Ein paarmal hatte ich den unterschiedlichen Gerichtsverhandlungen gegen die einzelnen Mitglieder der Entführerbande in den vergangenen Jahren beigewohnt. Ich hatte das Bedürfnis, der ganzen Geschichte ein irgendwie offizielles, geregeltes Ende zu setzen. Als es im Januar 2001 endlich zur Urteilsverkündung kam, ging mein Vater nicht hin. »Das ist jetzt nicht mehr meine Sache. Das Urteil zu sprechen ist nicht meine Angelegenheit. Es geht mir nicht um Vergeltung, sondern um Gerechtigkeit«, erklärte er mir. Er habe alles getan und gesagt. Die Strafe sei nicht sein Zuständigkeitsbereich. Er wolle sich nicht daran ergötzen und im Zweifel sogar verhindern, dass der Eindruck entstehe. Er sei als Nebenkläger aufgetreten, so sei es in Deutschland geregelt. Nebenkläger. Als hätte er danebengestanden und wäre nicht mittendrin gewesen.
Ich begriff nicht, wie mein Vater es schaffte, kühl und rational zu entscheiden, dass es so das Richtige sei. Wie man es machen muss. Ich wiederum wollte das Gesicht des Verbrechers sehen, über den seine jahrzehntelange Strafe hereinbricht. Ich wollte Verzweiflung, Entsetzen, wollte wenigstens ein schlechtes Gewissen beobachten können. Ich würde auf jeden Fall hingehen.
Als das Urteil dann tatsächlich gesprochen wurde, saß ich im Deutschunterricht. Mein Handy vibrierte, ich schreckte auf und blickte mich kurz um. Nur Katharina, die neben mir saß, hatte es bemerkt. »Entschuldigung, ich muss mal kurz aufs Klo!«, rief ich, während ich den rechten Arm hob und mit dem linken schon mein Ericsson T36 nach unten gebeugt aus meiner Schultasche fummelte. Ich verließ den Klassenraum, knallte die Tür zu und blickte auf das graue Display. »14,5 Jahre. Keine Sicherungsverwahrung«, lautete die SMS, die ich von einem der Sicherheitsleute bekommen hatte, die der Urteilsverkündung beigewohnt hatten.
Meine Angst, einen Fehler zu machen, den mir weder mein Vater noch die Öffentlichkeit verzeihen würden, war zu groß gewesen, und so war ich heute, am Tag der Urteilsverkündung, doch einfach in die Schule gegangen.
Ich öffnete die Tür zum Schulhof, schaute mich kurz um, dass kein Lehrer mich beobachten konnte, und ging nach draußen. Seit Einführung des T9-Systems brauchte es nur noch wenige Sekunden, um eine SMS auf dem Handy zu schreiben. »Warum nicht 15 Jahre?« Es passierte länger nichts, dann vibrierte mein Telefon wieder. Diesmal war es ein Anruf. Ich klappte es auf. »Ja?«, begrüßte ich Brohm so ruhig wie möglich. Ich hoffte, auf dem leeren Schulhof während des Unterrichts nicht weiter aufzufallen.
»Hallo, Johann. Du«, er machte eine Pause und schien nach der passenden Formulierung zu suchen, »der hat nicht die Höchststrafe bekommen, weil er das Opfer nicht umgebracht hat.« Er sagte das Opfer und nicht deinen Vater. Profis eben. Distanz wahren. »Es soll wohl auch ein Signal an künftige Täter sein, mit Strafmilderung rechnen zu können, wenn sie das Opfer leben lassen. Sicherheitsverwahrung hat er nicht bekommen, weil …«
»Jaja, ich weiß«, fiel ich ihm ins Wort. »Sie konnten ihm den Überfall auf den Geldtransporter mit einer Panzerfaust, mit dem er gegen die Bewährungsauflagen eines seiner früheren Verbrechen verstoßen hätte, nicht zweifelsfrei nachweisen. Ich weiß schon. Vielen Dank. Ich muss wieder rein. Danke.« Damit klappte ich das Telefon zu, steckte es in die Seitentasche meiner schwarzen Militärhose und ging rein. Ich öffnete die Klassentür und ließ mich wieder auf meinen Stuhl fallen.
Als die Schule zu Ende war, wollte ich nicht gleich nach Hause. Es regnete seit den frühen Morgenstunden in Strömen, und trotzdem war ich wieder mit dem Fahrrad zur Schule gefahren. Seitdem ich den Autoführerschein machte, hatte ich die Lust am Mofafahren verloren und nutzte die Wege immer wieder, völlig unverkabelt, quasi nackt und nur mit Handy in der Hosentasche, um mich mal so richtig durchpusten zu lassen. Nun raste ich mit meinem Fahrrad von der Schule Richtung Schanzenviertel. Auch wenn der Fahrer des Autos hinter mir vermutlich davon ausging, dass ich, wie gewöhnlich, nach Hause fuhr und nur einen anderen Weg einschlug, hatte ich andere Pläne.
Aus den Erzählungen der Männer wusste ich, was Autos in der Lage waren auszuhalten. Beispielsweise würden sie sich nicht plötzlich, wie man es aus Filmen kannte, auf offener Strecke überschlagen. Man konnte noch so scharf und plötzlich einlenken, im Normalfall würde das Auto einfach in der Spur bleiben. Sobald ich meinen Führerschein bestanden hatte, würde ich an einem Sicherheitsfahrtraining teilnehmen. Das hatten sie mir angekündigt. Ich wusste aber auch, was Autos nicht konnten und welche Vorteile ein Fahrrad bot.
Jetzt raste ich die engen Straßen von Othmarschen mit meinem Mountainbike entlang. Immer wieder verwandelte sich das mich beschützende Auto in meiner Vorstellung in ein Fahrzeug, vor dem ich mich schützen musste. Freund und Feind wechselten imaginativ sekündlich die Rollen. Schreckensgestalten. Mit jedem Tritt in die Pedale versuchte ich, dem Angreifer zu entkommen. Ich fühlte mich wie in einer James-Bond-Verfolgungsjagd. Mein Herz raste. Nicht nur vor körperlicher Anstrengung. Es war die Aufregung der Vorstellung, ich würde tatsächlich verfolgt. Es fühlte sich so real an, dass ich wirklich Angst bekam. Und verfolgt wurde ich ja auch. Wirklichkeit und Vorstellung verschmolzen zu einem bizarren Gefühl des Gejagtwerdens. Wer war ich? Woher weiß ich eigentlich, dachte ich plötzlich, dass die Typen im Wagen hinter mir wirklich die Guten sind? Einen Eid hatten sie, soweit ich wusste, nicht geschworen. Wir waren nicht befreundet. Und auch wenn ich sie alle mochte, mit manchen war ich noch nicht mal richtig bekannt. Woher also wusste ich, dass sie ihre umfassenden Kenntnisse darüber, welche Wege ich fuhr, wann ich zur Schule ging, wann zur Bandprobe, welche S-Bahn ich nahm, welche Hunderunde ich für gewöhnlich ging und wo meine Freundin wohnte, nicht gegen mich einsetzen würden? Wäre das nicht sogar profitabler als der Job, den sie hatten? Ich erinnerte mich an den Satz meines Großvaters, den mir mein Vater zitiert hatte: »Es gibt keine bessere Investition, als sein Personal gut zu bezahlen.« Plötzlich machte dieser Ratschlag mehr Sinn als je zuvor. Auch Mel Gibsons Film Ransom, der vor drei Jahren gelaufen war, kam mir in den Sinn: Ein Kind wird entführt, und der Vater entscheidet sich dafür, das Lösegeld nicht zu zahlen, sondern es stattdessen in einer Fernsehsendung als Kopfgeld auf die Entführer auszusetzen. Die Verbrecher müssen sich nun ausrechnen, ob es für sie vielleicht profitabler wäre, ihre Mittäter zu verraten.
Woher wusste ich, wer gut und wer böse war? Wer stand auf welcher Seite und vor allem, warum? Und wie lange noch? Sie waren bewaffnet und hochmotorisiert. Vielleicht warteten sie nur auf das richtige Angebot.
Hier auf dem Fahrrad war ich Gejagter und Beschützter. Nur Jäger war ich sicher nicht. Die Musik aus meinen Kopfhörern vermischte sich mit den Fahrgeräuschen des BMWs hinter mir. Ein Soundtrack zu einer Verfolgungsjagd. Wann würde die Stoßstange meinen Hinterreifen berühren, um mich von der Straße abzudrängen? Wann würde plötzlich ein Lieferwagen aus einer Seitenstraße auf die Fahrbahn fahren, die Schiebetür sich öffnen und maskierte Männer das Feuer eröffnen? Ich drehte die Musik lauter. Slime dröhnte mir in die Ohren:
Ideen brauchst du nicht viele,
die Lösung dieser Falle,
das ist das neue Spiel, es heißt
»Alle gegen alle«[7]
Würde sich dieses ständige Fangenspielen irgendwann lohnen? Wann dürften die vermutlich gelangweilten Sicherheitsmänner einmal etwas Richtiges machen, das ihnen bewies, dass sie auf der richtigen Seite standen? Wann würde ich meinen Eltern zu Hause endlich erzählen können, dass nun auch mir etwas passiert sei?
Todestrieb. Das Wort aus Unterhaltungen mit meiner Mutter echote in meinem Kopf. Was genau der Terminus bedeutete, wusste ich nicht. Es war nur das Gefühl in Verbindung mit meiner rasenden Fahrradfahrt und meinem ebenso rasenden Herzen. Der Sony-Minidisc-Player feuerte eine Playlist ab, die meine innere Zerrissenheit auf den Punkt brachte. Nach Slime kamen Die Ärzte.
Mein Swimmingpool reicht von Casablanca bis nach Istanbul.
Das ist ein Mordsmodul.
Und mein Schloss besteht aus purem Gold und ist gigantisch groß.
Das find ich echt famos.
Ich habe so verdammt viel Geld, ich kauf mir bald den Rest der Welt.
Ich bin reich.
Ich bin reich, so furchtbar reich.
Japadappadu, ich bin reich![8]
Ich riss den Lenker herum, fuhr schräg über die Straße und dann auf den gegenüberliegenden Bürgersteig, zwischen zwei schmalen Pollern hindurch auf einen Fußweg, der mit dem Auto nicht zu befahren war. Er verlief parallel zur Straße und war von ihr durch eine dichte Hecke und vereinzelt stehende Häuser getrennt. »Tunneln und Schütteln« kannte ich seit Jahren. Nickel, einer der Angehörigenbetreuer im Jahr 1996, hatte es mir gezeigt. Um zu erkennen, ob man verfolgt wurde, blieb man beispielsweise, wenn die Ampel auf Grün schaltete, noch so lange stehen, bis sie wieder auf Rot sprang, um dann genau in dieser Sekunde loszufahren. Ohnehin immer in Alarmbereitschaft, überlegte ich mir täglich neue Varianten des Schul- und Heimwegs. Niemals den gleichen Weg mehrmals hintereinander fahren, lautete der Ratschlag der Personenschützer, den ich jetzt gegen sie verwendete. Ich sauste den Fußgängerweg entlang, bis ich ans Ende der Hecke kam. Ich bremste scharf und wartete, dass der schwarze BMW langsam auf der parallel laufenden Straße an mir vorbeifahren würde. Ich wusste, dass der Fahrer des Wagens nach mir Ausschau hielt, und hoffte, dass er mich nicht entdeckte. Als der BMW hinter den Häusern auftauchte, sah ich, wie der Fahrer den Hals in meine Richtung reckte. Ich duckte mich weg, presste mich an einen Stromkasten und hoffte, dass mein leuchtend rotes Mountainbike, auf dessen Rahmen in großen Runen »ODIN« stand, mich nicht verraten würde.
Während der BMW langsam vorbeizog, lief meine Playlist erbarmungslos weiter.
»Du liebst ihn nur, weil er ein Auto hat
und nicht, wie ich, ein klappriges Damenrad.
Doch eines Tages werd’ ich mich rächen.
Ich werd’ die Herzen aller Mädchen brechen.
Dann bin ich ein Star, der in der Zeitung steht.
Und dann tut es dir leid, doch dann ist es zu spät.«[9]
Es gab eine Liveversion des Stückes Zu spät von Die Ärzte, in dem Farin Urlaub, der ja mittlerweile keine Probleme mehr hatte, sich ein eigenes Auto leisten zu können, den Text entsprechend verändert hatte. Auf einmal hatte sein Antagonist zwar ein Auto, aber er ein goldenes Motorrad. Die Ärzte, die mit wachsender Berühmtheit begannen, ihre eigenen Texte halb selbstkritisch, halb ironisch an ihre Lebenssituation anzupassen, hatten natürlich längst mit Anfeindungen aus der Punkszene umzugehen. Im Musikgeschäft musste man sich mindestens aus einem armen Elternhaus, wenn nicht aus der Gosse hochgespielt haben. Das gehörte zum romantischen Ideal. Zur Erzählung des armen Kreativen, der sein Leid in Musik transformiert hatte und dabei aber mindestens Antikapitalist geblieben oder geworden war. Und unter denen gab es laut Slime sogar noch »linke Spießer«. Selbst in der Musik, die ich hörte, selbst auf dieser Minidisc-Playlist waren die Zusammenhänge komplex. War es für mich noch okay, diese Lieder zu singen, oder durfte ich nicht? Nicht mehr oder noch nie? Meine Realität war ja, dass ich persönlich nicht nennenswert viel Geld hatte. Es war ja nur mein Vater, der welches hatte. Für mein Empfinden bekam ich nicht mal viel Taschengeld.
Den Rücken an den Stromkasten gepresst, den kalten Fahrradrahmen umklammert, hockte ich hier ein paar Minuten, bis sich meine Gedanken beruhigten und Marianne Faithfull zu einer zarten Akustikgitarre anstimmte:
Havin’ bad times, now I’m paying dues,
Got shoes and money, good friends, too.
I always play to win, and always seem to lose,
That’s why I think I got a rich kid’s blues.
That’s why I think I got a rich kid’s blues.[10]
Dem BMW folgten zwei genervte Autofahrer, die wild gestikulierend klarmachen wollten, dass das hier keine Tempo-20-Zone war. Als der Wagen aus meinem Sichtfeld verschwand, stieg ich wieder auf und fuhr, so schnell ich konnte, weiter in Richtung Marktstraße im Hamburger Schanzenviertel.
Als ich Lucky Lucy betrat, begrüßte mich der Verkäufer mit Handschlag. Seit ein paar Monaten war ich regelmäßig hier, um mir neue Directions-Haarfarben zu kaufen. Ich hatte mit dreizehn Jahren damit angefangen, mir meinen Topfschnitt Apple Green zu färben, und hatte mich zu einem knalligen Mandarin in Kombination mit Weißblond vorgearbeitet.
Der Verkäufer war ein Typ Mitte dreißig mit blonden, filzigen Locken, Armeehose, Schnürstiefeln und gebatiktem T-Shirt. Die Wände des Ladens waren mit orangenem Teppich beklebt, und von der Decke hingen knallgelbe Lampenschirme mit Bommeln. Im Regal an der Wand stand neben kniehohen Stiefeln mit Nieten eine ganze Palette mit den buntesten Haarfarben. Der Nebenraum war für Bondage-Zubehör reserviert, und im Tresen, hinter dem der Typ stand, standen Bongs, Pfeifen, Armbänder, Tabak und ausgewählte T-Shirts mit Totenköpfen und Che Guevara.
Sein Handschlag war locker, fast schon schlaff. Der Typ war wirklich ultimativ relaxed. Ich genoss den muffigen Laden, den jedes Mal, wenn ich die Tür öffnete, ein anarchistischer No-future-Sex-Vibe umwehte. Um seinen Hals hatte der Verkäufer ein Hundehalsband geschnallt, auf der Marke stand in Großbuchstaben »LEFTY«.
»Ich b-b-bin Olaf. A-a-a-aber du k-k-kannst mich auch L-Lefty nennen«, hatte er sich stotternd bei meinem ersten Besuch vorgestellt und auf seine Erkennungsmarke gezeigt. Das Stück Fahrradkette, das er sich um sein Handgelenk gewickelt hatte, klimperte im Takt seiner ebenfalls zitternden Hand.
Während ich die Directions-Farben inspizierte, trat er an mich heran: »Guck mal, ich hab hier so ein superneues Shirt reinbekommen.« Er griff in einen der vielen herumstehenden Kartons. Ein modriger Geruch schlug mir entgegen, und Lefty klopfte den schmierigen Staub ab, der sich schon auf dem Shirt gesammelt hatte, obwohl es noch nicht mal richtig ausgepackt war.
»Genau dein Ding!«, sagte er und zeigte mir das schwarze T-Shirt, auf dem in goldenen Großbuchstaben das Wort »PORNOSTAR« stand. »Zieh mal an.«
Sofort fummelte ich in meiner Hosentasche nach einem 20-Mark-Schein. Die Möglichkeit, sein Angebot abzulehnen, kam mir nicht in den Sinn. Ich wollte ihn nicht enttäuschen und traute mich kaum, ihm seine Idee von mir nicht abzukaufen. Lefty holte gleich eine Plastiktüte unter dem Tresen hervor und hielt sie mir hin, um meine nass geregneten Sachen hineinzutun.
Ich nahm sie, verzog mich in die Umkleidekabine und musterte mich im Spiegel.
Von den Personenschützern hatte ich ein paar schwarze Schnürstiefel bekommen, die nach Aussage von einem der Sicherheitsleute auch vom SEK getragen wurden. Schwarze Stiefel mit einem etwa fünfundzwanzig Zentimeter hohen Schaft aus einem leichten, aber unzerstörbaren Synthetikmaterial. Gemacht, um sie niemals ausziehen zu müssen. Die Sohle war verstärkt mit einem Stück Metall. Leicht, aber ebenfalls unzerstörbar, falls sich einmal eine Tür oder ein Kniegelenk im Weg befinden sollten. Ich kannte diese Stiefel seit der ersten Begegnung mit den Männern. Sogar die portugiesischen Polizisten hatten diese, oder sehr ähnliche, Stiefel getragen. Bis auf diesen Typ im weißen Hemd, der irgendeine leitende Funktion gehabt hatte und dessen Name mir mittlerweile entfallen war, weil er genauso plötzlich aus meinem Leben verschwunden, wie er damals aufgetaucht war. Ich hatte das Metall sofort an der kniehohen Steinmauer, die den Parkplatz vor dem Garten meines Vaters eingrenzte, getestet. Mit einem ungebremsten Frontkick trat ich gleich, als ich einigermaßen sicher sein konnte, dass niemand zuschaute, gegen die Steinkante der Mauer. Ich erwartete, dass sich zumindest die obere Platte verschob oder sogar ein Teil absplitterte. Leider hielt die Mauer meinem Tritt völlig unversehrt stand, aber die Metallschiene in der Sohle verbog sich stark nach oben. Als ich meinen rechten Fuß wieder auf die Straße stellte, bemerkte ich schmerzhaft, dass weder mein Körpergewicht noch das Hüpfen auf dem Fuß, als hätte ich Wasser im Ohr, das Metall wieder zurückbiegen konnte. Aus Angst, mich vor den Personenschützern zu blamieren, erwähnte ich dies nie. Neu kaufen konnte ich die Spezialschuhe nicht, da es sie nur auf Bestellung in irgendeinem martialischen Katalog gab. Sie nicht anzuziehen war mir auch unmöglich. Ich befürchtete, dass die Männer sich nicht nur um meine Sicherheit sorgten, sondern auch morgens kontrollierten, ob ich wirklich die geschenkten Schuhe trug.
Hier vor dem Spiegel wuchsen sich die Rückenschmerzen nach ein paar Wochen des unermüdlichen Tragens ins Unermessliche aus. Die Sondereinsatzkommandoschuhe, kombiniert mit einer weißen Jeans, wie sie Farin Urlaub auf einem Bravo-Poster anhatte. Darüber das schwarze, muffelige PORNOSTAR-T-Shirt und eine grüne Militärjacke, die zu sauber aussah, um als linkes Statement wahrgenommen werden zu können.
Ich bückte mich, um die Schnürsenkel zu entknoten, und rief durch den Vorhang: »Lefty? Hast du hier auch Stiefel in 42?« Ich hatte schon welche im Auge, aber mich interessierte, welche Lefty mir wohl empfehlen würde. Einen Augenblick später hörte ich, wie er mit einem lauten Wumms ein Paar schwere Lederstiefel vor dem Vorhang abstellte.
Mit ihrem breiten silbern-metallenen Absatz und fünf klobigen Schnallen sahen sie aus wie eine Mischung aus Mad Max, Bondage und Motorradstiefeln. Ich war mit ihnen fast zehn Zentimeter größer und fühlte mich wie ausgewechselt. Genau diese musste ich haben. Stolz und selbstbewusst öffnete ich den Vorhang und streckte Lefty die verbogenen SEK-Schuhe am langen Arm entgegen. »Die kannst du gern wegschmeißen. Ich behalte die hier gleich an, ja?«
Er nahm die Synthetikstiefel mit spitzen Fingern entgegen. »Klaro. Wechselst du jetzt die Seiten, oder was? Die schmeiß ich draußen in den Sondermüll. Pass bloß auf, dass du keinen Ärger kriegst mit deinem Kontaktbeamten.«
Ich schluckte.
»Nu mach dir mal nicht ins Hemd. Ich hab die Schuhe auch mal gehabt, als ich so Türjobs gemacht hab. Tragen doch sonst immer nur V-Männer und Zivilbullen. War nur ’n Witz.« Ich sah ihn an und versuchte ein Lächeln. V-Männer und Zivilbullen. Oh Gott, wie recht er hatte. Ich war einfach dauerhaft im falschen Film. Oder, noch schlimmer, tatsächlich im richtigen.
Alles in allem war ich zu einem bizarren Zwitterwesen aus gänzlich konträren modischen und politischen Strömungen geworden.
Auf der einen Seite der Einfluss von Ex-Bundeswehr- und SEK-Beamten und Schießübungen durchführenden Polizisten. Auf der anderen Seite Punkmusiker, linke Marktstraßen-Ladenbesitzer und dazu noch die Fürsorge meiner Mutter, die meine Secondhandklamotten bügelte, wenn ich mal nicht aufpasste. Ich war mehr als gespalten, wenn es zu meiner Einstellung kam. Eher zersplittert. Es tobte ein Dreifrontenkrieg. Nicht nur optisch fühlte ich mich nicht richtig zusammengefügt. Meine Teile passten weder außen noch innen.
Ich stopfte meine nassen Klamotten in die Plastiktüte, ließ das PORNOSTAR-Shirt an, trat im rhythmischen Klonk-Klonk der schweren Stiefel aus der Kabine und zahlte meine neue Verkleidung.
Als ich den Laden verließ und auf mein Fahrrad stieg, kam Lefty noch kurz mit raus. Lässig in der Ladentür lehnend, drehte er sich eine Zigarette. »Ey, Digga. Du weißt schon, dass das ’ne Nazimarke ist, ne?«
Irritiert blickte ich mich zu ihm um. »Hä, was? Was meinst du?«, fragte ich ahnungslos.
»Na, Odin ist der germanische Kriegsgott!«
Ich stand auf dem Schlauch. Ich hatte das Fahrrad mit meiner Mutter in einem Laden in Altona gekauft und einfach nur nach der Farbe ausgewählt. Dass meine Mutter mit in den Laden gekommen war, war mir unangenehm gewesen, und somit hatte ich mich etwas zu sehr beeilt. Odin kannte ich dunkel aus dem Geschichtsunterricht und aus Erzählungen meines Vaters, von denen ich aber nichts behalten hatte. Das erste Mal ärgerte ich mich jetzt darüber.
»Äh«, ich stotterte, »ich weiß das schon, aber ich mein natürlich einfach nur den Chef der Götter«, daran erinnerte ich mich als Einziges, »und nicht das, was die Faschos daraus gemacht haben.«
Lefty verdrehte die Augen. »Alter, kannste nicht bringen. Ein Hakenkreuz würdest du dir ja auch nicht aufs Fahrrad montieren, nur weil die Inder das irgendwann mal benutzt haben. Ist jetzt halt vergiftet. Warte mal …« Er ging in den Laden, und ich stand draußen und überlegte.
Ich kannte weder die geheimen Codes meines elterlichen Umfelds noch die der Marktstraße. Wer war ich? Wer konnte ich überhaupt sein? Ein Punk mit Personenschutz oder ein ignoranter Reicher, der sich die Codes des Undergrounds zu eigen machte? Konnte ich überhaupt indie sein? Würde ich jemals die romantische Erzählung eines Musikers, der sich von irgendwo tief unten nach ganz oben gespielt hatte, verkörpern können? Indie. Independent. Nichts wollte ich mehr als Unabhängigkeit.
Ich hatte noch nie versucht, jemandem zu erklären, was für eine Belastung die ständige Bewachung durch Personenschutz darstellte. Zu groß war meine Angst, es könnte gegen mich verwendet werden. »Na ja, er ist ja weich gefallen«, tuschelte es nach der Entführung in meiner Schule an jeder Ecke. Menschen, die mich nicht kannten, die nichts von mir wussten außer dieser scheiß Entführungsgeschichte aus der Zeitung, die Fantasien weckte, die ich überhaupt nicht bedienen konnte. Und ja, es war weich, worauf ich gefallen war. So weich wie Treibsand. Knochen hatte ich mir nicht gebrochen, aber ich strampelte und strampelte, um dieser klebrigen Weichheit zu entkommen. Hin zur Unabhängigkeit. Zur Selbstbestimmtheit. Aber was könnte unabhängiger machen als Geld? An diesem Punkt kam ich nicht weiter. Und jetzt saß ich in der Marktstraße auf einem Nazifahrrad, das mir meine Mutter im hausgemachten Stress versehentlich gekauft hatte. Wieso war das vorher nie jemandem aufgefallen? Wenigstens den Sicherheitstypen. Oder hatte sich nur keiner der Männer getraut, mich darauf anzusprechen? Oder dachten die einfach, dass alle »Reichen« sowieso irgendwie Nazis waren?
Eine Minute später kam Lefty wieder raus und streckte mir seine Hand entgegen: »Kleb das mal da drauf, Digga.« Ich nahm den postkartengroßen Aufkleber, der eine Faust abbildete, die ein Hakenkreuz zerschlug. In großen Buchstaben stand darüber: »Überklebt! Du Faschosau!«