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S tainer folgte dem Arzt in das Behandlungszimmer. Sein Blick flog über eine vollgestopfte Bücherwand, einen Sekretär aus Walnussholz, zwei dunkelrote Polstersessel, eine dunkelrote Polsterliege und blieb an dem Bild darüber hängen: eine Felseninsel in nachtschwarzem Meer unter nachtschwarzem Himmel und von dunklen Zypressen zerteilt. Und davor, kurz vor der Landung, ein Boot mit einem Ruderer im Heck und einer weißen, stehenden Gestalt am Bug.
Die Toteninsel , das einzige Gemälde von Böcklin, das Stainer kannte.
Er stand reglos vor Liege und Bild, denn es kam ihm vor, als öffnete sich ihm der Vorhang zu seinem Albtraum, die Falltür in die Vergangenheit. Das schwarze Wasser, der düstere Himmel, das Boot mit der stehenden Leiche – wie konnte ein Nervenarzt nur ein solches Gemälde in seinem Behandlungszimmer aufhängen?
Polanski trat an seine Seite. «Sie kennen das Bild?» Er nahm ihm Mantel und Hut ab.
«Ich habe es mal in einer Ausstellung gesehen, in der Kunstakademie.» Und im gleichen Moment fiel ihm ein, dass es Bruno Schilling gewesen war, der ihn und Edith zu der Ausstellung mitgenommen hatte. «Fünf oder sechs Jahre vor dem Krieg.» Die überfallartige Erinnerung verwirrte ihn – was hatte Schilling mit der Kunstakademie zu tun gehabt?
«Böcklin hat in den achtziger Jahren mehrere Versionen dieses Bildes gemalt», sagte Polanski, «das hier ist eine Farblithographie der ersten. Nach der letzten malte er eine Art Gegenbild.» Er zeigte zur Stirnseite des Raumes, wo über einem Sessel und von der Liege aus gut sichtbar ein ähnlich großes, aber entschieden freundlicheres Bild hing. «Die Lebensinsel», sagte Polanski. Stainer sah wieder eine Insel, doch auf der feierten Menschen zwischen Palmen und Laubbäumen und unter einem blauen Himmel, und davor, im spiegelglatten Meer, schwammen weiße Schwäne und badeten nackte Paare.
Polanski wies auf die Liege unter der Toteninsel . «Legen Sie sich bitte auf die Couch, Herr Stainer.» Der Arzt ließ sich im Sessel hinter der Liege nieder, während Stainer ein wenig unschlüssig vor der Liege stehen blieb. «Man kommt sich ein wenig ausgeliefert vor, wenn man sich vor einem Fremden niederlegt, ich weiß schon, aber es wird Ihnen helfen, sich Ihren Einfällen zu überlassen.»
«Meinen Einfällen?» Widerwillig ließ Stainer sich auf der Couch nieder und legte sich ab. Es störte ihn, dass der Nervenarzt hinter ihm und außerhalb seines Blickfeldes saß.
«Unsere Heilkunst lebt davon, dass unsere Patienten alles aussprechen, was ihnen in den Sinn kommt, und sei es in ihren Augen noch so lächerlich oder unbedeutend.»
«Alles, was mir in den Sinn kommt?» Als Erstes kam Stainer seine Frau in den Sinn, dass sie morgen Abend anrufen würde, und die unbändige Hoffnung, sie würde Schluss machen mit Brand. Dann stand ihm plötzlich das wächserne Gesicht des toten Heiland vor Augen und dessen weinende Frau. Und schließlich Rosa Sonntag, die ihm ihre Haustür nicht geöffnet hatte, obwohl sie Baumanns Tasche unbedingt loswerden wollte. Nichts davon sprach er aus. «Wozu soll das gut sein?», fragte er stattdessen.
«Unsere scheinbar zufälligen Einfälle treiben auf der Oberfläche unseres Bewusstseins wie Bojen auf der Wasseroberfläche eines Sees», erklärte Polanski. «Und wie diese mit dem Seegrund sind unsere Einfälle und Assoziationen mit verborgenen Inhalten in den Abgründen unseres Unterbewusstseins verbunden. Unsere Heilkunst besteht darin, diese Inhalte aufzuspüren und dem Bewusstsein zugänglich zu machen, in dem wir den Einfällen unserer Patienten folgen.»
Stainer vermutete, dass Polanski mit unserer Heilkunst die Methode der Psychoanalyse meinte. «Und wozu soll das gut sein?» Er fühlte sich unwohl, und das Gefühl, seine Zeit zu verschwenden, überkam ihn.
«Vielleicht zu gar nichts. Vielleicht aber auch, um von quälenden Symptomen befreit zu werden. Hätten Sie mich angerufen und um einen schnellen Termin gebeten, wenn nicht irgendwelche Symptome Sie quälen würden? Sie gingen sogar so weit, mir am Telefon zu gestehen, dass Sie fürchten, Ihre Arbeit nicht mehr lange bewältigen zu können.»
«Ich habe vorgestern einen Mann erschossen. Und am Abend zuvor musste ich vier Menschen in die toten Gesichter sehen.» Stainer sprach langsam und deutlich, damit seine Stimme nicht zitterte. «Ein bisschen viel für einen, der gerade erst aus der Kriegsgefangenschaft an seinen Arbeitsplatz zurückgekehrt ist.»
«Und erst recht zu viel für einen, der vor der Gefangenschaft täglich in tote Gesichter sehen musste. Was ist Ihnen passiert, nach den vier Toten und nachdem Sie den Mann erschossen hatten?»
Dutzende Szenen aus den vergangenen Tagen schwirrten Stainer durch den Kopf. Mit welcher sollte er beginnen? Er starrte hinauf zu Böcklins Toteninsel und glaubte plötzlich, einen Hirsch zwischen den Zypressen zu erkennen und vor der Felswand, neben dem hellen Gemäuer, einen englischen Panzer.
«Am Mittwochabend bin ich direkt von einem Tatort mit drei Toten in eine Kneipe im Preußergäßchen gegangen.» Stockend begann er zu erzählen. «Dort hängt ein Landschaftsgemälde an der Wand, eine Bergidylle mit Hirsch, See und Jägern. Ich habe ein paar Augenblicke zu lange hingeguckt – und war plötzlich wieder mitten im Krieg …»
Je länger Stainer sprach, desto leichter fiel es ihm, und bald kamen ihm die Worte wie von selbst über die Lippen. Er erzählte von seinen Albträumen, von seinem Gedächtnisverlust, von seinen zitternden Händen, von Branntwein und Cognac. Und als Polanski nachhakte, erzählte er auch vom unablässigen Donnern der Artilleriegeschütze, auf das kein deutscher Soldat gefasst gewesen war und das ihn, Stainer, erst in den Wahnsinn und dann in die Arme sogenannter Psychiater getrieben hatte. Er erzählte von der Stunde im Wasser des Granattrichters und vom zerfetzten Körper jenes Feldwebels. Er erzählte vom brennenden Fluss, von englischen Panzern und von der ausgestreckten Hand des Hauptmanns Renkewiz. Stainer erzählte und erzählte – bis er nach ungefähr einer Stunde zitternd und erschöpft auf der Liege lag und durch einen Tränenschleier hindurch die Toteninsel über sich von grellen Explosionsblitzen erstrahlen und von Granatdetonationen erbeben sah.
«Das ist der Weg zurück ins Leben», sagte Polanski nach langem Schweigen. «Sich der schlimmen Dinge erinnern und sie aussprechen, wieder und wieder. Ein langer und schmerzhafter Weg. Sie werden alte Wunden wieder spüren, die Sie mit viel Kraftaufwand zu vergessen suchen.»
«Lieber wäre mir, Sie würden mich die Kunst des Vergessens lehren», flüsterte Stainer. «Heute erst hat mir ein Kollege erzählt, wie der Kommandant seines U-Bootes die Versenkung eines englischen Lazarettschiffes befohlen hat. Und eines voll besetzten Rettungsbootes. Wäre es ihm nicht zu gönnen, endlich vergessen zu können?»
«Erinnerungen, die man glaubt vergessen zu können, indem man sie in Alkohol und Schweigen vergräbt, verfolgen einen ein Leben lang. In Albträumen, unerklärlichen Angstattacken, überfallartigen Bildern bis hin zu Lähmungen und Sprachverlust. Es gibt Räume in unserem Nervensystem – oder in unserer Seele, wie der Volksmund das nennt –, die bewahren schlimme Erinnerungen weitaus hartnäckiger als schöne.»
Stainer, der nicht sicher war, ob er das glauben sollte, setzte sich auf und zog sich die Schuhe an. «Ich bin Kriminalist, Herr Dr. Polanski. Ich liebe meinen Beruf und will ihn möglichst lange ausüben.» Er stand auf und sah dem Arzt ins Gesicht. «Und vor allem will ich ihn gut und fehlerfrei ausüben. Wann also kann ich wieder zu Ihnen kommen?»