Von diesem Tag an verwandelte sich jede bekannte Situation in eine völlig neue Erfahrung.
Sobald ich das Haus verließ, fuhr ein Auto vor. Als es das erste Mal passierte, erschrak ich noch über das schnell heranfahrende Auto in unserer sonst so ruhigen Straße. Aufgeregt öffnete ich die Beifahrertür. Der Mann am Steuer des schwarzen BMWs stellte sich mir vor: »Moin, Johann, ich bin Herr Schmitt. Nicht etwa Schmitts, wie manche denken.« Damit überreichte er mir eine Visitenkarte, auf der »Schmitts Sicherheit« stand. »Die Leute rufen mich immer an und begrüßen mich mit ›Hallo, Herr Schmitts‹, weil die nicht verstehen, dass der deutsche Genitiv keinen Apostroph hat. Die denken, ich heiße Schmitts. Dann erkläre ich denen immer ganz geduldig, dass Schmitts Sicherheit die Kurzform ist für Schmitt seine Sicherheit. Dann fällt der Groschen.« Ich blickte auf die Karte. Meine Aufregung war verflogen. Schmitt fuhr fort: »Kannst auch Holger sagen.«
»Guten Morgen, Herr Schmitts«, sagte ich und grinste ihn an. Ich wusste nicht, was ich mit der Karte machen sollte. Ich war vierzehn Jahre alt und hielt das erste Mal eine Visitenkarte in der Hand. Ich stellte mir vor, wie Schmitt in einem dunklen Büro für Privatdetektive sitzt und Anrufe entgegennimmt. »Schmitt seine Sicherheit« steht auf der Milchglasscheibe seiner Bürotür.
Ich reichte ihm die Visitenkarte unsicher zurück, er nahm sie und steckte sie wieder in sein Portemonnaie. »Das ist meine alte Firma. Ich arbeite jetzt ja für eure.« Ich erinnerte mich dunkel an eines der Fotos, das Jürgens uns gezeigt hatte. Schmitt. Selbstständig im Sicherheitsgewerbe. Ja, da war doch was. Aber ging es hier nicht um unsere Sicherheit und nicht um Schmitt seine? Ich war verwirrt.
Wenn ich mich nachmittags mit Freunden traf, gab ich vorher an, wo das passieren würde, und verbrachte die Zeit vorwiegend damit, mich regelmäßig umzuschauen, ob die Personenschützer nicht zu auffällig irgendwo rumstanden und meine Freunde mitbekamen, dass nun auf mich aufgepasst werden musste. Wir wollten möglichst wenig mit unseren Eltern zu tun haben, obwohl wir alle noch zu Hause wohnten. Und sowenig die Personenschützer meine Eltern waren, so sehr waren sie Erwachsene. Überall, sei es im Kino, im Block House am Othmarschener Bahnhof, wo wir uns nach der Schule regelmäßig Pommes und Knoblauchbrot holten, im Park oder nachts in den Straßen von Klein Flottbek, an all den Orten, an denen wir waren, weil unsere Eltern dort nicht waren, waren nun wieder Erwachsene bei mir. Superuncool.
Ich beschloss, es erst mal nicht anzusprechen. Es war mir unangenehm. Keiner von uns kam aus irgendwie prekären Familienverhältnissen. Wir wohnten mehr oder weniger in Hamburgs reicherem Westen. Trotzdem wurde Lenny regelmäßig von uns aufgezogen, weil er als Einziger in unserer Band Seglerschuhe trug. Es gab auf unserer Schule diese Gruppe von Jungs und vereinzelt auch ein paar Mädchen, die in einer Art Uniform von kurzer blauer Polohose, roséfarbenem Poloshirt und Seglerschuhen ohne Socken auftraten. Und zwar so ziemlich zu jeder Jahreszeit. Sie spielten Polo, so wie Lenny auch, und segelten vermutlich. Ich wusste es nicht, weil ich nur an Lennys Schlagzeugspiel interessiert war. Das war erstaunlicherweise ganz phänomenal. Lennys Vorbild war Dave Lombardo, der Drummer von Slayer. Er hatte sich sogar eine Doppelfußmaschine für sein Drumset gekauft, um extra schnelle Doublebass-Figuren spielen zu können. Die passten zwar nicht zu unserem Stil, machten aber trotzdem ziemlichen Eindruck im Proberaum. Er gehörte nicht zu den Trommlern, die ständig mit ihren Fingern irgendwo drauftippten und mit diesen angedeuteten komplizierten Rhythmen alle in den Wahnsinn trieben. Er war eher ruhig, und ich hatte ihn im Verdacht, dass sein eigentliches Hobby das Polospielen war. Dennis und Daniel spielten ihre Instrumente – Dennis Bass und Daniel Gitarre – beide länger und besser als ich. Dennis machte zu Hause laut Eigenaussage nichts anderes als Daddeln und Zocken. Was so viel hieß wie Videospiele und Bass spielen. Ich war also der schlechteste Musiker unserer Band, was bei Proben sehr stressig wurde. Ich verbrachte viel Zeit damit, meinen Verstärker einzustellen, weil er nicht so klingen wollte, wie ich es mir vorstellte, und weil ich versuchte, von meiner Unzulänglichkeit abzulenken. Noch dazu hatte ich die Befürchtung, dass der einzige Grund, warum sie mich nicht rauswarfen, der war, dass sie nach dieser ganzen Entführungsgeschichte schlicht Mitleid mit mir hatten. Entsprechend souverän versuchte ich mich täglich zu geben. Ich traute mich auch nicht, über Lennys Seglerschuhe zu lachen, hatte ich doch das Gefühl, dass ich selbst viel mehr Angriffsfläche bot als irgendwelche geschmacklosen Schuhe. Immerhin erledigten Dennis und Daniel das für mich, und ich fummelte einfach endlos an meinem neuen Marshall JTM 60 Röhren-Combo-Amp herum.
»Digga, lass mal spielen. Hast du’s gleich mal?«
»Yo, gleich. Vielleicht brauch ich auch ’n anderes Kabel.«
»Was du brauchst, ist ’ne andere Technik. Die gibt’s nicht im Laden.«
»Ach, halt’s Maul und spiel!«
Nach den Bandproben gingen wir meistens noch rüber ins Block House. Wir bestellten immer ein paar Block-House-Brote und viel Sour Creme zum Mitnehmen und aßen sie auf irgendeinem Mauervorsprung. Doch die Unbeschwertheit meiner Freunde fühlte ich nur oberflächlich. Ich alberte mit und suchte gleichzeitig mit den Augen die Männer, die irgendwo in unserer Nähe herumliefen und uns beobachteten. Sobald wir aus dem Keller von Lennys Eltern ans Tageslicht kamen, schrieb ich schnell eine SMS. Manchmal gab ich vor, noch pinkeln zu müssen, um das heimlich auf der Toilette zu machen, manchmal ging ich einfach als Letzter aus dem Haus. »Gehen zum Block House.«
Immer bevor ich das Haus verließ, musste ich eine SMS schreiben, dass ich gleich das Haus verlassen würde. Nach einigen Wochen wurde ich gebeten, den Personenschützern doch bitte mindestens drei Minuten Zeit zu lassen, bevor ich die Tür öffnete. Diese Zeit bräuchten sie, um sich vorzubereiten und den Weg von der Zentrale bis zu unserer Haustür zu schaffen. Wenn meine Eltern mich mal wieder zwingen wollten, mit unseren Hunden spazieren zu gehen, und ich nach zähen Verhandlungen nachgegeben hatte, zückte ich mein Telefon und schrieb eine SMS oder rief, wenn mir das zu umständlich war, einfach kurz drüben an. »Zentrale, hallo?« – »Moin. Ich geh mal mit den Hunden raus.« Dann wartete ich. Irgendwann fingen die Hunde an, jaulend und japsend vor Vorfreude an mir raufzuspringen, sobald ich nur den Hörer vom Telefon anhob oder mein Handy zückte. Diese Pfoten-auf-Parkett-klackernde Nerverei ließ die drei Minuten wie eine Unendlichkeit wirken. Jeder Vorgang meines neuen Lebens, jede Idee musste nun vorbereitet, mitgeteilt und gemeinsam erlebt werden. Meine gerade aufkeimende Freiheit als vierzehnjähriger Jugendlicher fühlte sich erdrückend an. Jeder Hundespaziergang, jeder Nachmittag mit meinen Freunden war eine Aufgabe mit Anleitung. Und dieses neue Leben beängstigte mich. Sollte ich mich nicht eigentlich sicher fühlen? Dass ich überhaupt ein bewusstes Gefühl zu meinem Leben hatte, nervte mich. Meine Freunde waren alle so wahnsinnig gedankenlos und übermütig, dass ich mir immer vorkam wie der Bedenkenträger. Gleichzeitig versuchte ich in der Art und Weise, wie ich mich ihnen gegenüber verhielt, besonders krass zu sein, um sie meine innere Verkrampftheit bloß nicht spüren zu lassen.
Die Kellner und Kellnerinnen im Block House waren oft extrem genervt von uns. Nie setzten wir uns rein, immer wollten wir irgendwelche Extrawünsche, und jedes Mal sammelten wir all unser Kleingeld zusammen, bis es genug war für die gewünschte Mahlzeit oder zumindest einen Kompromiss. Allerdings wollte ab und zu einer von uns doch nur sein eigenes Essen bezahlen, und somit musste die Bedienung diverse Miniaturrechnungen ausstellen, während wir ihr die Mark- und Pfennigmünzen in die Hand rieseln ließen. Draußen vor der Tür schmissen wir dann gern mal die Überreste hinter die Hecke und rannten weg. Ab und zu schrie uns jemand vom Personal hinterher, und wenn wir Pech hatten, schimpfte bei unserem nächsten Besuch jemand mit uns. Wir ließen uns nicht beirren und fragten sogar dreimal nach einer weiteren Extraportion Eis für unsere Apfelschorle.
Sichtlich genervt machte uns einmal ein älterer Gast im Block House an: »Ihr Bengel habt wohl keine Erziehung genossen. Wenn ich euch das nächste Mal mit euren Eltern hier sehe, dann könnt ihr aber was erleben.«
Wir grinsten ihn nur an. »Oooohhhhhh«, sagte Daniel und tat so, als ob er sich alle Fingernägel gleichzeitig abkaute.
»Pass bloß auf!«, schrie der Alte, »so einer wie du wär früher ins Umerziehungslager gekommen!«
»Uuuhhh.« Daniel wackelte mit den Händen, als würde er vor Angst zittern. »Komm, Digga«, sagte Dennis, »lass mal abhauen. Der Nazi soll mal chillen.« Aufgekratzt verließen wir mit einem Becher Eiswürfel das Restaurant. Lenny war nicht dabei, weil er noch Hockey oder Polo oder irgendwas spielen wollte. »Alter, voll der Nazi!«, rief ich Daniel und Dennis zu.
»Ja, echt ey. Voll krass.«
»Ey«, sagte ich, »ich hab ’ne Idee.« Wir liefen um die nächste Ecke, und ich bedeutete Daniel und Dennis, sich mit mir hinter einer Hecke zu verstecken. »Gib mal deine Apfelschorle«, sagte ich zu Dennis.
»Digga – meine Apfelschorle? Bist du behindert? Die hab ich extra für mich gekauft.«
»Alter, trink sie halt aus. Ich brauch nur den Becher.« Dennis sah mich an. »Ex mal«, forderte ich ihn auf.
»Ex ex ex!«, stimmte Daniel an. Dennis ließ sich nicht lange bitten und trank die Schorle in wenigen Schlucken aus.
»Dreht euch mal um.« Dann nahm ich den Becher, öffnete meinen Hosenstall und pinkelte ihn bis drei Finger breit unter den Rand voll. »Gib mal die Eiswürfel.« Ich füllte die Eiswürfel in den Becher und wartete, bis er abgekühlt war. Der gelbe Urin mit dem weißen Schaum sah ziemlich genau aus wie das Getränk, das Dennis gerade geext hatte. »Lass mal zurück.«
Dennis und Daniel grinsten mich an. »Auf jeden, Digga!«
Als wir wenige Minuten später beim Block House ankamen, saß der ältere Herr immer noch in Begleitung einer Frau direkt am Eingang des Restaurants. Wir atmeten kurz durch, dann gingen wir rein.
»Entschuldigung«, sagte Daniel und tippte dem Mann auf die Schulter.
»Mein Freund wollte sich bei Ihnen entschuldigen«, ergänzte ich, ohne dass wir uns vorher abgesprochen hatten.
»Ja, es tut mir leid, dass ich vorhin so laut und ungezogen war, und deshalb«, jetzt stellte ich dem Mann den Becher neben seinen Teller, »möchte ich Ihnen als Wiedergutmachung meine Apfelschorle schenken. Ich habe auch noch nichts davon getrunken.«
Das stimmte sogar, denn Dennis war es ja, der alles geext hatte. Wir konnten uns kaum noch zusammenreißen.
Der ältere Mann schaute uns skeptisch an, aber die Frau legte ihre Hand auf seine. »Komm, Harald, sag was Nettes.«
»Ja, sagen Sie bitte was Nettes«, überspannte ich vorsichtig den Bogen. Harald wusste nicht so recht, wie ihm geschah, und so langsam kriegte ich Angst. Ich hatte den Plan nicht zu Ende gedacht und wollte nicht unbedingt dabei sein, wenn Harald den ersten Schluck nahm.
»Jetzt sag schon was Nettes, Digga!«, rief auf einmal Dennis, der etwas abseits stand, und rannte dann weg. Daniel und ich sahen uns an.
»Egal. Guten Appetit noch«, sagte Daniel und drehte sich um. Er zog mich am Ärmel, und ich bewegte mich auch gen Ausgang.
»Warten Sie nicht so lange mit dem Trinken«, sagte ich, »sonst wird der Apfelsaft warm.«
»Wieder!«, ergänzte Daniel noch, und wir rannten beide prustend bis in den nahe gelegenen Park und schmissen uns dort auf die Wiese.
»Digga, was für ’ne heftige Aktion«, keuchte Dennis.
»Geschieht ihm doch recht, dem Nazi«, prustete ich. Dann erinnerte ich mich, dass ich gar nicht mehr auf mein Handy geschaut hatte. Heimlich fummelte ich es aus der Tasche. Eine neue Nachricht. Ich öffnete sie. »Alles klar. Sehen euch schon. Bleiben in der Nähe.«