7.

Ich hatte schon einige Zeit aus dem Fenster gesehen, bevor ich das Haus durchquerte. Morgens lag das Grundstück für einige Stunden im Nebel. Es war mir zu kalt, um schwimmen zu gehen, meine Eltern schliefen noch, und ich hatte keine Ahnung, was ich mit mir anfangen sollte. Ich ging in mein Spielzimmer, stellte die Zinnsoldaten in eine andere Reihenfolge und stupste die Ninja Turtles mit dem nackten Fuß in eine Pfütze Slimey, das ich als radioaktives Ooze verwendete – die Flüssigkeit, die die Schildkröten in Teenage Mutant Ninja Turtles verwandelt hatte. Der Versuch, meine Akustikgitarre zu stimmen, scheiterte, da sie sich über Nacht durch den Wechsel von trockener Wärme zu nebelfeuchter Kühle nicht nur verstimmt, sondern ganz und gar verzogen hatte. Der Hals hatte sich so ungesund verbogen, dass ich die Saiten gar nicht mehr richtig aufs Griffbrett drücken konnte. Ich presste mit all meiner Kraft die Kupfer umwickelten Drähte in Höhe des fünften Bundes, nah an dem Bundstäbchen, auf das dunkle Holz, doch als ich sie anschlug, ließen Klangkörper und Hals nur ein röchelndes Schnarren vernehmen. Am Boden zerstört, lehnte ich das fragile Holzinstrument wieder an die Heizung und ging ins Badezimmer. Ich würde eine neue besorgen müssen. Doch wie? Deprimiert rieb ich mir die schmerzenden Fingerspitzen. Mir fehlte die Kraft. Stattdessen fühlte ich mich ausgelaugt und schlapp. Meine Idee, diese Sommerferien in ein Songwriter-Camp zu transformieren, rückte in unerreichbare Ferne. Ich stellte mir Lenny, Dennis und Daniel vor, wie sie jeden Ferientag zum Üben nutzten, und mich, wie ich hier in unproduktiver Langeweile verging.

Aus alter Gewohnheit machte ich ein paar Sit-ups, wie in den frustrierend zähen Tagen der Entführung. Ich klemmte die Beine unter den Abfluss des Bidets und versuchte, mich hochzukrampfen. Ich bildete mir ein, dass ich durch die Schmerzen besonders gestählt aus diesen Trainingseinheiten herauskommen würde. Wie ein Ninja, der an einer Holzpuppe trainiert. Doch schnell taten mein Rücken und kurz darauf meine Schienbeine so extrem weh, dass ich es bleiben ließ. Der Gedanke an die harten Männer, gegen die ich mit meinem schlaffen Körper nichts ausrichten konnte, demotivierte mich. Ich putzte mir die Zähne und zog mich an.

Dann tigerte ich an den Fenstern zum Hof vorbei. Hinter dem Glas war schon Hochbetrieb. Die Fenster, deren Scheiben durch dünne Sprossen geteilt waren, erinnerten an vergitterte Zellen, die ich aus Filmen kannte. Ich dachte darüber nach, ob mein Vater wohl den Anruf getätigt hatte, den er tags zuvor so wütend angedroht hatte. Ich zweifelte stark daran. Mein Vater hasste es zu telefonieren. Wenn er jemandem etwas mitzuteilen hatte, schrieb er einen Brief. Wenn jemand bei uns zu Hause anrief, einer meiner Freunde zum Beispiel, schlimmstenfalls zur Mittags- oder Abendbrotzeit, schaute mein Vater erst auf das Telefon, das in der Ecke des Wohnzimmers auf einem Tischchen stand und klingelte, und dann mich und meine Mutter an, als wäre das Klingeln das widerlichste Geräusch, das er jemals gehört hatte. Es schien für ihn auf unerklärliche Art und Weise in unser Leben eingedrungen und dies allein unsere Schuld zu sein. Nicht nur das Klingeln, nein, der ganze Apparat schien in ihm eine Abscheu hervorzurufen, die ihn das Gesicht verziehen ließ, sobald er einen Telefonhörer nur in der Hand hielt. Ihn ans Ohr zu halten schien ihm gar körperliche Schmerzen zu bereiten, die er nur dadurch lindern konnte, dass er möglichst einsilbig und tendenziell unfreundlich sprach, um das grässliche Gespräch auf ein Minimum an Informationsaustausch zu beschränken. Angewidert reichte er meist den Hörer an meine Mutter weiter, immer noch mit einem Gesichtsausdruck, als machte er sie persönlich für diese Erfindung verantwortlich. Doch meine Mutter begegnete jedem sich anbahnenden Konflikt mit einer unumstößlichen Ruhe, die zumindest mich beruhigte. Wie es um das Verhältnis meiner Eltern bestellt war, interessierte mich nicht wirklich. Sie schienen gut miteinander zu funktionieren. Als wäre niemals etwas aus dem Tritt geraten. Die Launen meines Vaters waren vielleicht noch ein wenig unberechenbarer als früher geworden, dafür war die Art meiner Mutter, diese abzupuffern, ebenso verlässlich wie immer.

»Was für ein widerliches Scheißgeräusch«, brach es aus meinem Vater heraus.

»So viele Emotionen«, schmunzelte meine Mutter erst mich und dann ihn an. »Und das einem Telefon gegenüber. Das Gegenteil von Liebe ist ja nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit. Das Ding freut sich bestimmt über deine Gefühlsregung.«

Ein Schmunzeln huschte über das Gesicht meines Vaters. Es beruhigte mich, dass diese Art der ironischen Kommunikation noch immer ganz gut funktionierte.

Mein Vater schaffte es manchmal sogar, den Hörer abzuheben, ihn sich ans Ohr zu halten und für eine halbe Ewigkeit nichts zu sagen, um ihn dann achselzuckend an mich weiterzugeben. Immerhin schien er die Technik noch mehr zu verachten als die meisten Menschen. Das Schlimmste, so ließ er es deutlich werden, waren Menschen, die sich für Technik interessierten.

Und nun war mein Vater seit der Entführung täglich von Männern umgeben, deren Jobbeschreibung, deren gesamte Lebensauffassung irgendwie technisch war. Alles, was natürlich gewesen war, wurde technisch. Die Spaziergänge und Unterhaltungen. Die Autofahrten und Urlaubsplanungen. Wo vorher ein ruhiger Garten gewesen war, standen jetzt Kameras und Zäune, die Geräusche machten. Der verwilderte Hang war einem Carport gewichen. Früher hatte mein Vater auf dem Fahrersitz gesessen und während der Fahrt Hörbücher gehört, jetzt wurde die Stille von einem handytelefonierenden Mann durchbrochen, der einem anderen Technikmann die Ankunft meines Vaters, der auf der Rückbank sitzen musste, ankündigte. Kein Wunder, dass mein Vater eigentlich ständig schlechte Laune hatte und schrecklich gereizt war.

Nein, wenn hier im Urlaub jemand telefoniert hatte, war es sicherlich meine Mutter gewesen. Noch dazu nährten mehrere Männer in Uniform, die ich im Nebel draußen schemenhaft erkannte, meine Vermutung, dass gestern Abend erst mal alles dabei belassen worden war. Wie viele Tasten man auf einem der Telefone hier in welchem Abstand voneinander drücken musste, um von einem bestimmten Piepton bestätigt zu bekommen, dass es einem gelungen war, einen Gesprächskanal nach »extern« aufzumachen, wusste außer dem Hausmeister sowieso niemand.

Darüber hinaus war die interne Kommunikation momentan schwierig genug. Ich hatte schlicht keinen Bock, mich mit meinen Eltern zu unterhalten. Ich war mit mir, mit Musik und mit den neuen Männern beschäftigt. Mein Vater schrieb sowieso den ganzen Tag, und die Versuche meiner Mutter, die interne Kommunikation aufrechtzuerhalten, blockte ich ab. Die Wochen der Entführung waren verwirrend gewesen. So verwirrend, dass es schien, als würde ich sie niemals entflechten können. Was hatte die Polizei verbockt? Hatte sie überhaupt etwas verbockt, oder war es normal, dass alles so gelaufen war? Wie ging es den Angehörigenbetreuern, die ich drei Wochen jeden Tag gesehen hatte und die dann so unvermittelt, ohne sich zu verabschieden, gegangen waren? Und wo waren die Entführer eigentlich jetzt? War es für uns besonders sicher geworden oder besonders unsicher? Keine dieser Fragen wollte ich wirklich beantwortet haben. Schon gar nicht von meinen Eltern.

 

»Ey, Cousin, wie geht’s denn?« Ich bekam gleich gute Laune, als ich die Stimme von Julia am anderen Ende der Leitung hörte.

»Ganz gut. Und dir? Ist krass langweilig hier. Und jetzt ist auch noch meine Gitarre kaputt. Voll ätzend. Also eigentlich geht’s wohl eher so mittel.«

»Oh weh.« Ihre Stimme klang ironischer, als ich es mir gewünscht hatte. »Jetzt musst du dich langweilen, während alle anderen ’ne gute Zeit haben?« Sie war ganz schön angriffslustig dafür, dass ich gerade versuchte, ihr mein Herz auszuschütten.

»Na ja – ich bin hier allein mit meinen Eltern. Hallo? Und draußen sind die Typen und beobachten mich. Das stresst auf ’ner Skala von 9 bis 10 ungefähr 11,5. Ich hab hier keinen entspannten Urlaub wie du«, ging ich in den Verteidigungsmodus.

»Jetzt hör mal, Cousin.« Ihre Stimme klang ernst, aber wieder freundlich. »Einen entspannten Urlaub«, sie überbetonte die Worte so, dass es sich richtig albern anhörte, »hat man, wenn man sich entspannt. Nicht den Urlaub. Und das muss man nicht können, sondern lernen. Und damit haben nicht irgendwelche anderen Leute zu tun, sondern nur du selbst.«

Ich war wieder mal beeindruckt von Julias Souveränität. »Ey, wieso weißt du so was? Das ist doch voll krass. Du bist doch sogar jünger als ich.« Ich sprach einfach aus, was ich dachte.

»Ach, weißt du, Cousin. Mein Vater hat meine Mutter und mich verlassen, ohne sich persönlich zu verabschieden. Das ist jetzt sieben Jahre her. Seit sieben Jahren frage ich mich täglich, warum. Was war falsch mit mir? Was war falsch mit uns? Was hätte ich machen können, dass er bleibt? Und je länger ich darüber nachgedacht habe, je öfter ich die Schuld bei mir gesucht habe, je mehr habe ich verstanden, dass er es ist, mit dem was falsch ist. Und das Einzige, was ich tun kann, ist, mich um mich zu kümmern.«

Auf einmal kam ich mir total bescheuert vor. Was waren eigentlich meine Problemchen gegen ihre Familiengeschichte? Mein Vater saß schließlich im Raum nebenan. Ihrer war fort. »Tut mir leid, Julia«, begann ich kleinlaut.

»Alter! Dir muss gar nichts leidtun. Das versuch ich dir ja gerade zu verklickern. Kümmer dich um dich, egal, was irgendwelche Typen denken. Glück entsteht nur aus dir selbst heraus.« Sie machte eine Pause, in der wir beide nichts mehr sagten. Dann fuhr sie lachend fort: »Das stand auf jeden Fall gestern in meinem Glückskeks, dass das Konfuzius gesagt hat. Stimmt aber trotzdem. Und weißt du, was vorgestern drinstand?«

»Nein. Ich hab eh grad das Gefühl, dass ich gar nichts weiß«, antwortete ich.

»Nur langweiligen Menschen ist langweilig, stand da drin. Und jetzt schreib doch mal ein Lied. Dafür brauchst du doch keine Gitarre.«

Ich atmete tief und hörbar ins Telefon. »Hey, Cousine – danke dir.«

»Kein Problem. Ich leg mich wieder hin.« Wir lachten beide.

»Und iss nicht zu viele Kekse. Ist nicht gut für die Zähne«, sagte ich noch schnell.

»Aber gut fürs Gemüt«, sagte Julia noch schneller und legte auf.

 

Langsam verzog sich der Nebel, und aus den unscharfen Lichtpunkten wurden nach und nach glimmende Zigaretten. Ich blieb am Fenster stehen und blickte hinaus. Wie ferngesteuert führten die martialisch anmutenden Männer sie an ihre Münder. In den frühen Morgenstunden mussten sie eingetroffen sein. Die Wunde hatte wieder zu bluten begonnen, die müden Krieger schienen aufzuwachen. In ihren dunkelblauen Uniformen mit den hohen Reiterstiefeln sahen sie bedrohlich gleichförmig aus und erinnerten mich an die FootSoldiers, die blind gehorchenden Gefolgsleute des Shredder.

Einer unterhielt sich gerade mit Schmitt und stach aus der Gruppe hervor. Er trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd mit Krawatte und normale Schuhe. Nur eine Anstecknadel an der Krawatte ließ erahnen, dass er eine offizielle Funktion innehatte. Als er sich lachend vorbeugte, um die Zigarette an seiner Schuhsohle auszudrücken, öffnete sich sein Jackett, und ich erkannte ein Schulterholster aus braunem Leder, das sich um seinen muskulösen Brustkorb spannte. In ihm steckte eine silberne Pistole, die gefährlich locker unterhalb seiner linken Achsel baumelte. Mein Herz begann schneller zu schlagen. Wie sollte ich Julias Rat folgen? Wie sollte etwas aus mir heraus entstehen, wenn überall diese Typen waren? Wie sollte ich mich denn in dieser Situation hier entspannen können?

Er richtete sich wieder auf, und unsere Blicke trafen sich. Als würde ihn ein elektrischer Schlag durchzucken, streckte er sich und schlug die Hacken zusammen. Den Zigarettenstummel drückte er mit Daumen und Zeigefinger aus und ließ ihn in seiner Hosentasche verschwinden. Das musste wehgetan haben. Ich erinnerte mich an Peter O’Toole in Lawrence von Arabien, der ein Streichholz mit den Fingern ausmacht. Als ihn ein anderer Soldat fragt, ob das nicht wehtut, antwortet er: »The trick is not minding that it hurts.« Immer wieder hatte mein Vater diese Filmszene zitiert und wiederholt, man solle sich einfach nicht darum kümmern, dass es wehtue, bis wir irgendwann gemeinsam den Film schauten. Die Länge von dreieinhalb Stunden hatte mich zuerst abgeschreckt. Doch nachdem wir die Vierstundenversion von Ben Hur gesehen und er mir nur bei der Szene, wo sich jemand von der sinkenden Galeere bloß noch retten kann, indem er sich den Fuß mithilfe seiner eisernen Fußfessel abscheuert, die Augen zugehalten hatte, war ich bereit für das nächste Epos. Ich war nachhaltig beeindruckt von der gelassenen Souveränität und dem zähen Durchhaltevermögen dieser Männer.

Und nun ahnte ich, warum mein Vater den Satz immer und immer wieder zitiert hatte. Weil es für mich und für ihn, für uns beide so unmöglich war, sich um den Schmerz einfach nicht zu kümmern. Es war also vielmehr sein eigener Wunsch als eine Belehrung.

 

Die Sicherheitsleute hatten die Kippen gedankenlos auf den Hof geschnipst. Das Geräusch der Hacken des Mannes im Anzug ließ alle sofort in meine Richtung blicken. Ich widerstand der Versuchung, in die Knie zu gehen und unterhalb des Fensters abzutauchen, und suchte den Blick von Schmitt.

Er schaute mich an und lächelte. Dann winkte er und formte die Lippen zu einem unhörbaren »Moin!«. Seine Lockerheit schien den Mann im Anzug sofort zu entspannen. Auch die anderen Männer in ihren gewichsten Stiefeln und den bedrohlichen Uniformen schienen ihre krampfartige Starre zu verlieren. Ich hob die Hand, lächelte und grüßte mit den beiden einzigen portugiesischen Wörtern, die ich kannte, unhörbar zurück: »Bom dia!«

Der Mann im Anzug lächelte und hob ebenfalls die Hand. Ich ging aus meinem Spielzimmer in die Eingangshalle, öffnete die Tür und trat auf den Hof. Ich fror unter meinem orangeweiß gebatikten T-Shirt. Trotzdem war ich froh über den erfrischenden Lufthauch, der meinen roten Kopf etwas abkühlte, und ging zielstrebig auf die Männergruppe zu, um die westernartige Duellsituation auf dem staubigen Hof nicht noch mehr in die Länge zu ziehen. Ich steckte mir das T-Shirt in meine kurze orangene Hose und blickte an meinen Beinen hinunter auf die ebenfalls orangenen Converse. Im Vergleich zu den geschniegelten Polizisten und dem Mann im Anzug sah ich absolut lächerlich aus. Warum war mir das vorher nicht aufgefallen? Erst im Kontrast zu diesen Gestalten erkannte ich, wie wenig bedrohlich, wie unerwachsen, wie kindlich bunt ich gekleidet war. Ich beschloss in dieser Sekunde, dass ich das ändern musste.

 

»Bom dia«, sagte der Mann im Anzug, und die anderen Männer stimmten wie ein Begrüßungschor mit ein. »Boom diiiaaa.«

»Salvete discipuli«, wurden wir von unserem Lateinlehrer Herrn Eisler begrüßt. Er kam immer einige Minuten vorm Klingeln zu unserem Klassenraum und stellte sich millimetergenau vor die Türschwelle. Er kontrollierte penibel den Abstand zwischen seinen Schuhspitzen und der Schwelle, stand wie erstarrt da und blickte ins Leere. Sobald es klingelte, durchzuckte ihn ein stromschlagartiger Impuls, der ihn das Kinn unnatürlich hochrecken ließ, während er seine Aktentasche unter die Achsel klemmte, um mit einem übertrieben langen Schritt, der an einen patrouillierenden Londoner Palastwächter erinnerte, die Schwelle zu übertreten. Mit nur zwei weiteren langen Schritten erreichte er das Pult und begrüßte uns mit dem Satz, den wir schon am ersten Schultag hatten lernen müssen. Immer laut und dennoch lustlos lang gezogen folgten wir mit: »Saaaaalve maagiiiisssteer.«

»Bom dia!«, erwiderte ich.

Schmitt zeigte auf den Mann neben sich: »Er ist hier der Cheffe!« Er blickte ihn an und fuhr in ungelenkem Englisch fort: »Big Boss.«

Der Mann reichte mir seine Hand: »Luis Fernando Morais«, stellte er sich vor. »Johann«, erwiderte ich, »Scheerer.«

Er sah mich irritiert an. Um irgendwas zu sagen, nuschelte ich noch ein »Bom dia« hinterher und machte einen halbherzigen Diener, wie ich ihn mir von einem Fernsehinterview mit Farin Urlaub abgeschaut hatte. Er quittierte es mit einem irritierten Schmunzeln. War es unangemessen, dass ich mich verbeugte?, schoss es mir in den Kopf. Hätte er sich verbeugen müssen, und hatte ich ihm die Möglichkeit dazu mit meiner gespielten Lockerheit genommen? Ich bekam einen Schreck. Hatte ich die Situation vor ein paar Minuten zu unkonventionell angehen lassen? Dachte er, ich hätte ihn extra auf eine falsche Fährte gelockt, um ihm jetzt vorzuführen, dass er sich nicht regelkonform verhielt? Ich wusste nicht, ob ich eben zu wenig oder jetzt zu viel dachte.

»All good?«, schoss es mir aus dem Mund, und ich blickte mich mit hochgezogenen Augenbrauen um, um zu verdeutlichen, dass ich die Umgebung meinte und nicht sein persönliches Wohlbefinden.

»Yes, all safe!«, antwortete er, räusperte sich und wirkte ebenso erleichtert.

»Ich wollte den Männern mal das Grundstück zeigen. Außerdem hatten die den Wunsch geäußert, hier in der Nähe mal etwas …«, Schmitt krümmte den Zeigefinger seiner rechten Hand, als läge er am Abzug einer Waffe, und drückte mehrfach schnell hintereinander ab, »… lauter sein zu dürfen.«

Ich hatte, wenn ich mit meiner Hand eine Pistole imitierte, immer den Zeigefinger nach vorn gestreckt und den Daumen als Hahn abgespreizt, der auf den Zeigefinger knallte, während der Rückstoß Hand und Unterarm im Neunzig-Grad-Winkel zum Oberarm katapultierte. Schmitts Darstellung hatte etwas viel Erschreckenderes. Es war faszinierend brutal. Seine souverän rückstoßfreie Imitation des Abdrückens, diese Mischung aus hexenartigem Herwinken mit krummem Zeigefinger und gleichzeitigem Klarstellen, dass zwischen dieser Hand und jeder sich nähernden Person nur noch ein Bleigeschoss Platz hatte, beeindruckte mich zutiefst.

»Wenn du nichts anderes vorhast, kannst du gern mitkommen.«

Ich hatte, da musste ich nicht lange nachdenken, nichts anderes vor. Sechs lange Sommerferienwochen lagen vor mir. Wochen, in denen mein Vater schrieb, meine Mutter schrieb, las oder kochte und ich mich langweilte. Die Zinnsoldaten hatte ich schon mehrfach lustlos umsortiert, die Gitarre war verbogen, Liese hatte andere Spielkameraden gefunden. Ich hatte keinen Fernseher in meinem Zimmer. Um fernzusehen, hätte ich ins Wohnzimmer meiner Eltern gehen müssen, doch das Klappern der Computertastatur meines Vaters nervte mich, und gleichzeitig hatte ich Angst, ihn zu nerven. Also tigerte ich auf der Suche nach einer Beschäftigung herum. Nun hatte sie mich gefunden.

»Okay – gern! Wann denn?« Ich versuchte, meine Aufregung und ein aufblitzendes Lächeln, so gut es ging, unter Kontrolle zu halten.

»Wir wollten hier noch zwei Runden mit den Jungs drehen. So in drei Stunden ungefähr. Gegen Mittag. Ich sag dir einfach Bescheid.«

Ich wusste nicht, wie Schmitt mir Bescheid sagen wollte. Mein Handy funktionierte nur in Deutschland, und irgendwie fühlte es sich nicht gut an, dass er ins Haus käme. Nicht nur war mir die Geborgenheit des Hauses, in dem wir vor dem Sicherheitspersonal sicher waren, plötzlich wichtig geworden, außerdem würde er dort meine Spielsachen vorfinden.

»Nee, ich sehe ja, wenn Sie losgehen. Ich komme dann einfach raus.«

»Okay. Bis nachher dann«, antwortete Schmitt, wandte sich Luis Fernando Morais zu und ergänzte in brüchigem Englisch: »He is join.« Als er merkte, dass sein Englisch kaum ausreichte, krümmte er wieder schnell den Zeigefinger seiner rechten Hand und fügte dem Mann neben sich ein paar üble Bauchschüsse zu.

»Não tem problema! No problem!«, antwortete der Mann im Anzug und nickte mir freundlich zu.

Schmitt öffnete die Hände, als wollte er mich noch mal herzlich begrüßen. »Não problão!«, sagte er in verballhorntem Portugiesisch und grinste in die Runde.

»Cool, não problão!«, erwiderte ich und bekam sofort wieder einen roten Kopf. Ich drehte mich um, senkte beschämt den Blick und ging zügig über den Hof in Richtung Eingangstür. Mich beschlich das Gefühl, mich innerhalb kürzester Zeit mehrfach lächerlich gemacht zu haben und auch noch beleidigend gewesen zu sein. Ich stellte mir vor, wie der Mann im schwarzen Anzug geräuschlos seine Pistole aus dem Schulterholster zog und, aus der Hüfte zielend, auf mich schoss. Wie auf dem VHS-Cover von Spiel mir das Lied vom Tod, das ich in der Videosammlung meines Vaters gesehen hatte, falle ich mit einer halben Drehung und ausladender Geste auf den Rücken in den Staub. Während ich in einer immer größer werdenden Lache frischen Blutes im trockenen Sand liege, erscheint das Gesicht des Mannes im schwarzen Anzug über mir. Der Rauch seines Colts vermischt sich mit den letzten Schwaden des abziehenden Morgennebels. »Não problão, Kanaille«, sagt er kühl und öffnet dabei kaum die Lippen. Er richtet sich auf, knöpft sein Jackett zu und geht zu der lachenden Gruppe von Männern. Schmitt steht am Rand der Gruppe und tut so, als hätte er nichts gesehen.

Ich öffnete die Tür und ging hinein. Nun galt es, die kommenden drei Stunden zu überbrücken.

Ich setzte mich an den Küchentisch, nahm mir ein Blatt Papier und einen Stift, die im Haus überall herumlagen, und begann, eine Liste zu schreiben.

Ich brauchte eine neue Gitarre, einen passenden Koffer und ein Stimmgerät. Außerdem benötigte ich neue Kleidung, möglichst schwarz. Stiefel, lange Hose, schwarzes Longsleeve, Kapuzenpulli. Dazu einen Gürtel mit großer Schnalle, damit ich irgendwelche Utensilien, die ich auch noch würde besorgen müssen, daran befestigen konnte. Ein Multifunktionswerkzeug oder, wenn ich das nicht bekäme, eine lederne Tasche für mein Nokia-Handy. Besser noch: beides. Außerdem neue Sonnenbrille, neue Jacke. Ich lehnte mich zurück, las die Liste durch und stellte mir mich vor. Das könnte cool werden. Ich könnte cool werden. Dann nahm ich den Stift und notierte darunter, was mir weniger wichtig und dennoch unabdingbar erschien: »Nahrung«.

 

Endlich regte sich etwas. Die letzte halbe Stunde der zähen Wartezeit hatte ich ein paar Meter hinter dem Fenster verbracht. Gerade weit genug weg, um von außen nur schemenhaft erkannt zu werden, den Hof aber im Blick zu haben. Als der Vorplatz leer gewesen war, weil die Männer »eine Runde gedreht« hatten, war ich nach draußen gegangen, um herauszufinden, wie weit man von dort durch die Fenster ins Haus blicken konnte. Mich beschlich ein merkwürdiges Gefühl, wenn ich daran dachte, dass die Männer in mein Spielzimmer sehen konnten. Uncool. Ein paarmal stellte ich einen großen Steiff-Bären auf den Teppich vors Fenster, rannte raus und blickte nach innen. Immer wenn ich das Haus verließ, kribbelte mein ganzer Körper. Ich sah kurz an mir herunter, ob ich nicht aus Versehen irgendwelche peinlichen Utensilien mitgenommen hatte. Wie in diesen Komödien, wo einer aus dem Klo kommt und noch Toilettenpapier am Schuh hängen hat. Spielzeug hatte hier, in der Erwachsenenwelt, nichts zu suchen. Erkannte ich die Umrisse des Teddybären als mein Kinderzimmer-Double klar und deutlich, rannte ich wieder rein, stellte ihn ein Stück tiefer in den Raum und versuchte es erneut. Als der Bär vor meinem Bett in der Mitte des Zimmers stand, war er von draußen nicht mehr zu erkennen. Ich schmiss den Teddy hinters Bett und nahm seinen Platz ein. Hier saß ich nun und versuchte zu ermitteln, wann die Bewegungen der Männer auf dem Hof bedeuten könnten, dass es losging. Unter keinen Umständen wollte ich zu früh kommen und so den Eindruck erwecken, dass ich es nicht erwarten könne. Wenn ich dann gleich auf sie treffen würde, wie würde ich den neuen portugiesischen Sicherheitsmann ansprechen? Luis? Mr Morais? Die Personenschützer siezte ich, auch wenn sie mich aufgrund meines Alters duzten. Einerseits fühlte ich mich nicht wohl dabei, gesiezt zu werden. Ich war es nicht gewohnt, und es kam mir albern vor. Natürlich sehnten wir den Tag unseres sechzehnten Geburtstags herbei, denn ab der zehnten  Klasse, so hieß es, dürften uns die Lehrer nicht mehr duzen. Sie müssten uns der Reihe nach fragen, ob wir weiterhin ein Du akzeptieren oder auf das gesetzlich vorgeschriebene Sie bestehen würden. Egal, für was wir uns entscheiden würden, ein Triumph war es jetzt schon. Doch dieses Sie war anders. Es war kein rein respektvolles Sie. Es war ein hierarchisches. Ein Sie, das ich mir nicht nehmen konnte, das ich nicht verdient hatte, sondern eines, das mir zugefallen war.

Vor nicht allzu langer Zeit war mein Vater mithilfe einer Kalaschnikow und einer Handgranate von unserem Grundstück weggeschnappt worden. Wie wäre es ausgegangen, wenn die Personenschützer hätten eingreifen können? Im Ernstfall, der ja eingetreten war und den es von nun an zu vermeiden galt, würden sie sogar eine Kugel für mich abfangen müssen. Ich verbrachte nun jede Minute meines Lebens in Begleitung dieser Männer. Wir unterhielten uns, scherzten, und ich begann mich mit ihnen anzufreunden. Sie waren das Gegenteil meiner Eltern und somit Menschen, die mich extrem faszinierten. Auf den ersten Blick schienen sie die perfekte Hilfestellung für die Abnabelung von meinen Eltern zu sein, auf den zweiten Blick wurde es aber gleich unerträglich kompliziert.

Der immerzu drohende Verlust dieser neuen Menschen ließ in mir die Idee reifen, dass ich einen Abstand zu ihnen konstruieren müsste. Wenigstens das Sie anstelle des Du sollte zwischen uns stehen. So, legte ich mir zurecht, würde ich einen Verlust besser verkraften können. Andersherum bestand ich aber darauf, dass sie mich duzten. Dies schien mir die richtige Hierarchie zu sein. Könnte ich mich irgendwann an sie gewöhnen oder mich mit den Männern sogar anfreunden, obwohl es diese komische, potenziell tödliche Hierarchie gab? Eine Hierarchie, entstanden durch Geld. Und da hört die Freundschaft ja bekanntermaßen auf.

Endlich betrat Schmitt, wieder in kurzen Hosen, schwarzen Stiefeln und kariertem Hemd, den Hof. Bei seinem Baseball-Cap hatte er den Schirm so extrem gebogen, dass man von der Seite seine Augen nicht mehr sehen konnte. Als wäre der Schatten auf seinen Augen nicht ausreichend, trug er zusätzlich eine Sonnenbrille. Ganz klar, dachte ich, definitiv kein Indianer. An seiner Kopfbewegung erkannte ich, dass er sich umsah. Ich sprang von der Bettkante auf, rannte los, stoppte kurz vor der Tür, atmete tief ein, langsam wieder aus und öffnete gelassen die Tür zum Hof.

Für einen Moment sahen alle zu mir, doch ich hatte den Eindruck, dass es etwas weniger verkrampft war als heute Morgen. Wir schienen uns aneinander gewöhnt zu haben. Gleichzeitig setzte sich jeder in Bewegung, und der Mann im Anzug bewegte sich zielstrebig auf mich zu. Seine gespannte Körperhaltung signalisierte mir, dass er tatsächlich eine Art Anführer dieser Gruppe war.

»Hello!«, sagte ich und merkte, während ich es aussprach, dass mir ein »Mr Morais« nicht über die Lippen ging. Ich würde es beim englischen »You« belassen. »Hello, Mr Johann«, sagte er und lächelte mich an.

Ich lächelte zurück, und mein Bauch kribbelte ein bisschen. Wir setzten uns in Bewegung. Das Wort Sicherheitsabstand bekam für mich eine ganz neue Bedeutung. War dieser Abstand nun für mich besonders groß oder besonders klein? Wie groß wäre Schmitt sein Sicherheitsabstand? Schulter an Schulter?

Wir waren eine Weile durch den Wald am Fuße des Grundstücks gegangen, als sich vor uns eine Art Kiesgrube auftat. Eine zehn Meter hoch aufragende Wand aus hartem Sand, auf deren Ausläufern wir jetzt standen. Am Rande der steinbruchartigen Grube stiegen wir hinunter. Jetzt erst registrierte ich die schwarze Sporttasche, die einer der bestiefelten Männer, mittlerweile schwitzend und keuchend, den steilen Hang hinunterschleppte.

Die schwarzen Sporttaschen schienen mich zu verfolgen, und es befand sich immer irgendetwas Wichtiges in ihnen. Waffen, Sprengstoffattrappen, getarnt als vermeintlich harmlose Pakete, Kampfsportutensilien, 20 Millionen D-Mark und 10 Millionen Schweizer Franken. Meine Eltern hatten Akten- oder Handtaschen, vielleicht mal einen Koffer. Aber lässige schwarze Sporttaschen benutzten sie nie. Nicht nur hier im Urlaub würde ich eine benötigen. Wie cool wäre eine schwarze Sporttasche für meine Schulsachen. Kein Zweifel: »Schwarze Sporttasche« musste auch auf meine Einkaufsliste.

Unten angekommen, setzte der Mann die Tasche mit einem klackenden Rumms auf den trockenen Waldboden und zog den Reißverschluss auf. Das Geräusch der sich öffnenden Verzahnung, gemischt mit seinem harschen Ausatmen, bei dem sich seine Stimme überschlug, erinnerte mich an den Schrei von Godzilla. Mit einem Ruck, so stark, als wollte er den Frust über den anstrengenden Weg an der Tasche auslassen, zog er die Seiten der Reißverschlüsse auseinander, und zum Vorschein kam ein Haufen unterschiedlicher Waffen. Wie schon am Tag zuvor gab er den Männern, die ihn umringten, je eine. Ich stand mit etwas Abstand zur Gruppe. Noch nie hatte ich eine echte berührt. Ich hatte Angst, etwas falsch zu machen. Weniger Angst, dass etwas Gefährliches passieren könnte, mehr Angst davor, dass mir niemand erklären würde, wie diese Waffen funktionierten, und ich mich blamierte.

Rohrkrepierer. Dieses Wort hatte ich auf einmal im Kopf. Nicht nur, was die potenzielle Freundschaft zu diesen Herren betraf. Rohrkrepierer.

 

Plötzlich berührte mich eine Hand an der Schulter. »Wait«, hörte ich Luis Fernando Morais sagen, »let them shoot. I will show you.«

Und als wäre dies eine Veranstaltung für Kinder und wir die beiden einzigen Erwachsenen, führte er mich etwas abseits, legte eine der Maschinenpistolen, die er bis eben locker in seiner Hand gehalten hatte, behutsam auf den Waldboden und zog lächelnd seine silbern glänzende Pistole aus dem hellbraunen Lederholster.

»Look«, sagte er. Er hielt mir die Pistole hin, ohne sie wirklich festzuhalten. Er zeigte sie mir eher wie ein seltenes und fragiles Lebewesen und nicht wie ein tödliches Werkzeug, das er Tag für Tag mit sich herumtrug. Nur der kleine, der Ring- und der Mittelfinger legten sich vorsichtig um den braunen Holzgriff, um zu verhindern, dass sie ihm aus der Hand sprang.

»They are basically all the same«, begann er, »if you know this one, you know ’em all. This is the safety«, und er zeigte auf einen kleinen Hebel zwischen Griff und Lauf, der einen roten Punkt hatte. »Like this you cannot shoot. It’s safe«, fuhr er fort. Nun umschloss er den Griff der Pistole etwas fester mit den drei Fingern und seinem Daumen, nur der Zeigefinger war noch gerade abgespreizt, und klickte den kleinen rot gepunkteten Hebel mit seinem Daumen in Schussrichtung. »Now«, sagte er und blickte mich eindringlich an, »it’s very dangerous! You pull the trigger and you kill. It’s very easy. Made for guys like us.«

Er lachte mich an, ließ mit einer schnellen kontrollierten Bewegung das silberne Tier herumwirbeln, hielt auf einmal den Lauf in seiner Hand und richtete den Griff auf mich. »Take it. First you check.«

Ich umfasste mit gestrecktem Zeigefinger den Griff der Pistole. Sie war viel schwerer, als ich erwartet hatte. Mein Herz raste, ich hörte und spürte das Blut in meinem Körper rauschen und pochen. Ich drehte sie ein wenig, sodass ich an der Seite den Hebel sehen konnte, und kontrollierte seine Stellung. In der wirbelnden Bewegung musste Morais ihn wieder gesichert haben.

»It’s safe«, sagte ich und schaute Morais an. Die Wärme seiner Hand war noch nicht aus dem Holz des Griffs gewichen. Es schmiegte sich in meine Handfläche. Ich spürte das kühle Metall des Laufs an meinem Zeigefinger. Mein Blut pumpte so stark, dass es sich anfühlte, als hätte die Waffe einen eigenen Herzschlag, der mir den Takt vorgab. Ich wollte sie am liebsten nie mehr loslassen. Happiness is a warm gun. Bang, bang, shoot, shoot.[1] Plötzlich fühlte ich mich nicht mehr so lächerlich in meinen orangenen Klamotten. Wie der Joker in den Batman-Comics, die ich gerne las. Lächerlich, aber sehr gefährlich.

Die Männer hatten begonnen, Schießscheiben aus dunkelgelber Recyclingpappe am Sandhang zu befestigen. Ich hielt die Pistole mit dem Zeigefinger parallel zum gen Boden gerichteten Lauf. Schmitt kam zu mir. »Pass auf, wenn wir gleich schießen, dann kannst du auf alles zielen, was in dieser Richtung ist.« Er zeigte auf den Sandhügel. »Du musst nicht unbedingt treffen. Bekomm erst mal ein Gefühl dafür. Aber bitte nicht auf die Steine zielen!«

Ich erkannte ein paar vereinzelt aus dem Sand herausragende Felsbrocken.

»Dann kann es Querschläger geben«, ergänzte Schmitt. Er sah mich an, als erwartete er eine zustimmende Reaktion. Es war ernst.

Also nickte ich ernst.

Die Männer reihten sich nebeneinander auf, entsicherten die Maschinenpistolen und kontrollierten die Magazine. Klack klack ratsch ratsch ratsch. Die Geräusche waren viel leiser, als ich es aus Filmen kannte. Einer, der in der Mitte stand und mit den Vorbereitungsmaßnahmen als Erster fertig war, hob die Waffe an und zielte.

»STOP!«, rief Morais in einer Lautstärke, die nicht nur mich, sondern auch den Mann erstarren ließ. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sich in diesem Moment ein paar Sandklumpen vom Hang gelöst hätten. Dies war ein kurzer, durchdringender Schrei, der sogar unseren Erdkundelehrer hätte strammstehen lassen. Mein Herz schlug noch kräftiger, als es das ohnehin schon tat, mein Gesicht wurde diesmal allerdings nicht rot. Das kalte Metall der Waffe gab mir eine nie gekannte kühle Ruhe.

Wir traten zwei Schritte vor, bis wir auf einer Höhe mit allen anderen waren, die in der Reihe etwas Platz gemacht hatten. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie der Polizist seine Waffe senkte. Seine Augen waren von einer Sonnenbrille verdeckt, aber in den wenigen Sekunden, in denen ich ihn beobachtete, meinte ich eine Enttäuschung in seiner Körpersprache zu erkennen.

»Check. Point. Shoot«, flüsterte mir Luis Fernando Morais zu. Wir waren Verschworene. Niemand hatte mitbekommen, dass ich alles gerade eben erst beigebracht bekommen hatte. Ich war ein Profi wie sie. Ich hob die Waffe. Sie kam mir jetzt noch schwerer vor. In meiner Schulter zog es schon ein bisschen. Meine Hand war deutlich kleiner als die von Morais, und ich hatte Mühe, den Sicherheitshebel zu lösen. Mit der Spitze meines Daumens presste ich den Hebel in Laufrichtung, es klickte leise, ich beugte den Zeigefinger um den Abzug, als gälte es, mit ihm Finger zu hakeln, visierte die Zielscheibe mit zugedrücktem Auge an und drückte sofort ab.

Ein ohrenbetäubender, kurzer und heller Knall erfüllte die Luft und hallte nahezu gleichzeitig stumpf und mit ebenso viel Wucht vom Sand wider. Pack-ack.

Ich senkte die Pistole und versuchte herauszufinden, wo ich getroffen hatte. Die Scheibe war heil. Es bewegte sich nichts. Plötzlich hörte ich über mir ein Knacksen. Ein Ast fiel von einem der Nadelbäume den Sandhang herunter. Erstaunt folgte ich seinem Fall mit den Augen. Ich hörte ein leises Lachen der umstehenden Männer und blickte fragend und mit hochgezogenen Schultern erst zu Morais und dann zu Schmitt.

»Den Vogel da oben hab ich gar nicht gesehen«, sagte Schmitt lachend. »Meinst du wirklich, er wollte uns angreifen?«

Ich verzog den Mundwinkel zu einem misslungenen Lächeln. Wieder spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Morais stand neben mir.

»Use only this«, sagte er ernst, doch ein freundliches Lächeln umspielte leise seine Mundwinkel. Er zeigte auf die Zeigefingerspitze seiner rechten Hand. »Not like this«, fuhr er fort und beugte seinen Zeigefinger so hexenartig, wie Schmitt es am Morgen vorgemacht hatte. »Breathe out. Quiet. Let the bullet surprise you! Two eyes.«

Kurz war ich erstaunt, dass ich von der Kugel überrascht werden sollte und nicht derjenige, für den sie bestimmt war. Trotzdem hob ich den Arm, legte diesmal nur die Fingerkuppe an den Abzug und atmete tief ein. Vorsichtig atmete ich gepresst durch die Lippen aus und erhöhte den Druck auf den Abzug. Ich ließ beide Augen geöffnet, schaute Richtung Ziel und wartete auf den Knall. Er kam schneller als erwartet. Die Pistole wurde wieder gen Himmel gerissen, diesmal knickten allerdings nur meine Handgelenke ab. Meine Arme blieben einigermaßen ruhig. Sofort sah ich Sand aufspritzen, und die Zielscheibe flatterte etwas. Diesmal waren die Männer still. Als ich den Arm gerade sinken lassen wollte, flüsterte Morais: »Again. Both Hands.«

Ich schloss die linke Hand um die rechte Faust und schoss. Der Knall war nicht mehr so laut, das Gefühl des Rückstoßes fast vertraut. Der Sand spritzte. Ruhig atmete ich die staubige Luft ein und schoss wieder und wieder. Jeder Knall schien mir die Berechtigung zu geben, dieser Gruppe anzugehören. Jedes Aufspritzen im Sand ließ meine Wertschätzung bei den gestiefelten Männern steigen. Ich drückte ein weiteres Mal ab und fühlte, wie allen um mich herum klar wurde, dass uns diese Schüsse zusammenbrachten. Wie eine Mutprobe, ein geheimes gemeinsames Besäufnis, ein Kampf, Schulter an Schulter auf derselben Seite. Diesmal knallte es aber nicht. Der Schlitten der Pistole blieb, arretiert nach hinten geschoben, stehen. Aus der offenen Patronenkammer rauchte es.

Meine Umgebung, die ich während des Gemetzels nur noch schemenhaft wahrgenommen hatte, klarte wieder auf. Ich atmete schnell, meine Schulter schmerzte ein wenig, und mein rechter Arm vibrierte. Bevor ich mich umsehen konnte, um in die vermeintlich bewundernden Gesichter der Männer zu blicken, knallte es direkt neben mir zweimal kurz nacheinander. Tack, tack. Und wieder. Tack, tack. Tack tack, Tack tack.

Der Polizist neben mir feuerte mit schnellen Schüssen auf die Zielscheiben. Zwei Schuss pro Scheibe. Sein Körper rührte sich nicht. Nur die Maschinenpistole wippte auf und ab.

Als er fertig war, sprintete der Mann neben ihm zu den Scheiben und kontrollierte die Löcher. »Dois. Dois. Dois. Dois!«, rief er, während er die Scheiben gegen unversehrte austauschte. Der Polizist, reimte ich mir zusammen, hatte tatsächlich mit jedem Schuss getroffen. Als er sich einreihte, ging es sofort wieder los. Tack, tack. Tack, tack. Tack, tack. Tack, tack. Kein Sand spritzte, nur die Papierscheiben zitterten, als die Kugeln sie durchlöcherten. Langsam blickte ich mich um. Niemand beachtete mich. Mein trüber Tunnelblick klarte mit jedem Schuss mehr auf. Die schmerzhafte Erkenntnis, dass ich hier nicht bewundert, sondern geduldet wurde, hielt Einzug in mein Sichtfeld.

 

Auf dem Weg zurück zum Haus ging ich schnell vor. Ich tat so, als hätte ich noch etwas Wichtiges zu tun. Mein Arm vibrierte von den Schüssen, in meinem Kopf hallten die präzisen Dubletten, wie Schmitt sie nannte, nach. Ich versuchte, meine Schritte dem Rhythmus der Dublettenechos in meinem Kopf anzupassen. Tack, tack. Tack, tack. Ich stolperte.

Vor der Haustür auf dem Hof drehte ich mich im Laufschritt noch einmal um und hob die Hand. »Bye! Thank you!«

Bevor irgendwer die Gelegenheit hatte, etwas zu erwidern, war ich schon im sicheren, kühlen Haus verschwunden.

Ich überlegte kurz, meine Cousine anzurufen. Doch ich hatte keine Lust auf noch jemanden, der mir irgendetwas erklärte. Was wusste ich eigentlich überhaupt noch?