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ie Kanzlei glich dem Empfangssaal eines Fürstenschlosses und wurde von einem gewaltigen Kronleuchter erhellt. Ein Reichsanwalt namens Sternberg residierte darin, ein kleiner schmächtiger Mann in altmodischem dunklem Anzug und mit einer grünen Fliege am Stehkragen. Ohne die und seinen langen, buschigen Schnurrbart wäre er Stainer hinter seinem schweren Schreibtisch wohl erst auf den zweiten Blick aufgefallen.
Grußlos wies er auf die beiden freien Stühle, die drei Schritte vor seinem hölzernen Schutzwall standen. Stainer und der Polizeidirektor nahmen Platz, Junghans musste hinter ihnen stehen bleiben. Vor den Fenstern war es noch dunkel.
Mit einer Kopfbewegung erteilte der Reichsanwalt Kubitz das Wort. «Danke, dass Sie sich Zeit für unser Anliegen nehmen, Herr Dr. Sternberg», begann der und räusperte sich. «Am Fernsprecher hatte ich bereits Gelegenheit, Ihnen zu erläutern, in welcher Sache Kriminalinspektor Stainer ermittelt. Die scheußlichen Morde in Gohlis und der Albertstraße sind leider seit Tagen Stadtgespräch in Leipzig.»
Umständlich schilderte er die Mordfälle und den Ermittlungsstand, während Stainers Blick über Sternbergs großen Schreibtisch wanderte. Er war enttäuscht: Nicht eine Akte lag darauf, nicht ein einziger Bogen Papier! Hatte der Reichsanwalt sich denn gar nicht vorbereitet auf dieses Gespräch? Er selbst hielt eine Aktentasche voller Unterlagen auf seinen Knien fest.
Der Polizeidirektor, der nach Stainers Geschmack viel zu viele Worte machte, kam endlich auf den Zusammenhang
zwischen den Mordfällen und den Ereignissen im belgischen Dinant im August 14 zu sprechen. «Einzelheiten wird Ihnen Kriminalinspektor Stainer referieren», schloss er und nickte Stainer zu.
Der stand auf, trat an Sternbergs Schreibtisch und breitete den Inhalt seiner Aktentasche darauf aus. «Nach aktuellem Stand unserer Ermittlungen stehen ein Mordopfer und vier Tatverdächtige auf der Auslieferungsliste, die vonseiten der Entente an die Reichskanzlei übergeben wurde.» Etwas irritiert beäugte der Reichsanwalt seine Unterlagen. «Die Mordverdächtigen: Manfred Schulze, Wilhelm Körner, Joseph Tilger und Gregor Renkewiz.» Er schob Sternberg das Personendossier, das Junghans ihm angefertigt hatte, über die ganze Breite des Schreibtisches hinüber. «Das Mordopfer, Robert Murrmann, hat kurz vor seinem Tod begonnen, einen Brief an Sie zu schreiben. Seine Mörder haben ihn mitgenommen, doch wir konnten das unvollendete Schreiben sichtbar machen.» Er schob eine Abschrift von Murrmanns Selbstbezichtigung über den Schreibtisch.
Zum ersten Mal bewegte sich der Reichsanwalt: Er beugte sich über Dossier und Briefabschrift, betrachtete sie, nahm schließlich letztere in die Hand und las sie. Stainer suchte einige Blätter aus Baumanns Typoskript aus seinen Akten und wartete geduldig. Seine Gedanken kreisten um seine tote Frau und um Renkewiz. Außer kalten Hass fühlte er nichts mehr, seit er Edith auf Prollmanns Seziertisch zurückgelassen hatte.
Kubitz hatte zunächst darauf bestanden, allein mit Junghans ins Reichsgericht zu gehen. Er hatte Stainer einen freien Tag verordnet und ihn nach Hause schicken wollen. Stainer lehnte ab. «Ich arbeite, oder ich werde verrückt», hatte er gesagt. Die Wahrheit war: Er wollte Renkewiz und Tilger. Und er wollte sie
so schnell wie möglich. Wie er an sie herankam, war ihm egal, und was danach geschah, sowieso.
Der Reichsanwalt legte die Briefabschrift nieder und hob den Blick. «Ja?»
Stainer schob ihm den Tagesbericht der Reichswehr vom 23. August 1914 und das entsprechende Kapitel aus Baumanns Typoskript über den Schreibtisch. «Das Mordopfer Heinrich Baumann hat die Ereignisse in Dinant in einem Buch geschildert, zu dessen Veröffentlichung es nun nicht mehr kommen wird. Mich interessiert, was die Entente den Soldaten konkret vorwirft, die der Tagesbericht und Baumanns Typoskript namentlich nennen.»
«Das wird in einem Prozess mit einer möglichen Anklageschrift verlesen werden, sollte es zu einem solchen kommen», erklärte Sternberg. «Zum jetzigen Zeitpunkt erscheint es uns zu früh, uns über Vorwürfe gegen Beschuldigte zu äußern, deren Stellungnahmen uns noch nicht vorliegen.» Er redete, als würde er ein offizielles Schreiben vortragen, dass er auswendig gelernt hatte. «Weitere Fragen?»
«Hatte Baumann sich dem Reichsgericht über Dr. Weingarten als Zeuge für mögliche Prozesse gegen Kriegsverbrecher angeboten?»
«Ja.»
«Heinrich Baumann hatte sich in Dinant geweigert, Zivilisten zu exekutieren.» Es fiel Stainer schwer, nicht ständig die grüne Fliege des Männleins hinter der Schreibtischbarrikade anzustarren. «Das brachte ihm ein standrechtliches Todesurteil ein, unterzeichnet von einem Oberst Richard von Braun, der auch die Erschießungen angeordnet hat.» Er schob das Urteil und den Erschießungsbefehl über den Schreibtisch. «Das Mordopfer Murrmann hat Baumann kurz vor seiner Hinrichtung aus
der Arrestzelle befreit, wie wir inzwischen aus Baumanns Manuskript wissen. Oberst von Brauns Name steht nicht auf der Auslieferungsliste. Wir verdächtigen ihn, die erwähnten Morde befohlen zu haben. Ermitteln auch Sie gegen ihn? Kennen Sie möglicherweise sogar seine Adresse?»
«Nein.»
«Aber der Name ist Ihnen bekannt?» Der Reichsanwalt schüttelte den Kopf. Stainer musterte ihn stumm. Eine Zeitlang hielt Sternberg seinem Blick stand, bevor er ihn mit leicht hochgezogenen Brauen auf den Polizeidirektor richtete. Offenbar erwartete er, dass dieser das Schlusswort sprach.
«Dann zum Mordopfer Friedrich Jagoda.» Stainer zog das Tagebuch des Gymnasialprofessors aus den Akten, schlug es auf der Seite auf, wo Jagoda die Operation Judas
erwähnte, und schob es dem Reichsanwalt über den Schreibtisch. «Wenn Sie einen Blick hineinwerfen wollen. Jagoda, mit dem Sie übrigens heute exakt zu dieser Zeit für eine Anhörung verabredet waren, fühlte sich von einer Operation Judas
bedroht.» Endlich nahm Sternberg die Kladde auf und las. «Wir haben Grund zur Annahme, dass hinter diesem Namen nicht nur Jagodas Mörder, sondern auch die von Dr. Weingarten, Heinrich Baumann und Robert Murrmann stecken.»
Und Edith Stainer, ergänzte er in Gedanken.
Laut sagte er: «Zu wissen, in welcher Sache Sie Jagoda anhören wollten, würde uns in unseren Ermittlungen vermutlich einen Schritt voranbringen, einen entscheidenden Schritt.» An Stainer vorbei wechselte Sternberg einen Blick mit Kubitz. «Es ist gewiss auch in Ihrem Interesse, Dr. Weingartens Mörder der Justiz zuzuführen», fügte Stainer hinzu und glaubte zu spüren, wie Kubitz und Junghans hinter ihm den Atem anhielten.
Der Reichsanwalt beugte sich über Jagodas Tagebuch.
Stainer vermutete, dass er den konzentrierten Leser mimte, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. «Hier wird ein gewisser Hummels erwähnt.» Sternberg hob den Blick. «Nach meinen Informationen ist dieser Mann bereits des Mordes an Jagoda überführt.»
Um die Spannung nicht noch zu verschärfen, verzichtete Stainer auf die Frage, woher seine Informationen stammten; die Antwort lag sowieso auf der Hand. «Wir mussten die Ermittlungen neu aufnehmen. Der jetzige Stand ist der, dass wir den bereits erwähnten Wilhelm Körner verdächtigen, den Gymnasialprofessor ermordet zu haben. Körners Name steht auf der Auslieferungsliste. Wir nehmen an, dass er zu den Männern der Operation Judas
gehört.»
Ein paar Sekunden lang schaute der Reichsanwalt zu ihm hoch, dann griff er zum Hörer seines Fernsprechers und wählte eine kurze Nummer. «Bringen Sie mir die Akte Jagoda, Frau Bergen.» Er legte auf und begann, in Jagodas Tagebuch zu blättern.
«Mit welcher Art von Fällen war Herr Dr. Weingarten beschäftigt?», fragte Stainer.
«Diese Frage kann ich nicht ohne Rücksprache mit dem Oberreichsanwalt beantworten», sagte Sternberg, ohne seine Lektüre zu unterbrechen.
«Mit Fällen, die im Zusammenhang mit der Auslieferungsliste stehen?»
«Diese Frage kann ich nicht ohne Rücksprache mit dem Oberreichsanwalt beantworten.»
Irgendwo hinter Stainer öffnete sich eine Tür. Er drehte sich um und sah eine große schlanke Frau hereinkommen. Einen Wimpernschlag lang verharrte sie mitten im Schritt, als Stainers Blick sie traf. Er hielt den Atem an, denn er erkannte sie sofort.
Ihr Weg von der Tür bis zu Sternbergs Schreibtisch war so weit, dass er sie lange genug betrachten konnte, um jede Verwechslung auszuschließen: die kantige Miene, der herbe Zug um den Mund, das von silbrigen Fäden durchzogene und zu einem Dutt hochgebundene blauschwarze Haar – es war die Frau, die Stainer vor Körners Krankenzimmer und mit Renkewiz im Bonaparte
gesehen hatte.
Er stand noch wie vom Donner gerührt, da hatte sie längst wieder die Kanzlei verlassen. Seine Gedanken überschlugen sich, während Sternberg bereits in Jagodas Akte blätterte. «Löwen, 25. August 14, jetzt erinnere ich mich wieder.» Er lehnte sich zurück. «Friedrich Jagoda, damals noch Hauptmann, hatte seinerzeit bei seinem Kommandeur gegen die Niederbrennung von Löwen protestiert. Er wollte verhindern, dass die alte Universitätsbibliothek der Stadt vernichtet wird. So jedenfalls behauptet er in einem Schreiben vom zehnten März letzten Jahres.» Er nahm einen Briefbogen aus der Akte. «Darin beschuldigt er seinen Kommandeur der Barbarei und des Verbrechens gegen europäisches Kulturgut und stellt sich als Zeuge für einen eventuellen Prozess gegen ihn zur Verfügung.»
Aus Baumanns Unterlagen kannte Stainer den Namen des Kommandeurs. «In einem eventuellen Prozess gegen Oberst Richard von Braun?», fragte er dennoch.
«Da Jagoda tot und die Anzeige hinfällig ist, spielen Name und Rang des Offiziers keine Rolle mehr.»
Das war ungefähr die Antwort, die Stainer erwartet hatte. «Eine letzte Frage noch, Herr Reichsanwalt. Sind bei Ihnen bereits Personen aktenkundig, die Sie als Zeugen gegen mögliche Kriegsverbrecher vernehmen wollen? Ich spreche von den Männern auf der Auslieferungsliste.»
«Ja. Doch die gelten bei uns als streng geheim.»
«Wir wären dankbar, wenn Sie uns Namen nennen können, Herr Dr. Sternberg.» Zum ersten Mal ergriff Kubitz wieder das Wort. «Denn wir halten weitere Mordschläge der Operation Judas
für wahrscheinlich.»
«Ich werde mich in dieser Sache mit dem Oberreichsanwalt beraten und Sie zeitnah über Fernsprecher kontaktieren, Herr Polizeidirektor. Ich wünsche noch einen angenehmen Tag.»
«Ist dieser Dr. Sternberg zufällig mit Dr. Kasimir befreundet?», fragte Stainer Kubitz, als sie später den hell erleuchteten Reichsgerichtsplatz überquerten. Seine Beine waren bleischwer, das Innere seiner Brust fühlte sich an wie mit Glasscherben ausgefüllt und der Gedanke an Edith drohte, ihm Tränen in die Augen zu treiben.
«Weil er über Hummels Bescheid wusste?» Kubitz zuckte mit den Schultern. «Sie werden sich vermutlich hin und wieder im Neuen Theater über den Weg laufen. Oder auf Juristentagungen.»
Schweigend gingen sie die Wächterstraße hinunter. Von drei Kirchtürmen in der Stadt schlug es nacheinander halb acht. Stainer sprach nicht aus, was ihm sonst noch unter den Nägeln brannte. Er wollte warten, bis er mit Junghans allein war.
Vom Königsplatz her hörten sie Hufschlag, das Geknatter eines Kraftrades und das Rasseln des Automobilverkehrs. Irgendwo außerhalb ihres Blickfeldes kreischten die Bremsen einer Elektrischen. Ein Pulk meist junger Radfahrer kam ihnen entgegen. Studenten der Kunstakademie, vermutete Stainer, denn vielen ragten Bilderrollen aus den Rucksäcken, die sie sich auf den Rücken geschnallt hatten. Im Osten schoben sich graue Schlieren in den Nachthimmel über Leipzig. Wolken trieben an der Mondsichel vorbei.
Im Treppenhaus der Wächterburg versprach Kubitz, sich zu melden, sobald er die Namen von möglicherweise gefährdeten Zeugen aus dem Reichsgericht erfuhr. Er verabschiedete sich und nahm die Treppe ins zweite Obergeschoss. Stainer und Junghans gingen in die Kriminalabteilung.
Stainer war froh, Kubitz los zu sein. Es war nicht so, dass er dem Polizeidirektor misstraute, im Gegenteil. Nur schien Kubitz eher zur gesprächigen Sorte Mensch zu gehören, und Stainer hätte ihn schlecht bitten können, Kasimir den Auftrag zu verschweigen, den er Junghans nun erteilte.
«Ich habe einen geheimen Auftrag für Sie, Kollege Junghans.» Die Klinke schon in der Hand, verharrte er vor der Bürotür. Dort hing unter Heinzes und seinem Namen inzwischen ein Schild mit der Aufschrift Leutnant Siegfried Junghans, Kommissaranwärter
. «Haben Sie sich Sternbergs Sekretärin angeschaut?» Junghans nickte. «Am Freitag wollte sie Fliegerjacken-Körner in der Klinik besuchen. Sie hat ihn ihren ‹Freund› genannt. Und am Samstagabend habe ich sie mit Gregor Renkewiz in der Nachtbar von Rosa Sonntag gesehen.»
Junghans pfiff durch die Zähne. «Und im Reichsgericht hat sie Zugang zu geheimen Akten», sagte er kopfschüttelnd.
«Finden Sie so viel wie möglich über diese Frau heraus. Vor allem ihre Adresse und ihren Dienstschluss heute. Notfalls postieren sie einen Wachtmeister mit Fahrrad vor dem Reichsgericht, der sie beschattet, wenn sie das Gericht verlässt. Oder nein, erledigen Sie das selbst. Je weniger Kollegen eingeweiht sind, desto besser. Sobald die Frau zu Hause ist, geben Sie mir Bescheid. Dann kriegt sie Besuch von uns beiden.» Junghans nickte. «Und niemand außer Kupfer darf davon erfahren. Vor allem Heinze nicht.»
Die Tür von Kupfers Dienstzimmer wurde aufgestoßen. Der
Oberwachtmeister und zwei seiner Beamten stürmten heraus. «Was ist los, Kupfer?», rief Stainer.
Kupfer fuhr herum. «Sie? Hier?» Der Oberwachtmeister kam zu ihm und drückte ihm die Hand. «Mein herzliches Beileid, Herr Inspektor, doch Sie sollten heute wirklich nicht im Dienst sein.»
Auch die anderen Beamten kondolierten. «Danke. Wohin so eilig?»
«Im Ratsholz hat heute Nacht eine große Jagdhütte gebrannt», sagte Kupfer. «Die Feuerwehr hat verdächtige Gegenstände in der Brandruine gefunden.»