heute Morgen, zwei Minuten nach halb fünf ist er gestorben. Kann das denn wahr sein?» Sie wirkte vollkommen kraftlos und machte den Eindruck eines Menschen, der keine Zukunft mehr hatte.
«Es ist schwer zu begreifen, ja.» Stainer suchte nach Worten.
«Sie haben ihn gefunden, nicht wahr, Herr Inspektor?»
«Nein. Bewohner des Hauses, vor dessen Garten er auf dem Fahrrad zusammengebrochen ist, haben ihn gefunden, aber ich war dann bei ihm, bis das Sanitätsfahrzeug kam. Die ganze Zeit, bis er das Bewusstsein verloren hat.»
«Konnte er noch sprechen in dieser Zeit?»
«Er war noch lange bei Bewusstsein und ja, er hat gesprochen.»
«Was hat Max denn gesagt?» Jetzt kam doch wieder Leben in sie, und sie rutschte auf die Kante ihres Stuhles. «Bitte erzählen Sie es mir, Herr Inspektor.»
«‹Mein armes Mäuschen›, hat er gesagt, ‹arme Christel›, und dass er nicht geschossen hat.»
«Nicht geschossen?» Christel Heiland riss Augen und Mund auf, und Stainer begriff plötzlich, dass sie gar nichts wusste, gar nichts wissen wollte.
«In der Villa in Gohlis, in die er eingebrochen war.» Er wog seine Worte sorgfältig ab. «Dort habe er keinen einzigen Schuss abgegeben, sagte er. Und das stimmt, Frau Heiland – er ist dort eingebrochen, ja, doch er ist nicht zum Mörder geworden.»
Sie zog das Taschentuch auseinander, drückte es sich vor die Augen und weinte leise.
«Sie wussten nichts von seinen Raubzügen?» Die Augen mit dem Tuch verdeckt, schüttelte sie den Kopf. «Dann wissen Sie auch nichts über die Leute, mit denen er gemeinsame Sache gemacht hat?»
Wieder schüttelte sie den Kopf hinter ihrem nass geweinten Taschentuch. «Ich habe schon manchmal befürchtet, dass Karl Krüger und er krumme Dinger drehen», flüsterte sie.
Ganz blind also ist sie nicht gewesen, dachte Stainer, immerhin. «So etwas spürt man, nicht wahr?», sagte er. Christel Heiland nickte hinter ihrem Taschentuch. «Und will es nicht wahrhaben.» Wieder nickte sie stumm.
«Ich werde nächste Woche noch einmal jemanden bei Ihnen und Ihren Schwiegereltern in Stötteritz vorbeischicken. Falls Ihnen vorher etwas einfällt, das ich wissen muss, rufen Sie mich bitte an. Meine Fernsprechnummer haben Sie ja.»
Stainer stand auf und drückte ihr die Hand. Als er die Tür öffnete, stand er vor einem Hünen mit einer auffallend krummen Nase. «Wer sind Sie, und wo wollen Sie hin?», fragte er ihn.
«Stecher.» Dem Hünen fehlten mindestens zwei Schneidezähne. «Oskar Stecher, ich will meinen Sportskameraden besuchen. Max Heiland. Hab gehört, der hat sich ’ne Kugel gefangen.»
«Mehrere.» Stainer sah ihm in seine traurigen Hundeaugen. «Sie kommen zu spät»
Er brauchte nur eine Station weiterzugehen, um einen Wachtmeister zu finden, der auf einem Stuhl vor der Tür eines Krankenzimmers saß. Er nickte ihm zu und trat ein, ohne zu klopfen. Im Zimmer saß ein weiterer Wachtmeister und las Zeitung. Er hieß Schwalbe – Stainer kannte ihn aus dem Wachzimmer des Arresthauses. Das einzige Bett war mit Wilhelm Körner belegt. Obwohl sein operiertes Knie auf ein monströses Schienengestell gewickelt war, hatte man ihn mit Gurten am Bettrahmen gefesselt.
Stainer begrüßte den Wachtmeister und trat an das Fußende des Bettes. «Paul Stainer, Kriminalinspektor. Sie sind zuletzt Leutnant der Luftwaffe gewesen, nicht wahr, Körner?»
«Ich bin Leutnant.» Der Mann schob sein breites Kinn vor und taxierte ihn aus zu Schlitzen verengten Augen.
Stainer nickte. «Und Renkewiz ist Ihr Hauptmann. Wie viele Verräter haben Sie in seinem Auftrag schon zur Strecke gebracht?»
Körner grunzte. «Den Drecksack, der mir das Knie zerschossen hat, jedenfalls noch nicht.»
Das wirst du auch nicht, dachte Stainer, dafür werde ich sorgen. Laut sagte er: «Renkewiz kennen Sie seit Dinant, Joseph Tilger auch. Renkewiz kommandiert die Operation Judas , und Oberst von Braun erteilt ihm die operativen Befehle, alles wie gehabt.» Stainer beobachtete das Mienenspiel des Mannes, während er dessen ehemaligen Regimentskommandeur ins Spiel brachte – Körner zuckte nicht einmal mit der Wimper. «Jetzt interessiert mich noch, welche Rolle Sie in dem Verein gespielt haben, bevor wir Sie aus dem Verkehr gezogen haben.»
«Sie können mich mal.» Körner presste die Lippen zusammen.
«Die Schwester Ihres Komplizen Schulze sitzt in der Wächterburg, Körner, zwei Kollegen nehmen sie gerade in die Mangel.» Stainer stützte sich so heftig auf das Schienengestell, dass Körner aufstöhnte und das Gesicht verzerrte. «Sie ist klüger als Sie – sie redet mit uns und erspart sich so einige Jahre Zuchthaus.»
Körners Augen wurden noch um eine Winzigkeit schmaler, und seine Kiefermuskeln mahlten, sonst reagierte er nicht. Stainer nickte dem Wachtmeister zu und verließ das Zimmer.
Vor der Tür stritt der andere Wachtmeister mit einer elegant gekleideten Frau. «Er ist verletzt, er ist mein Freund, natürlich werde ich ihn besuchen!», hörte Stainer sie mit energischer Stimme sagen. «Was erlauben Sie sich eigentlich?»
«Tut mir leid», entgegnete der Wachtmeister, «Herr Körner ist verhaftet und darf keinen Besuch empfangen.»
«Das kann doch nicht wahr sein!» Die Frau war groß und schlank, und silbrige Fäden durchzogen ihr blauschwarzes Haar, das sie zu einem Dutt hochgebunden trug. Ihre kantige, sowieso schon herbe Miene nahm einen wütenden Ausdruck an. «Wer ordnet so etwas an?»
«Ich.» Stainer trat zwischen sie und den Wachtmeister. «Gestatten – Paul Stainer, Kriminalinspektor. Ihr Freund steht unter Mordverdacht, gnädige Frau. Wie ist Ihr werter Name?»
Sie sog scharf die Luft durch die Nase ein, wirbelte auf dem Absatz herum und stöckelte zur Stationstür.
Die Gynäkologie der Leipziger Universitätsklinik lag im gleichen Gebäudekomplex wie die Chirurgie. Stainer schaffte es nicht, daran vorbeizugehen, ohne auf der Wöchnerinnenstation nach Edith zu fragen. Sie sei beim Essen, sagte man ihm, müsse aber jeden Moment in den Kreißsaal 3 zurückkehren, weil gerade eine Frau mit Wehen eingeliefert worden sei.
Er wartete vor dem offenen Kreißsaal 3. Aus dem verschlossenen Kreißsaal 1 drang das Wehklagen einer Frau, und auf einer Wartebank hockte nagelkauend ein Jüngling von höchstens neunzehn Jahren. Stainer setzte sich neben ihn und lauschte dem Gejammer der Gebärenden. Wie viele Männer hatte er nicht jammern und schreien hören in den letzten sechs Jahren! Doch eine Frau? Noch nie.
«Ihr erstes?», sprach er den Burschen an. Der nickte und versuchte zu lächeln, doch das sah ziemlich verkrampft aus. «Gratuliere und alles Gute.» Wieder quälte der Ärmste sich ein Lächeln ab.
Stainer konnte nur ahnen, wie der Mann sich fühlte, denn er selbst war nie in seiner Situation gewesen. Angeblich gehörte es ja zur Vollständigkeit des Lebensglücks, Vater oder Mutter zu werden. Doch Stainer hatte nie etwas vermisst in seiner Kinderlosigkeit. Anders als Edith – die hatte immer darunter gelitten, nicht schwanger zu werden. So sehr, dass ihr Hebammenberuf ihr oft zur Qual geworden war.
Ob sie auch mit Brand versucht hatte, schwanger zu werden?, fragte sich Stainer, und der Gedanke versetzte ihm einen Stich.
Die Milchglastür zwischen Station und Kreißsälen wurde aufgestoßen, und Männer und Frauen in Weiß eilten herein. Als Stainer Edith unter ihnen entdeckte, stand er auf. Einer der Ärzte blieb vor ihm stehen und murmelte einen Gruß – Eugen Brand.
Einen Moment lang sahen sie einander in die Augen – zum letzten Mal, Stainer spürte es irgendwie. Brand sah krank aus, und sein Atem roch nach Wein. Er nickte wie einer, der sagen wollte: «Ich habe es ja gleich gewusst», wandte sich schließlich ab und verschwand hinter der Tür zu Kreißsaal 1.
Edith, die einer Hebammenschülerin Anweisungen gab, winkte ihn zu sich, und als die junge Hebammenschülerin sich in Richtung Kreißsaal 3 aufmachte, nahm Edith seine Hand und zog ihn mit sich auf die Wöchnerinnenstation. «Ich bin froh, dass du kommst», sagte sie und Stainer traute seinen Ohren nicht. «Dann kann ich es dir persönlich sagen. Leider habe ich nicht viel Zeit.»
Sie öffnete die Tür zu ihrem Bereitschaftszimmer und zog ihn hinein. Stainers Herz schlug schneller, denn er spürte, dass etwas in der Luft lag.
«Ich bin ganz durcheinander, Paul.» Sie umarmte ihn, gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen und trat einen Schritt zurück, um ihn von oben bis unten zu betrachten. «Gott sei Dank – endlich hast du deinen Militärmantel abgelegt! Steht dir immer noch gut, der Lodenmantel.» Und dann sah sie ihm wieder in die Augen. «Du verfolgst mich im Traum, Paul, und tagsüber habe ich Mühe, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren, weil ich ständig an dich denken muss. Hör mir zu.»
Stainer konnte kaum glauben, was er da hören durfte. «Rede, ich hör dir zu.»
«Ich muss in Ruhe über alles nachdenken.» Sie hielt seine Hand fest und sah ihm in die Augen. «Deswegen habe ich die Beziehung zu Eugen auf Eis gelegt und ziehe mich von ihm zurück. Ich habe es ihm bereits gesagt, doch er will morgen Abend noch einmal mit mir sprechen, außerhalb der Klinik. Das kann ich ihm nicht verwehren.»
Stainer wusste nicht, was er sagen sollte und suchte nach Worten. Weil ihm keine einfielen, schloss er seine Frau in die Arme und wollte sie küssen.
«Nicht, Paul.» Edith wehrte ihn ab und löste sich von ihm. «Ich habe eine Erstgebärende auf dem Stuhl liegen und brauche jetzt einen klaren Kopf.» Sie zog die Tür auf und schob ihn hinaus. «Ich rufe dich morgen Abend an, ja? Gleich nach dem Gespräch mit Eugen, so gegen neun.»