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D er Gesang der Nachtigall verstummte. Zwischen den kahlen Ästen der Bäume färbte der Himmel sich rot; die Sonne ging auf. Rosa lehnte an einer uralten Eiche und rauchte. Tatsächlich waren noch drei Zigaretten im Etui gewesen. Irgendwo jenseits des Waldes verlor sich das zischende Stampfen einer Lokomotive.
«Was für ein Tag ist heute, Albert?» Durch kahle Baumkronen blickte Rosa in den Sonnenaufgang; die verrußten Enden ihrer durchgebrannten Fesseln hingen aus den Ärmeln ihres Nerzes. «Samstag oder Sonntag?» Ihre Handgelenke waren wundgescheuert, der Gestank nach Urin und Schweiß stieg ihr in die Nase, sie war maßlos erschöpft, und ihre Füße in den Stöckelschuhen fühlten sich an wie Eisklötze. Und dennoch fühlte sie sich wie neugeboren – sie war den Mördern entkommen!
«Wie habe ich das nur geschafft, Albert?», flüsterte sie. «Ich komme mir vor wie in einem Traum.» Der Anblick der Morgensonne rührte sie zu Tränen. «Danke, Leben», schluchzte sie, «danke, danke, danke …»
Sie rauchte die Zigarette zu Ende, drückte sie in der Eichenrinde aus und ging ein paar Schritte weiter zu einem Flüsschen. Wenn sie recht hatte und dies die Mühlpleiße war, dann musste sie einfach nur flussaufwärts in den Sonnenaufgang laufen, um an den Südrand von Connewitz zu gelangen.
Während sie am Ufer entlangstelzte, durch altes Laub, welkes Gras und feuchtes Unterholz, stellte Rosa sich immer wieder dieselbe Frage: Warum hatten die Männer hinter der Holzwand nicht gehört, wie sie die knarzende Stalltür öffnete? Vielleicht haben sie den Mord an dem armen Inspektor gefeiert, dachte sie, vielleicht am Funkgerät mit dem Mann gesprochen, den sie den Oberst nannten.
Kaum ihrem Gefängnis entkommen, hatte sie ihre Stöckelschuhe in die Hand genommen und war in den nächtlichen Wald hineingerannt. Irgendwann hatte sie dann Rufe und Motorengebrumm gehört und sich umgedreht. Feuerschein hatte zwischen den Bäumen gelodert und Rauch war in den Nachthimmel gestiegen. Der Anblick hatte Rosa mit grimmiger Genugtuung erfüllt. Später bohrten sich Scheinwerferkegel durch den nächtlichen Wald, und sie musste sich zwischen alten Farn ins Vorjahreslaub werfen, wo sie auf das Morgengrauen wartete.
«Ich habe es geschafft, Albert, ich kann es nicht fassen.» Rosa blieb jetzt stehen und lauschte – von irgendwoher läutete eine Glocke. Sie zählte die Schläge mit – acht Uhr. Nicht weit entfernt knatterte ein Motor. Sie folgte dem Geräusch und gelangte auf eine kleine Straße und über sie auf eine größere. Zwei Fuhrwerke rollten vorüber, Fahrradfahrer kamen ihr entgegen und begafften sie, eine Elektrische fuhr an ihr vorbei, die Linie 10. Connewitz/Eiskeller las sie auf dem Schild unter der Linienziffer.
Obwohl Rosa noch nicht oft in dieser Gegend gewesen war, riet ihr eine Eingebung, dem Wagenzug zu folgen. Als sie dann noch ein Straßenschild entdeckte – Coburger Straße  –, wusste sie, dass die Endhaltestelle nicht mehr weit sein konnte, denn die Coburger war der vorletzte Straßenabschnitt zwischen Königsplatz und dem südlichen Stadtrand.
Sie überquerte die Fahrbahn, und tatsächlich entdeckte sie die beiden Wagen der Elektrischen in einer abzweigenden Straße. Drei Frauen standen davor und plauderten. Rosa lief schneller. Zitterte sie vor Kälte oder vor Freude? Sie wusste es selbst nicht.
Die Frauen trugen Uniformen der Großen Leipziger Straßenbahn. Eine schenkte den anderen Kaffee aus einer flaschenartigen Kanne ein. Als sie die heranstöckelnde Rosa sahen, unterbrachen sie ihr Gespräch und schauten ihr entgegen.
«Hallo!» Rosa wusste selbst nicht, warum sie winkte wie eine Verrückte. «Können Sie mich vielleicht ein Stück mitnehmen? Ich muss unbedingt zur Polizei.» Die Frauen musterten sie von oben bis unten, und Rosa machte sich klar, dass ihre Schuhe schmutzig, ihr Nerz voller Laub und Stroh und ihr Gesicht von Josephs Schlägen geschwollen war. Die beiden Frauen mit den Bechern rümpften die Nase und wichen zurück.
«Wie sehen Sie denn aus?» Die mit der Isolierkanne reichte ihr den vollen Becher. Sie war recht zierlich, hatte schwarze Haare, und warme braune Augen leuchteten in ihrem schmalen Gesicht.
«Man hat mich entführt, ich war gefangen.» Rosa kramte ihr Zigarettenetui aus dem Mantel. «Ich habe kein Geld dabei. Nehmen sie auch dieses Etui? Schlangenleder mit Silberfassung. Oder warten Sie.» Sie knöpfte ihren Nerz auf. «Nehmen Sie meinen Pelzmantel als Pfand, ich muss unbedingt zur Polizei.»
«Das glaubst du doch im Leben nicht, dass die kein Geld dabeihat, Fine», flüsterte eine der Schaffnerinnen. «Guck dir doch den Nerz an!»
Die mit den warmen Augen reichte Rosa ihren vollen Kaffeebecher. «Sie sehen ja zum Erbarmen aus, trinken Sie erst einmal einen heißen Kaffee.»
Rosa nahm den Becher. Weil ihre Hand zitterte, half ihr die Frau, den Becher zum Mund zu führen. «Das werde ich Ihnen nicht vergessen», flüsterte Rosa, während sie den heißen Kaffee schlürfte. «Das werde ich Ihnen niemals vergessen.» Tränen strömten ihr auf einmal übers Gesicht.
«Reden Sie nicht so viel, junge Frau, trinken Sie. Sie sehen aus, als könnten Sie eine Zigarette vertragen.» Weil Rosa so sehr zitterte, dass sie den Kaffee verschüttete, zündete ihr die Frau eine Zigarette an und steckte sie ihr in den Mund.
Die anderen überwanden ihr Misstrauen nach und nach und führten sie schließlich zum Trittbrett, damit sie sich setzen konnte. Dort rauchte Rosa ihre Zigarette und trank ihren Kaffee. «Wir klingeln an einem Haus und fragen nach einem Fernsprecher, Fine», schlug eine Schaffnerin vor. «Dann können wir die Polizei anrufen. Was hältst du davon?»
«Wir nehmen sie lieber mit bis zum Königsplatz und bringen sie in die Wächterburg», antwortete die namens Fine.
Rosa war alles recht – aus irgendeinem Grund empfand sie grenzenloses Vertrauen gegenüber dieser Frau.
Fine entpuppte sich als die Fahrerin der Elektrischen, und als sie den Triebwagen anrollen ließ, hockte Rosa auf der Bank hinter ihr. Sie zitterte, lächelte vor sich hin, bedankte sich alle zwei Minuten, weinte und lächelte wieder.
Die Fahrerin drehte sich um. «Die arme Frau hier steht unter Schock!», rief sie in die Straßenbahn hinein. «Haben wir denn heute keinen Arzt an Bord?» An der nächsten Haltestelle stieg ein Medizinstudent aus dem Anhänger in den Triebwagen um. Der setzte sich neben Rosa, fühlte ihren Puls, redete beruhigend auf sie ein. Rosa kam sich vor wie eine Geisteskranke.
Am Königsplatz übernahm eine der beiden Schaffnerinnen den Platz im Fahrerstand. Fine und der Medizinstudent halfen Rosa aus der Bank und vom Trittbrett und führten sie hinüber zur Wächterburg.
An der Pförtnerloge redete Fine auf einen Wachtmeister ein, Rosa verstand kaum ein Wort. Daraufhin telefonierte der Beamte, und die Straßenbahnfahrerin gab ihr eine brennende Zigarette. Rosa bedankte sich überschwänglich. «Ich heiße Rosa», sagte sie zu ihr. «Ich müsste eigentlich tot sein, wissen Sie, Fine?»
«Dann danken Sie Gott», antwortete Fine, «denn tot sein hat sich schnell in diesen Zeiten. Ich weiß, wovon ich rede, Rosa, glauben Sie mir. Kennen Sie die Losung des heutigen Tages?»
«Losung?» Rosa begriff nicht.
«‹Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Schönheit ist wie die Blume auf dem Felde›», erklärte die Straßenbahnschaffnerin mit feierlichem Ernst, und Rosa dämmerte es, dass sie die Bibel zitierte. «‹Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich.›»
«Alles Fleisch ist Gras.» Rosa starrte die andere an, wiederholte murmelnd, was sie da gerade gehört hatte und spürte den Worten nach. «Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt …»
Ein Flügel der Eingangstür wurde geöffnet, ein Wachtmeister und ein hochgewachsener Mann mit weißem Haar kamen heraus.
Rosa traute ihren Augen nicht. «Herr Inspektor …»
Er sah aus wie der Tod, aber er lebte. Sie warf sich an seine Brust, weinte laut und klammerte sich an ihn wie eine Ertrinkende an einen Rettungsring.