Epilog
N
ach der Beerdigung schob er seinen Vater zu einer Kutsche mit vier Pferden, die vor dem Friedhof wartete. Schon seit die ersten Kraftwagen durch Leipzig rollten, weigerte der Alte sich standhaft, in einem zu fahren. Stainer packte ihn auf die Rückbank neben seine Mutter, während Kupfer und Junghans den Rollstuhl auf der kleinen Ladefläche befestigten.
Ediths Eltern verabschieden sich mit knappen Worten. Stainers Schwiegereltern waren nicht gut auf ihn zu sprechen – vielleicht, weil er sich weigerte, am sogenannten Trauerschmaus teilzunehmen, vielleicht, weil inzwischen zu ihnen durchgedrungen war, dass ihre Tochter, wenn man es genau nahm, seinem Beruf zum Opfer gefallen war.
Der Kutscher ließ die Peitsche knallen, die Pferde zogen an, und die Kutsche rollte davon. Stainer winkte.
«Trauerschmaus», sagte er halb zu sich selbst halb zu Junghans und Kupfer. «Keine Ahnung, was es da zu schmausen gibt.» Er holte das Zigarettenetui aus der Manteltasche. «Außerdem würde ich sowie nichts herunterbringen.»
Kupfer, im schwarzen Mantel über schwarzem Anzug und mit Zylinder, senkte betreten den Blick. Junghans entdeckte Bekannte am Tor des Neuen Johannisfriedhofs, winkte und ging zu ihnen.
«Ich schlage vor, wir schauen noch kurz in der Wächterburg vorbei und gehen dann auf zwei, drei Biere ins Zillertal
», sagte Stainer.
«Was wollen Sie denn in der Wächterburg, Herr Inspektor?»
«Einen Anruf erledigen, der mir seit zwei Wochen unter den Nägeln brennt.»
«Ich muss nach Hause.» Kupfer drückte ihm die Hand. «Vielleicht stoße ich später im Zillertal
zu Ihnen.»
«Ich spendiere Ihnen einen sächsischen Wildschweinbraten, lassen Sie sich den um Gottes willen nicht entgehen, Kupfer.» Der Oberwachtmeister nickte und machte sich auf den Weg zur Haltestelle.
Stainer drehte sich nach Junghans um – und traute seinen Augen nicht: Sein Assistent hielt eine junge Frau an der Hand und sprach mit ihr. Die Dame trug Schwarz. Genau wie die drei Knaben und die Frau neben ihr. Erst auf den zweiten Blick erkannte Stainer die Straßenbahnfahrerin. «Die Familie König auf dem Friedhof?» Im schwante Böses. Rauchend ging er zu der Trauergesellschaft.
Josephine König kam ihm entgegen, eine Zigarette in der Rechten. «Mein herzliches Beileid, Herr Inspektor!» Sie schloss ihn in die Arme – so völlig ohne Vorwarnung, dass Stainer sich nicht dagegen wehren konnte. «Siggi hat mir erzählt, was geschehen ist.» Sie schob ihn von sich, schaute ihm in die Augen und schüttelte den Kopf. «Wie furchtbar!» Stainer, dessen Kehle auf einmal wie zugeschnürt war, brachte kein Wort heraus.
«Wir haben meinen Mann Sigurd beerdigt», erzählte Josephine König. «Die Reichswehr hat den Platz bei Verdun ausfindig gemacht, wo er mit Zehntausenden anderen verscharrt lag. Meine Schwiegereltern sind gestern aus Frankreich zurückgekehrt und haben mitgebracht, was von ihm übriggeblieben ist.» Sie wischte sich eine Träne von der Backe. «Damit die Kinder vor einem ordentlichen Grab an ihren Vater denken können.»
«Tut mir leid.» Stainer trat seine Zigarette aus. «Und jetzt geht’s zum Trauerschmaus?»
Sie schüttelte den Kopf. «Meinen Schwiegereltern ist nicht danach und mir fehlt das Geld für so was.»
Stainer sah zu Junghans und dem Mädchen hin. Die beiden steckten die Köpfe zusammen und wirkten seltsam vertraut. Die drei Jungens standen etwas verloren ein wenig abseits.
«Ich lade Sie ein, Fine. Kommen Sie in etwa einer Stunde ins Zillertal
im Preußergäßchen. Es gibt sächsischen Wildschweinbraten.»
«Das kann ich nicht annehmen!» Sie machte große Augen.
«Ich weiß, was Sie alles können, Fine. Sie kommen in einer Stunde mit Ihrer ganzen Bande ins Zillertal
, oder der Teufel soll Sie holen.» Ein Grinsen gelang ihm, dann wandte er sich ab und ging zum Dux. Den hatte er sich zur Feier des Tages beim Polizeiamt ausgeliehen.
Junghans stieg zu ihm auf den Beifahrersitz. Stainer räusperte sich. «Die Mutter Ihrer Flamme hat mir erzählt, warum Sie hier sind.» Stainer fuhr zur Russischen Kapelle und bog in die Windmühlenstraße ab. «Unter Zehntausenden Gefallenen einen einzelnen Soldaten finden und ausgraben – wie geht das, Herr Kollege?»
«Die Franzosen haben die Bajonette oder Säbel der Gefallenen an der Stelle in die Erde gerammt, wo sie einen begraben haben.» Junghans wusste mal wieder Bescheid. «An denen haben sie die Blechmarken der Toten aufgehängt. Irgendwer wird wohl eine Art Landkarte des Todes gedruckt haben.» Sein Assistent zuckte mit den Schultern. «Vielleicht das französische Rote Kreuz. Man muss natürlich einen Sarg mitbringen, damit sie die Gebeine ausbuddeln.»
«Und was lassen die Franzmänner sich für so eine Dienstleistung bezahlen?»
«Fines Schwiegereltern mussten ein großes Waldstück
verkaufen, um die Reise, die Bergung und den Transport der Leiche zu bezahlen.»
In der Wächterburg später goss Junghans den Gummibaum und Stainer wählte die 90, um in der Fernsprechzentrale des Neuen Rathauses ein Ferngespräch nach Dinant anzumelden. Boris Leclerc war sofort in der Leitung.
Stainer erzählte ihm, dass der Oberst, der den Befehl zur Erschießung seiner Schwester gegeben hatte, in Untersuchungshaft saß und man ihn vor Gericht stellen würde. Auch dass der Offizier tot war, der die Erschießung kommandiert hatte, erzählte er ihm. Leclerc machte nicht viele Worte. Er berichtete, dass der Sohn seiner Schwester im Kirchenchor sang, wie sie früher, und dass er nach Lüttich gehen würde, um Musik zu studieren. Wie seine Mutter. Dann bedankte er sich und legte auf.
Stainer stand auf, ging zum Fenster und schaute auf den Peterssteinweg hinunter. Eine Zeitlang stand er so und dachte an Edith. Schließlich zog er sein Taschentuch aus der Hose und trocknete seine nassen Augen. Dann drehte er sich um und schaute zu, wie Junghans ein paar verwelkte Blätter vom Gummibaum zupfte. Einige gelbe Blätter färbten sich tatsächlich wieder grün, und einige neue sprossen auch schon.
«Sie müssen jetzt gleich einen sächsischen Wildschweinbraten essen, Junghans. Doch vorher hören Sie mir bitte zu.» Er ging zum Gummibaum. Junghans runzelte die Brauen.
«Wenn Sie am Montag im Wald nicht so laut geschrien hätten, wären Sie heute auf einer Doppelbeerdigung gewesen.»
«Ja, das war ziemlich knapp, Herr Kriminalinspektor.»
«Zum Glück, denn sonst könnte ich dir jetzt nicht sagen, dass ich dich verdammt gut finde. Du nennst mich also in
Zukunft Paul, hast du das verstanden, Siggi? Einfach nur Paul. Und vor allem pass ein bisschen besser auf dich auf, als ich auf mich aufzupassen pflege. Es gibt nämlich nicht viele wirklich gute Leute bei der Polizei, und ich brauche einen wie dich an meiner Seite. Verstanden?»
Erst fiel dem Jüngeren die Kinnlade herunter, und dann konnte Stainer beobachten, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg.
«Jawohl, Herr Kriminalinspektor …» Erschrocken hielt er inne, grinste verlegen und versuchte es dann noch einmal: «Verstanden, Paul.»