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ein Vater schimpfte, seitdem Stainer sein Zimmer betreten hatte. Auf die Franzosen, auf die Amerikaner, auf die Engländer und jetzt, während Stainer ihm die Beine abtrocknete, auf den Reichswehrminister Noske, weil der die Forderung der Siegermächte, «deutsche Kriegshelden auszuliefern», wie er sich ausdrückte, nicht postwendend zurückgewiesen hatte.
Stainer legte ihm die Kleider aufs Bett, die er sich ohne Hilfe anziehen konnte. Sein Vater hatte sich schon wieder mächtig in Rage geredet und begann nun, auf die Kommunisten im Allgemeinen und auf den Reichskanzler Bauer und sein Kabinett im Besonderen zu schimpfen. Auch der Reichspräsident Ebert bekam sein Fett ab. Stainer hörte kaum noch zu. Er trug die Schüssel mit dem Waschwasser in die Küche und leerte sie im Spülstein aus.
Einen Moment lang schaute er in den kleinen Spiegel über dem Spülstein: Ein müdes und unrasiertes Gesicht sah ihn an. Er spülte die Schüssel aus, öffnete den Wasserhahn und klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Er hatte nur drei Stunden geschlafen in dieser Nacht. Nachdem er von Rosa Sonntags Villa nach Hause gekommen war, hatte er sich in Baumanns Manuskript festgelesen.
Zurück am Bett seines Vaters half er ihm in Unterhosen, Strümpfe und Uniformhosen. Seine Mutter war zum Sonntagsgottesdienst in der Nikolaikirche gegangen und wollte anschließend zur goldenen Hochzeit ihrer besten Freundin nach Lützen fahren. Stainer hatte ihr schon letzten Montag versprochen, das
sonntägliche Programm mit dem Vater zu übernehmen. Sollte man ihn in der Wächterburg brauchen, würden zwei Nachbarinnen übernehmen.
«Weiß überhaupt nicht, wie du es verantworten kannst, eine Partei zu unterstützen, die unseren Truppen in den Rücken gefallen ist!», schimpfte sein Vater. «Die verdammten Streiks und die Propaganda der verdammten Bolschewiken haben die Kampfmoral unserer Soldaten entscheidend geschwächt! Die Roten sind schuld, dass wir den Krieg verloren haben! Auch deine SPD
!»
«Meines Wissens hat Ebert auf Streikende schießen lassen, als er noch Kanzler gewesen ist.» Es war immer das Gleiche, was der Alte erzählte. Stainer setzte ihn auf und half ihm in die Uniformjacke.
«Nicht entschlossen genug! Ein mickriges Feigenblattgeballer war das! Mit der Artillerie hätte man da reinhalten müssen! Der Kaiser hätte diese Vaterlandsverräter sofort an die Wand stellen lassen!»
«Das fürchte ich auch, Vater», sagte Stainer in größter Ruhe. «Streck den rechten Arm nicht so weit hoch.»
Es war sehr wahrscheinlich, dass man ihn in der Wächterburg brauchen würde. Zuletzt hatte er am Morgen mit Heinze gesprochen, da lief die Fahndung nach dem entkommenen Mann im schwarzen Ledermantel noch auf Hochtouren. Bis zur Bahnlinie hatten Stainer und die Wachtmeister ihn verfolgt. Kurz vor einem heranstampfenden Güterzug war der Mann über die Trasse gesprungen, und sie hatten die Waggons zählen können. Als der letzte vorüber gerattert war, hatte der nächtliche Wald den Mann längst verschluckt.
Stainer ging zu der Kommode mit den Kriegsandenken seines Vaters. Gekreuzte Speere und Knochen hingen darüber
an der Wand, dazwischen ein großes Foto des Offizierskorps, das vor sechzehn Jahren in Deutsch-Südwestafrika den Herero-Aufstand niedergeschlagen hatte. Stainers Vater ragte aus der zweiten Reihe und machte eine würdige Miene. Damals konnte er noch laufen. Zwei Wochen nach der Aufnahme zerschmetterte ihm eine Gewehrkugel einen Lendenwirbel.
Unter Foto, Knochen und Speeren stand ein großer runder Glasbehälter auf der Kommode, der bis oben hin mit Formalin gefüllt war. Ein schwarzer Schädel lag darin. Mit der Waffenkoppel und der Offiziersmütze seines Vaters kehrte Stainer zu dessen Bett zurück.
«Wenigstens jetzt scheint unsere unfähige Regierung es mit dem Volk zu halten, wo der Feind unsere tapfersten Soldaten als Kriegsverbrecher verleumden will!»
«So?» Stainer hatte noch keine offizielle Verlautbarung aus der Reichskanzlei gehört. «Ob du es glaubst oder nicht, Vater, es sind wirklich scheußliche Verbrechen von deutschen Soldaten verübt worden.»
«Woher willst du das wissen?!» Der Alte blitzte ihn an. «Bist du dabei gewesen?!»
«Ermittlungen in einer üblen Mordsache haben mich leider mit Gräueltaten der Reichswehr konfrontiert, die jede Vorstellungskraft sprengen.» Stainer half ihm, die Koppel anzulegen. «Ich wünschte, ich hätte nie von diesen Dingen erfahren.»
«Was soll das heißen? Du wirst dich doch nicht etwa gemein machen mit diesen linken Verrätern, die unsere Ehre und unser Vaterland in den Schmutz ziehen?»
«Ich fürchte, du hast mir mal wieder nicht zugehört.» Stainer nahm seinen Vater auf die Arme und trug ihn in die Diele, wo schon der Rollstuhl bereitstand.
«Vor den Spiegel!», befahl sein Vater, nachdem er ihn
abgesetzt hatte. «Knips das Garderobenlicht an!» Stainer tat, was er verlangte, und schaute zu, wie der Alte sich Schulterstücke, Tressen, Orden und Offiziersmütze zurechtrückte.
Im Spiegel konnte er durch die offene Tür zurück zu dem Schädel im Formalinglas blicken. Sein Vater behauptete, selbst schon schwer verwundet gewesen zu sein, als er den Hererokrieger erschoss, der ihm die Kugel ins Kreuz gejagt hatte. Danach, so erzählte er oft und gern, sei er zu ihm gerobbt und habe ihm eigenhändig den Kopf abgeschnitten. Ein befreundeter Arzt habe ihm die Trophäe dann präpariert und in Formalin eingelegt.
In Wahrheit war sein Vater ins Feuer der eigenen Infanteristen geraten.
Stainer schob den Rollstuhl aus der Erdgeschosswohnung, kippte ihn nach hinten und ließ ihn behutsam über die vier Stufen zur Haustür hinunterrollen. Auf dem Weg zur Schenkendorfstraße, wo seine Billardkneipe lag, schimpfte der Alte kaum noch, und immer, wenn ihnen Bekannte begegneten – und sein Vater kannte so gut wie jeden im Viertel rund um den Körnerplatz –, legte er die Fingerspitzen der Rechten an den Mützenschirm und grüßte, wie es sich für einen Offizier gehörte.
In seiner Billardkneipe schob Stainer ihn bis zum Stammtisch, wo der querschnittsgelähmte Kriegsheld mit großem Hallo begrüßt wurde. Kaum hatte er sich seinen Zigarillo ins Mundstück gesteckt, brachte der Wirt ihm schon das erste Bier und den ersten Schnaps. «Damit du nachher am Billardtisch ordentlich zielen kannst», sagte er. Stainer verabschiedete sich und ging.
Von einem fabrikneuen Telefonhäuschen am Südplatz aus rief er in der Wächterburg an. Heinze hatte keine Neuigkeiten – noch immer durchstreiften drei Dutzend Polizisten vergeblich
die Burgaue und das Rosenthal, die meisten zu Pferd und einige mit Spürhunden. Noch immer operierten sie in der Universitätsklinik den Blonden, den Stainer in den Oberschenkel und Heinze danach noch überflüssigerweise in den Kopf geschossen hatte. Und noch immer gab es keinen Hinweis auf das Schicksal von Rosa Sonntag.
«Sind alle Wachen und Reviere der Stadt alarmiert?»
Heinze bejahte. «Ich habe sämtliche Beamte, die ich erreichen konnte, aus dem Urlaub zurückbeordert. Auch die großen Ausfallstraßen werden bewacht.»
«Die wird er kaum benutzen, doch man kann nicht jede Nebenstraße und jeden Waldweg überwachen.» Stainer hatte wenig Hoffnung, den Mann zu erwischen. «Schade, er hätte uns wahrscheinlich zu dem Versteck führen können, in das die Kerle Rosa Sonntag verschleppt haben. Halten Sie mich auf dem Laufenden, Herr Kollege.»
Als er auflegte, sah er die Elektrische von der Haltestelle am Südplatz stadteinwärts rollen. Statt auf die nächste zu warten, ging er zu Fuß bis zum Volkshaus. Einige Fuhrwerke, nicht wenige Automobile und zahllose Fahrräder und Krafträder standen davor. Die Parteiversammlung hatte längst begonnen.
Das Volkshaus galt als das inoffizielle Rathaus der Leipziger Arbeiterschaft. Das Neue Rathaus, noch im Stil einer feudalen Burg erbaut, repräsentierte eher die gehobenen Schichten der Leipziger Bürgerschaft und bis zum Krieg auch noch das sächsische Königtum. Das Volkshaus dagegen verstand sich als Hort von Demokratie und Republik. Arbeiterverbände und Gewerkschaften hatten es zehn Jahre vor Kriegsbeginn erbaut. In seinen großzügigen Räumen traf man sich zum Turnen, Baden, Billardspielen, zu Vorträgen, geselligen Veranstaltungen oder eben wie heute zu Versammlungen der Leipziger Sozialdemokraten.
Stainer lief unter den Arkaden auf der Zeitzer Straße hindurch zum Haupteingang. Vorbei am Billardsaal und dem Turnsaal, der im Krieg als Lazarett gedient hatte, ging er zum großen Festsaal. Über tausend Männer und Frauen saßen darin. Vom Portal aus sah er schon, dass kaum noch ein Platz frei war.
Ein hünenhafter Mann in der vorletzten Reihe winkte und bedeutete ihm, sich neben ihn zu setzen. An der kräftigen Gestalt, dem struppigen Bart und dem auffallend langen Haar erkannte Stainer einen der Männer, von denen er in der vergangenen kurzen Nacht gelesen hatte: Bruno Schilling, der ehemalige Kriminalist und jetzige Hausmeister. Er setzte sich zu ihm.
Am Rednerpult gestikulierte ein Leipziger Stadtrat und SPD
-Funktionär, den Stainer zu kennen glaubte, doch dessen Namen ihm nicht einfallen wollte. Es ging um die leidige Auslieferungsliste der Siegermächte. Der Mann wetterte gegen das unverschämte Begehren des Auslands, das den Friedensprozess gefährde, und rief in den Saal: «Unser Parteigenosse, der Reichswehrminister Noske, hat mir persönlich versichert, dass er den Auslieferungsforderungen keinesfalls entsprechen werde. Würde er nämlich der Truppe den Befehl geben, die betreffenden Herren festzunehmen und auszuliefern, fände er niemanden, der ihm Folge leisten würde.»
Der Redner wurde von Beifall unterbrochen. «Wenn sie die Armee nicht bei der Stange halten können, haben wir hier bald den schönsten Bürgerkrieg», raunte Schilling neben Stainer.
Ich muss den Rasputin nach den Ereignissen in Dinant fragen, dachte Stainer. Vielleicht beim Mittagessen.
«Ich habe ein Ferngespräch mit Genosse Noske geführt», fuhr der Redner fort, «und er sagte mir wörtlich: ‹Ich denke
nicht daran, einen solchen Befehl zu geben, da er in der Truppe jedes Vertrauen zu mir zerschlagen würde.›»
Stainers Gedanken schweiften ab zu Baumanns Manuskript, dem er zwei erschütternde Nachtstunden gewidmet hatte, und wenn es stimmte, was Baumann geschrieben hatte, müssten viele Reichswehrsoldaten sich vor einem Kriegsgericht verantworten – und Männer wie Baumann und Schilling einen Orden erhalten.
Beifall holte ihn zurück in die Gegenwart. Der SPD
-Mann am Rednerpult begrüßte einen Gesandten des Reichspräsidenten, einen Staatssekretär. Auch der griff das Thema auf, das seit Tagen in der Luft lag: die Auslieferungsliste. Er wolle sich seinem Vorredner anschließen, sagte er, denn die Lage in der Reichswehr sei besorgniserregend. Das Offizierskorps sei in zwei Lager gespalten – die eine Hälfte finde sich mit dem Friedensvertrag und dem Auslieferungsbegehren ab, die andere trauere dem alten Regime nach und sei voller Misstrauen gegen die Regierungspolitik.
«Da hörst du’s», sagte Schilling, «wenn das nicht nach Bürgerkrieg stinkt!» In der Reihe vor ihnen drehten Männer sich um und nickten.
Zwei Lager, dachte Stainer, vielleicht ist es bei uns in der Wächterburg ganz ähnlich.
Da beugte sich Schilling wieder zu ihm herüber und flüsterte: «Heute nach dem Training bei uns, bleibt’s dabei?»
Verdutzt schaute Stainer ihn an. Waren wir verabredet?, wollte er fragen, verkniff es sich aber.
«Helga macht einen sächsischen Wildschweinbraten», flüsterte der Rasputin.
«Ich freu mich schon», behauptete Stainer. «Allerdings habe ich nur bis gegen neun Zeit. Da erwarte ich einen wichtigen
Anruf.» Irgendetwas musste ihm entgangen sein, denn er konnte sich partout nicht erinnern, mit Schilling eine Verabredung getroffen zu haben.
Gleichgültig, Stainer, sei froh, dass er dich daran erinnert hat, sonst wäre dir noch der sächsische Wildschweinbraten entgangen.
Der Mann am Rednerpult richtete unterdessen Grüße vom Reichspräsidenten aus. Ebert sei dankbar für die Zuschriften aus allen Teilen und Schichten des Volkes, die von der tiefgehenden Erregung der Bevölkerung über das Auslieferungsverlangen der Gegner und von der Genugtuung über die ruhige standhafte Haltung der Regierung Zeugnis ablegen, sagte er wörtlich und schloss: «Unser verehrter Reichspräsident versichert Ihnen, dass er und die Regierung alles daranzusetzen gewillt sind, um Deutschland diese schwerste aller Forderungen zu ersparen.»
Das Jiu-Jitsu-Training begann um fünf und dauerte in der Regel nicht ganz zwei Stunden. Stainer war gespannt, ob Junghans seiner Einladung folgen würde. Er musste tief durchatmen, als er daran dachte, dass am Abend Brand bei Edith klingeln würde, und noch tiefer, als er an den Anruf dachte, den seine Frau ihm für neun Uhr versprochen hatte.
Tosender Beifall holte ihn zurück in den Festsaal des Volkshauses und in die Gegenwart. Schon wieder beugte Schilling sich zu ihm und raunte ihm ins Ohr: «Was zum Teufel soll so schwer daran sein, Mörder vor Gericht zu stellen und sich von ihnen abzugrenzen?»
Stainer nickte. «Einige Männer vom August 14 stehen auch auf der Liste.» Verblüfft schaute Schilling ihn an.
Gegen Mittag, nach vier weiteren Rednern und hitzigen Diskussionen, eröffnete ein Funktionär die Mittagspause. Neben Schilling trieb Stainer mit der Menge aus dem Saal. «Willst du
meine neusten Arbeiten sehen?», fragte Schilling, und Stainer, der nicht wusste, wovon der andere sprach, folgte ihm in einen der kleineren Säle im Untergeschoss.
Dort flanierten Männer und Frauen an großen Holzskulpturen vorüber – überwiegend Tierfiguren und die meisten in irgendwelche Kästen, Kokons oder Käfige gezwängt. Und schlagartig erinnerte Stainer sich wieder – Bruno Schilling war Bildhauer. Schon vor dem Krieg hatte er in einigen Leipziger Galerien ausgestellt.
Stolz präsentierte der Rasputin ihm seine beiden neusten Arbeiten: eine hölzerne Riesenschlange, die in den eisernen Motorblock eines Kraftwagens gepfercht war, und eine weiße Katze, eingezwängt in die aufgebrochene Stahlhülse eines gewaltigen Artilleriegeschosses. Stainer verschlug es schier den Atem beim Anblick dieser bizarren Skulpturen. Er musste an sein Kätzchen denken, die kleine Eule, und wie die Burschen sie eingesperrt im Gurkenfass über den Bürgersteig getreten hatten.
«Ich bin angegriffen worden», sagte Schilling übergangslos. «Vor zehn Tagen in meinem Atelier. Zum Glück war ich vorbereitet, denn diese Leute beobachten mich schon seit Wochen und stellen sich ziemlich blöd an dabei.»
«Männer vom August 14?»
«Woher weißt du davon?» Stainer erzählte ihm von Baumanns Typoskript. «An Heinrich erinnere ich mich, feiner Kerl», sagte Schilling. «Am Tag danach haben sie es so eingefädelt, dass man ihm einen Befehl gab, den er einfach verweigern musste, so wie er gestrickt war. Der Oberst hat nur auf eine Gelegenheit gelauert, ihn zu erledigen. Als sie mich nach meiner Verwundung endlich aus dem Lazarett entlassen hatten, habe ich die Sache der Heeresleitung gemeldet.»
«An Renkewiz, Tilger und Schulze erinnerst du dich nicht?»
Schilling schüttelte traurig den Kopf und deutete auf seine Narbe. «Nur an Baumann und das Geschrei des armen Mädchens. Die beiden, die mir neulich vor meiner Werkstatt in Stötteritz aufgelauert haben, sind mir zwar bekannt vorgekommen, mehr aber auch nicht. Sie haben mich niedergeschlagen, einer hat irgendeinen Unsinn von einem Todesurteil an mich gequasselt, und der andere hat versucht, mir eine Schlinge über den Kopf zu ziehen.» Schillings jungenhaftes Gesicht verzog sich zu einem grimmigen Feixen, und in seinen traurigen braunen Augen glitzerte es angriffslustig. «Die Drecksäcke haben nicht gewusst, mit wem sie sich einlassen.»