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as Jiu-Jitsu-Training fand in einem großen, schlecht beleuchteten Kellerraum der Wächterburg statt. Gerade einmal neun Beamte der Wächterburg nahmen daran teil. Das lag zum einen wohl am Wochentag und zum anderen an der inzwischen abgebrochenen Großfahndung nach dem Mann im schwarzen Ledermantel, der mit einer Aktentasche voller Zeitungen aus Rosa Sonntags Haus ins Nirgendwo geflohen war. War es ein Wunder, dass die meisten Kollegen sich nach dem Feierabend sehnten?
Immerhin kamen Junghans und Heinze, und zwar direkt vom Lindenauer Sportplatz, wo sie nach der abgeblasenen Fahndung noch die zweite Halbzeit vom Spiel des VfB Leipzig gegen TuB Westberlin mitbekommen hatten. Dass Junghans seiner Einladung zum Training gefolgt war, freute Stainer besonders; Heinze zu sehen, der doch eigentlich das Turnen als Leistungssport betrieb, überraschte ihn.
Der Sonntag war ein eher unüblicher Trainingstag, doch weil der Jiu-Jitsu-Lehrer, ein drahtiger Polizeirat mittleren Alters aus Dresden, die kommende Woche auf Reisen war, hatte man sich kurzerhand auf den späten Sonntagnachmittag geeinigt. Der Mann – ein gewisser Dr. Schwarz – trug Krawatte, Dreiteiler und Melone und winkte Stainer mit vier fortgeschrittenen Jiu-Jitsu-Kämpfern auf die rechte Seite des Raums. Auf der linken Seite versammelte Bruno Schilling drei Anfänger, unter ihnen Junghans und Heinze.
Stainer hatte sich nur noch dunkel daran erinnert, dass
Schilling vor dem Krieg Jiu-Jitsu getrieben hatte. Inzwischen wusste er, dass er 1913 sächsischer Schwergewichtsmeister geworden war. Deswegen übernahm er auch die Rolle des Übungsleiters. Heute brachte er den Anfängern zunächst die einfachen Transportgriffe bei. Dr. Schwarz, immerhin mitteldeutscher Meister im Leichtgewicht und Autor eines Lehrbuches für Jiu-Jitsu, kündigte an, dass er an diesem Sonntag Handkantenschläge und Ellenbogenstöße lehren wolle. Alle Trainingsteilnehmer trugen die gewöhnlichen Anzüge oder Uniformen, in denen sie auch zum Dienst erschienen.
Stainer hatte keine Schwierigkeiten, wieder in die Bewegungsabläufe des vertrauten Kampfsportes hineinzukommen. Während der ersten beiden Kriegsjahre hatte er zwar kaum Gelegenheit zum Üben gefunden, unter den Wächtern des Gefangenenlagers jedoch war er auf einen französischen Unteroffizier aufmerksam geworden, der Jiu-Jitsu beherrschte. Mit ihm hatte er regelmäßig trainiert.
Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass Heinze ständig zu ihm herüberlugte. Schilling demonstrierte gerade den Polizeihosengriff an ihm. Heinze als abgeführter Krimineller – das sah einerseits witzig aus. Andererseits hielt Stainer es für durchaus kriminell, einen schon kampfunfähig am Boden liegenden Verbrecher mit einem Gewehr in den Kopf zu schießen.
Bruno Schilling hatte Stainer und seinen Vater an den Körnerplatz begleitet, wo seine Eltern wohnten. Die Nachbarinnen hatten den Alten übernommen, und Schilling und Stainer waren gemeinsam in die Linie 10 gestiegen und zum Training gefahren. An der Pförtnerloge der Wächterburg hatte ihn die Nachricht erreicht, dass der Mann, der Baumanns Tasche aus dem Kartoffelkeller geholt hatte, auf dem OP
-Tisch verstorben war. Er hatte Dietrich Rossberg geheißen. Ein sechs Jahre altes
Foto dieses Mannes hatte Stainer in Baumanns Unterlagen gesehen.
Nach ungefähr vierzig Minuten Training winkte der Kampfsportlehrer aus Dresden Schilling und seine Anfänger zu sich und forderte sie auf, die gelernten Griffe bei den Fortgeschrittenen anzuwenden. Von Stainer und zwei Kollegen verlangte er, Widerstand zu leisten.
Stainer sorgte dafür, dass er Heinze als Trainingspartner zugeteilt wurde. Man verteilte sich im Raum und begann zu kämpfen.
Anfangs leistete Stainer nur sanften Widerstand, sodass sich Heinze mit seinen neu erlernten Griffen ohne Schwierigkeiten durchsetzen konnte. Nach und nach jedoch verstärkte er seine Gegenwehr und irgendwann, als er den Kommissar in eine Ecke abseits der anderen bugsiert hatte, entwand er sich dessen Griff blitzschnell und zwang ihn mit einem Armhebel zu Boden.
«Was ist los mit Ihnen, Heinze?», zischte er dicht über seinen Nacken gebeugt. «Wieso boykottieren Sie die Ermittlungen?»
Heinze stöhnte unter Stainers hartem Griff. «Wie kommen Sie bloß auf so einen Unsinn, Herr Inspektor?»
«Sie halten Murrmanns Brief ans Reichsgericht unter Verschluss, Sie nehmen Jagodas Tagebuch von meinem Schreibtisch und schicken die Akte zu Kasimir, Sie übersehen geflissentlich die Verwandtschaft zwischen Weingartens Dienstmädchen und einem Mordverdächtigen. Soll ich weitermachen?»
«Lassen Sie mich los, Herr Inspektor. Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.»
«Sie werfen einen Bericht der Spurensicherung zum Abfall, der Körners Fingerabdrücke in Jagodas Wohnung nachweist.» Stainer packte ihn noch fester, und Heinze stöhnte auf. «Und
in der vergangenen Nacht jagen Sie einem Tatverdächtigen eine Gewehrkugel in den Kopf, den ich längst durch einen Beinschuss kampfunfähig gemacht habe. Am liebsten würde ich Sie zur Hölle schicken, damit Sie ihn dort vernehmen.»
«Bitte lassen Sie mich los, Herr Inspektor», jammerte Heinze, «Sie tun mir weh.»
«Warum machen Sie das?» Der Kommissar war plötzlich hochrot, seine Kiefermuskeln arbeiteten. «Befehl von oben?» Heinze schwieg. «Ich bin Ihr Chef, Heinze, nicht Kasimir.» Stainer hob den Blick, die anderen beobachteten sie. «Ich gebe Ihnen noch eine Chance!», zischte er. «Wenn Sie noch einmal quertreiben, sind Sie fällig. Dann können Sie sich eine Kraftdroschke kaufen und Ihr Geld als Chauffeur verdienen.»
«Was tun Sie denn da, Herr Inspektor Stainer?!», rief der Jiu-Jitsu-Trainer. «Der Kommissar ist doch noch ein Anfänger! Gehen Sie doch bitte ein wenig behutsamer mit ihm um.»
Stainer gab Heinzes Arme frei. «Ich hoffe, Sie haben mir gut zugehört!», raunte er ihm ins Ohr, bevor er aufsprang.
Nach dem Training standen sie zu dritt vor dem Torbogen der Wächterburg und schauten in den Sternenhimmel. Es war eiskalt. «Der kommt nie wieder zum Training», sagte Schilling. «Hast du schon lange Ärger mit ihm?»
«Nein, erst seit sieben Tagen», sagte Stainer, «seit ich wieder Polizist bin.» Er reichte dem säuerlich grinsenden Junghans die Hand. «Sie werden hoffentlich wiederkommen, Herr Kollege. Schönen Sonntag noch.»
Er wandte sich ab, um mit Schilling zur Haltestelle am Königsplatz zu gehen. In diesem Augenblick knallten Stiefelschritte über die Eingangstreppe zur Durchfahrt herunter. Vier Wachtmeister rannten in den Hof, Stainer erkannte Kupfer an
den kurzen Schritten und der hageren Gestalt. «Was ist passiert, Herr Oberwachtmeister?»
Kupfer blieb stehen und fuhr herum. «Sie sind im Haus, Herr Inspektor? Kommen Sie mit – Schüsse an der Stadtgärtnerei!»
Junghans rannte sofort in die Durchfahrt, Stainer drückte Schilling den Oberarm. «Tut mir leid, Bruno, ein anderes Mal.» Er wartete, bis der Mannschaftswagen auf die Wächterstraße herausrollte, und stieg dann zu Kupfer auf die Vorderbank.
Mächtig schaukelnd und mit quietschenden Reifen bog der große Wagen in den abendlichen Peters-Steinweg ein. «Wer hat uns alarmiert?» Stainer rief gegen den lauten Motor an.
«Eine berittene Streife von einem Café in der Kaiserin-Augusta-Straße aus!», brüllte Kupfer.
«Zeugen?»
«Anwohner!» In höllischem Tempo steuerte der alte Fahrer den Mannschaftswagen über die Zeitzer Straße und am immer noch hell erleuchteten Volkshaus vorbei. Inzwischen hatte Stainer sich wieder an den Namen des bärtigen Veterans am Steuer erinnert: Theodor Börner.
«Schon was über den Tathergang bekannt?»
Kupfer schüttelte den Kopf. «Ein Kraftwagen mit zwei Verletzten auf der Fahrerbank! Einer scheint tot zu sein. Die Streife hat per Fernsprecher ein Sanitätsfahrzeug angefordert!»
Ganz allmählich nur drang es in Stainers Bewusstsein: Schon wieder war er zu einem Mord unterwegs. Was um alles in der Welt war los in Leipzig? Er drehte sich nach Junghans um – der kaute auf seiner Unterlippe herum, und seine Miene war angespannt.
Wenig später rasten sie an den Gaslaternen auf der Südstraße vorbei. Ständig musste Stainer den großen Gummiball der Hupe zusammenpressen, um Radfahrer und Fuhrwerke an den
Straßenrand zu treiben. Der Mordanschlag auf Schilling ging ihm durch den Kopf. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn – das Gefühl, die Schüsse an der Stadtgärtnerei könnten mit den Morden in der Weingarten-Villa und mit dem Überfall auf Schilling zu tun haben.
Sie bogen in die Kaiserin-Augusta-Straße ab. An deren Ende sah man rechts die dunkle Wand des Waldes und links den Zaun der Stadtgärtnerei. Die Scheinwerfer des Mannschaftswagens erfassten eine Menschentraube, die sich mitten auf der Fahrbahn rund um ein Automobil drängten. Die spritzte auseinander, als der Fahrer auf sie zusteuerte. Börner trat erst im letzten Moment auf die Bremse und brachte den Mannschaftswagen zum Stehen. Alle sprangen heraus.
Ein Wachtmeister mit Pickelhaube kam auf sie zu. «Da kommt jede Hilfe zu spät.» Er richtete den Strahl seiner Stablampe auf das Fahrzeug und zuckte mit den Schultern. «Beide tot.»
Zwischen ihm und Junghans ging Stainer zu dem Automobil, einem Tourenwagen von Adler aus der Vorkriegszeit. Im Scheinwerferlicht des Mannschaftswagens sah er eine zerschossene Scheibe auf der Beifahrerseite – und Blut. Die blutigen blonden Haare einer Frau.
Jäh blieb er stehen. Die Stimmen um ihn herum rückten auf einmal in weite Ferne, der Boden unter seinen Schuhsohlen begann zu schwanken, und etwas stieg brennend aus seinem Bauch in seine Brust und bis in die Kehle hinauf.
Er nahm dem Wachtmeister die Stablampe aus der Hand und richtete ihren Strahl an der Toten vorbei auf den Fahrer. Und dann erst konnte er, nein, musste
er es glauben, denn Eugen Brand lag mit der linken Gesichtshälfte auf dem Lenkrad und starrte aus blicklosen Augen zu ihm heraus. Aus einem großen
schwarz-roten Loch in seiner Stirn zog sich ein Rinnsal aus Blut bis aufs Lenkrad hinunter.
«Was ist mit Ihnen, Herr Inspektor?» Junghans hakte sich bei ihm unter. «Sie schwanken ja.» Stainer spürte, wie der Jüngere ihm den Arm um die Schulter legte. «Kennen Sie die Toten?»
An Junghans’ Arm taumelte Stainer zum Kotflügel, stützte sich auf die warme Kühlerhaube und blinzelte zu der Leiche auf dem Beifahrersitz, zu dem blutigen blonden Haarschopf.
«Das ist meine Frau», presste er hervor, bevor er sich übergab.
Später in der Pathologie, als Edith schon bis zum Hals von einem Leintuch bedeckt auf dem Seziertisch lag, musste Stainer ihre Personalien zu Protokoll geben. Neben ihrem Kopf auf den kalten Marmor gestützt, atmete er gegen die steinerne Last in seiner Brust und gegen die Übelkeit in seinem Magen an. Seine Kehle war rau, so viel hatte er geschrien, und seine Augen gerötet.
Junghans besorgte einen Stuhl, stellte ihn schweigend hinter ihn und brachte ihn mit sanftem Druck auf die Schulter dazu, sich zu setzen. Seit Stainer Edith auf dem Beifahrersitz des Adlers erkannt hatte, war er nicht mehr von seiner Seite gewichen.
«Ich habe einen Assistenten von Professor Kockel gebeten, die Kugel aus ihrem Kopf zu holen.» Prollmanns Stimme klang sehr heiser und wie aus einem Nebenraum. «Hier, trinken Sie das, Herr Stainer.» Er hielt ihm ein Glas hin. «Cognac mit ein paar Tropfen Laudanum. Wird Ihnen guttun.»
Stainer schüttelte stumm den Kopf. Dr. Doppelmann wandte sich schulterzuckend ab und schaukelte zur Schiebetür des Sektionsraums. Den jungen Pathologen in Gummischürze und mit Latexhandschuhen, der auf der Schwelle stand und irgendwie
ungeduldig wirkte, drängte er zurück in den Vorraum, damit er die Tür hinter sich zuziehen konnte.
Stainer aber saß reglos vor seiner toten Frau – und vor dem Scherbenhaufen der Zukunft, die er sich mit Edith erhofft hatte. Er fragte nicht nach dem Warum, denn die Antwort lag auf der Hand: Sie hatten ihn, Stainer, mit Eugen Brand verwechselt. So einfach war das – und so brutal.
Eine der ihm zugedachten Kugeln hatte Brand verfehlt und Edith getroffen. Brands Leiche lag vollständig zugedeckt ein paar Schritte weiter auf dem Nachbartisch; dort, wo sich die Konturen seines Gesichtes abzeichneten, tränkte Blut das Leintuch.
Stainer betrachtete Ediths Gesicht. Es wirkte entspannt, beinahe ein wenig heiter. Er versuchte zu fassen, dass dieser Mund sich nie mehr öffnen würde, um mit ihm zu sprechen; dass diese Augen sich nie mehr öffnen würden, um ihn anzuschauen. Es gelang ihm nicht.
Hättest du als Droschkenfahrer neu angefangen, statt als Polizist, würde sie noch leben, dachte er. Hättest du sie in Ruhe gelassen mit deiner dummen Liebe, würde sie noch leben. Hättest du Brand vor der Haustür abgepasst und ihm eine Tracht Prügel angedroht, würde sie noch leben.
Doch dann gellte ihm Renkewiz’ Stimme im Ohr – dafür wirst du bezahlen müssen
–, und schon mit dem nächsten Gedanken korrigierte er sich: Hätte dieser Drecksack oder sein mörderischer Oberst nicht den Befehl gegeben, dich zu töten, würde Edith noch leben.
So stimmte es, und eine Welle kalten Hasses schoss Stainer durch die Adern. «Ich kriege euch», flüsterte er, «und wenn ich euch bis ans Ende der Welt jagen muss – ich kriege euch.»
Er drehte sich nach seinem Assistenten um. «Danke,
Junghans. Gehen Sie ruhig nach Hause. Ich muss noch ein paar Minuten allein mit ihr sein.» Der Jüngere trat zu ihm, drückte ihm wortlos die Schulter und ging.
Als die Schiebetür sich hinter ihm geschlossen hatte, stand Stainer auf, legte seinen Kopf auf Ediths Brust und sagte ihr, was er noch zu sagen hatte: Dass er sich auf sie gefreut hatte, dass er sie liebte, dass er versucht hätte, ihr ein besserer Ehemann zu werden, als er es vor dem Krieg gewesen war, und dass er froh war, dass nicht irgendeine, sondern sie ihm damals aus der Elektrischen in die Arme gestolpert war. Dann umarmte er sie zum letzten Mal, küsste ihre kalten Lippen und verließ den Sektionsraum.
Prollmann winkte den jungen Pathologen zu Edith hinein, und Stainer machte sich klar, dass der Dicke diesen Mann aus Diskretion und reinem Taktgefühl gebeten hatte, die Sektion zu übernehmen.
«Nicht gut, was ich da in Ihrer Miene lese, Stainer, gar nicht gut.» Prollmann hielt ihn fest. «Hass ist ein miserabler Ratgeber, glauben Sie mir.»
«Schon möglich. Aber er ist auch ein starker Motor.»
«Trinken Sie doch das Zeug hier, das wird sie runterholen.» Noch immer hielt Dr. Doppelmann das Cognacglas in seiner großen, fleischigen Pranke. «Ich lasse Ihnen eine Kraftdroschke rufen, die soll Sie zu Ihren Eltern bringen. Los, trinken Sie.»
«Danke.» Stainer winkte ab. «Ich komme zurecht.»