Einen Spitznamen hatte ich nie gehabt.
Ich war immer nur Johann gewesen. Ich befürchtete, dass dies auf eine fehlende Nähe zwischen meinen Freunden und mir hinweisen könnte, und traute mich somit auch nicht, die Spitznamen der anderen zu benutzen. Don, Nasi, Turbo, Tiger, Tascha und Sibbi waren für mich einfach Dennis, Tim, Torben, Helena, Natascha und Sandra. Die erste Ausnahme war Speedo.
Speedo besuchte ein norddeutsches Internat, auf das auch andere Jungs gingen, die ich kannte. Jedoch stach er mit seinem dünnen, sehnigen Körper aus der Internatsmasse von braven Jugendlichen aus gut betuchten Familien hervor. Er trug immer einen blauen Adidas-Trainingsanzug mit schwarzer Lederjacke darüber, und seine Haare waren knallrot gefärbt und steinhart hochgegelt. Ich war vor einem halben Jahr achtzehn Jahre alt geworden, Speedo war etwas älter, aber schon mal sitzen geblieben und ging deshalb immer noch zur Schule. Ich hatte meine Abiklausuren bereits geschrieben und wohnte seit Mai 2002 allein in einer Wohnung im Hamburger Schanzenviertel. Die Sicherheitsleute standen, wie schon vor sechs Jahren, als alles begonnen hatte, in ihren Autos vor meiner Wohnung. Ich hatte mich mit meinen Eltern darauf geeinigt, dass ich für die Klausuren noch zu Hause lernen, dann aber sofort ausziehen würde. Sie hatten die Vorstellung, dass unser Zuhause mir eine Art ruhigen Schutzraum zum Lernen bieten würde, den ich woanders nicht würde finden können. Dass mein Schutzraum mir auf Schritt und Tritt folgte und ich den elterlichen Raum als wenig ruhig empfand, befeuerte mich in der Idee, so schnell wie möglich auszuziehen.
Die schulischen Leistungen von allen aus unserer Band waren zusehends schlechter geworden. Der internationale Erfolg war ausgeblieben, und auch der nationale ließ auf sich warten. Unser Album war auf Platz 97 gechartet und eine Woche später schon wieder aus der Bestenliste verschwunden. Die Deutschlandtour war, bis auf wenige Ausnahmen, nicht einmal ausverkauft gewesen, und so sahen wir uns schon mit achtzehn Jahren mit einer bröckelnden Majorlabel- und Schulkarriere konfrontiert. Lenny musste aufs Internat und lernte dort Speedo kennen. Da Lenny nun für Proben nicht mehr wirklich zur Verfügung stand, Speedo auch trommelte und es mit der Schule noch weniger eng sah, ersetzten wir kurzerhand Lenny durch Speedo, mit dem ich mich nun nahezu jeden Tag traf.
Ich hatte den 8-Spur-Minidisc-Recorder aus meinem Kinderzimmer mit in meine Wohnung im dritten Stock genommen und mir ein paar Yamaha-NS-10-Lautsprecher gekauft. Außerdem besaß ich diverse Mikrofone, die wir nach und nach entweder geschenkt bekommen oder die ich mir, Ratschlägen folgend, gekauft hatte. Von clubeigenen Gesangsmikrofonen konnte man schließlich mindestens Herpes bekommen.
In einer kleinen Abstellkammer, die wohl eigentlich für eine Waschmaschine gedacht war, die ich nicht besaß, richteten Speedo und ich einen Aufnahmeraum ein. Auf sechs Quadratmetern konnten wir sein Drumset aufbauen und die umliegenden Wände mit Sofakissen isolieren. Auf einem wackeligen Gestell aus Bierkisten, Mikrofonstativen und Wäscheständer installierten wir meine Matratze über dem Drumset und hängten ein paar Mikrofone an die Stellen, von denen ich dachte, dass es Sinn machen würde.
Ich stellte die Mikrofonvorverstärker am Mischpult des Minidisc-Recorders nach Gefühl ein, und Speedo begann, nachdem ich die Tür geschlossen hatte, in einer ohrenbetäubenden Lautstärke zu spielen. Es dauerte nur wenige Minuten, da klingelten die Nachbarn an meiner Wohnungstür Sturm und schrien mich an, ob ich noch alle Tassen im Schrank hätte. Bei ihnen seien sie nämlich gerade rausgefallen.
Nach ein paar Wochen fanden wir dann einen Proberaum in einem Baucontainer auf dem Platz des Gartenkunstnetz e. V., den uns ein Bekannter überließ.
Mehrmals die Woche holte mich Speedo mit seinem roten Fiat von der Schule ab, und wir fuhren in die Schanze, um zu proben.
Hatte ich in den vergangenen Jahren eine tiefe Abneigung gegen das Beifahrersein entwickelt, genoss ich es, mit Speedo Auto zu fahren.
Die Geschichten, die er auf unseren Autofahrten über das Internatsleben erzählte, interessierten mich mehr als alles andere. Die räumliche Abgeschiedenheit, gepaart mit hormonellen Umschwüngen und Experimentierfreude im wortwörtlichen Freiraum, führte an den Wochenenden zu einer Melange aus Alkohol, Drogen, Einsamkeit, einsamer Zweisamkeit und Sex. Die Jugendlichen, die am Wochenende nicht nach Hause fuhren, ergaben sich in völliger Ziellosigkeit und Langeweile so ziemlich jeder Droge, die man durch ein Erdloch, einen Apfel oder über einem Blech rauchen konnte. Es gab weder Rauchmelder in den Zimmern noch Feuerlöscher auf den Feldern, und somit entbrannte in den Mädchen und Jungen, die diese Schule besuchten, an den Wochenenden ein Feuer, das Speedo bis in meine Wohnung in der Susannenstraße transportierte.
The stain in the carpet, this drink in my hand
The strangers whose faces I know
We meet here for our dress rehearsals to say
I wanted it this way[17]
Speedo war mehr Beschreibung als Name. Sein Nachname klang nach osteuropäischer Herkunft, hatte aber anscheinend nicht das Potenzial, ihm auch nur eine einzige Anekdote über seine Familie entlocken zu können. Mehr als das. Speedo schien vollkommen abgekoppelt von seiner Herkunft zu sein. Er war einfach nur der, der er heute war. Ein Mensch, der vollkommen in der Gegenwart existierte. Vielleicht eine Summe aus den einzelnen vergangenen Teilen, dennoch aber ein vollends freier, ungebundener Geist. Seinen Nachnamen konnte ich mir nie merken. Speedo war einfach nur Speedo. Ohne Herkunft. Ohne Nachnamen. Ohne Vergangenheit.
Der Mann ohne Vergangenheit zog mich in seinen Bann. Am Wochenende trafen wir uns im Schanzenviertel in der Nähe meiner Wohnung mit unserem gemeinsamen Bekannten Martin, einem kokainabhängigen Goldschmied. Als wir ihn das erste Mal vor seinem Laden trafen, sprach er uns gleich auf Speedos knallrote Haare an. »Mörder-Haare« war das Erste, was wir von ihm hörten. Wir mussten lachen, weil uns der Ausdruck irgendwie antiquiert vorkam. Mit ausladenden Armbewegungen ahmte Speedo sofort einen Axtmord an mir nach, und wir setzten uns zu ihm. »Nee, echt, ey«, begann Martin sofort ein Gespräch, »Mörder-Haare. Find ich super. Und Mörder-Outfit, eh!« Er sah auf Speedos Lederjacke und seine abgewetzten Converse, in denen seine Füße in dicken, knallbunten Wollsocken steckten. Er streckte uns seine Hand hin. Seine Fingernägel waren die dreckigsten, die ich in meinem Leben je gesehen hatte. »Ich bin Martin.« – »Mördermartin, oder was?«, grinste ihn Speedo an. Martin grinste leicht irre zurück.
An einem Freitag brachte uns Martin, der ab jetzt nur noch Mörder hieß, das erste Mal einen mehrfach verdauten Plastikball in der Größe eines Kirschkerns aus dem Schanzenpark mit. Speedo und ich hatten schon mehrfach gesehen, wie Mörder die Bälle mit den Zähnen aufbiss und das weiße Pulver unter seinem Goldschmiedetisch auf einer Steinplatte verteilte. Mit einer gammeligen EC-Karte hackte er es klein und zog es sich durch einen 10-Mark-Schein in die Nase, den er, wie auch sein restliches rumliegendes Bargeld, noch nicht in Euro eingetauscht hatte.
»Entweder ich kauf mir jetzt was zu essen, oder ich geh in den Park«, war ein Satz, der dem dürren Mörder häufiger über die Lippen kam und der zwischen Speedo und mir zu geflügelten Worten wurde. »Entweder ich leg mich jetzt schlafen, oder ich geh in den Park«, »Entweder ich fahr gleich los, oder …« und so weiter.
Immer häufiger saß ich in meinen letzten Schultagen und später während des Zivildienstes am Nachmittag mit Speedo vor Mörders Laden. Sehr schnell fanden sich Speedo, Mörder und ich in einer angenehm aufgekratzten Gleichförmigkeit wieder. Morgens fuhr ich ins Diakonische Werk, und nachmittags trafen wir uns vor Mörders Laden. Neben den beiden dürren, junkiehaften Gestalten Mörder und Speedo fühlte ich mich ein bisschen zu zahm. Doch Speedo hatte irgendwie einen Narren an mir gefressen und war die ganze Zeit so positiv energiegeladen und fast schon hysterisch, dass ich in der Runde ein nie da gewesenes Zugehörigkeitsgefühl entwickelte. Das erste Mal hatte ich das Gefühl, dass ich von zwei Menschen einfach nur gemocht wurde. Ich war Teil eines mördercoolen Trios.
Speedo war der erste Schlagzeuger, den ich kennenlernte, der einen Song spielte und nicht nur Takte. Unsere Band allerdings driftete nach der Schule schnell auseinander. Daniel war direkt nach dem Abi nach Berlin gezogen und erzählte mir, dass Jasmin jetzt nur noch mit irgendwelchen superalten Berliner DJs abhing. Wohl sogar mit einem von denen zusammen war. Der Gedanke an Jasmin, irgendwelche Berliner DJs und Daniel, den es ebenso dorthin zog, deprimierte mich, und somit brach ich nach und nach den Kontakt zu allen alten Bandmitgliedern ab.
Speedo hatte einen absolut unmittelbaren und treibenden Trommelstil, der vielleicht nicht perfekt, dafür umso mitreißender war. Unsere neue Band, Psychodiskothek, fußte auf seinem radikal wackligen Schlagzeugstil, gepaart mit meinem Gitarrengeschrammel, deutschen Texten und der Unfähigkeit, irgendein Solo zu spielen. Meine Texte zu unserem neuen Musikprojekt waren Programm:
Du drehst dich langsam um und versinkst.
In Gedanken.
Ob’s vorbei ist oder gerade erst beginnt.
Um nichts in der Welt kann etwas heilen, das zerstört.
Um nichts in der Welt kann einer reden, der nichts hört.
Im War, im Ist, im Sein,
nichts zu vergeben, nichts annehmen, den Rest verneinen.
Dennoch verblasste das Musikmachen gegen alles andere, was wir zu zweit unternahmen. Konzerte spielten wir nie, aber Psychodiskothek gab uns einen weiteren Grund, zusammen abzuhängen. Speedo und ich wollten ungestört sein. Jammen, Alkohol trinken, unser neues Bandmerchandise entwerfen. Ein in Stein gemeißelter Schriftzug aus graffitiartigen Großbuchstaben, mit angedeuteten Flammen aus den Rissen der bröckelnden Steine.
Wir gingen regelmäßig, immer öfter einen kleinen harten Ball in der Hosentasche, nach dem, was wir Bandprobe nannten, in meine Wohnung.
Jeder ein Beck’s in der Hand und zwei weitere auf dem Couchtisch, ließen wir uns auf meiner türkisfarbenen Kunstleder-Sofagarnitur nieder, die schon lange nicht mehr als provisorischer Schallschutz herhalten musste. Ich holte sofort den Ball aus meiner Tasche und begann, an ihm herumzubeißen, um an das Kokain zu kommen. Unvermittelt erinnerte ich mich an die Momente in meiner Kindheit, in denen ich verzweifelt an der verschweißten Plastikfolienverpackung von Lollis herumgebissen hatte, um endlich an den runden Zuckerball zu kommen. Mit klebrigen Fingern schaffte ich es damals nach ein paar Minuten, die nass gesabberte und zerkaute Plastikfolie so weit nach unten zu schieben, dass ich schon mit dem Lecken anfangen konnte, auch wenn das Plastik noch zerfleddert am Stiel hing. Auch diesmal konnte ich es nicht erwarten, an den vielversprechenden Kern der Verpackung zu kommen. Meine Hände waren schwitzig und das Plastik gut verschweißt. Mehrfach biss ich mir auf die Lippe. Meine unteren Schneidezähne schmerzten schon ein bisschen.
Mörder war am Nachmittag erst nach einer knappen Stunde aus dem Park zurückgekommen. Normalerweise dauerte es nur wenige Minuten, aber heute war etwas anders gelaufen. Mörder wirkte nervös, als er wiederkam. Der Mann, von dem er die Bällchen kaufen wollte, hatte erzählt, dass es kurz zuvor eine Razzia im Park gegeben hatte. Die Polizei hatte den Park abgeriegelt und die Personalien sämtlicher Farbigen, und somit potenziellen Drogenverkäufer, im Schanzenpark aufgenommen. Der Dealer hatte alle Plastikbälle runterschlucken müssen. Er stand also buchstäblich mit leeren Händen vor Mörder, als dieser wie gewöhnlich gegen 17 Uhr seine Runde um die Hecken des Parks drehte. Er müsse, hatte der Dealer gesagt, und genau dies erzählte uns nun Mörder etwas außer Atem, erst mal kurz in den Busch gehen, um ihm die ein paar Stunden zuvor verschluckten Plastikkugeln zu überreichen.
»Er meinte ganz entspannt«, jetzt fuhr Mörder mit einer leicht verstellten Stimme fort, »kommsu in einer Stunde zurruck. Dann is durch.« Er fuhr den Weg vom Magen in Richtung seines Hinterns mit seinen dreckigen Händen nach. »Der hatte wohl morgens schon was geschluckt und kennt seinen Verdauungskreislauf so in- und auswendig, dass er meinte, inner Stunde kackt er mir meine Bestellung vor die Füße.« Speedo und ich verzogen das Gesicht. »Na ja«, fuhr Mörder fort, »is ja auch sein Kapital, der Kreislauf.«
Dann hatte Mörder mir eine der Kugeln in die Hand gedrückt, und jetzt saß ich mit schwitzenden Fingern damit auf meiner Couch und liebkoste, ohne weiter darüber nachzudenken, mit Zunge, Lippen und Zähnen die feinen Rillen der Plastikverpackung.
Die Wirkung des Pulvers überzeugte uns beide so nachhaltig, dass wir in den kommenden Monaten eine wunderbare Wochenendbeschäftigung gefunden hatten. Die »Depressionen«, die sich irgendwann zum Wochenstart einstellten, versuchten wir fachmännisch mit MDMA, dem Reinstoff von Ecstasy-Tabletten, ebenfalls in kristalliner Pulverform, abzufedern. Auch an MDMA kamen wir mühelos heran, da ein ehemaliger Klassenkamerad aus dem Internat nebenberuflich Drogendealer geworden war.
Als es uns nach zu vielen Wochenenden des Zu-zweit-Drogennehmens und Band-Merch-Entwerfens zu zweit langweilig wurde, luden wir Mörder und Svenja zu mir ein. Svenja war Mörders unwahrscheinlich gut aussehende Freundin. Weder Speedo noch ich verstanden, was sie mit diesem abgehalfterten Drogenabhängigen wollte, aber wir freuten uns natürlich trotzdem, wenn sie ihn begleitete.
Wenn es uns auf meinem Kunstledersofa zu ruhig und Speedo und ich zu frustriert wurden, weil Svenja weder mit Mörder noch mit einem von uns knutschen wollte, verließen wir die Wohnung und zogen durch die Bars von St. Pauli. Die Freundin vom Drogendealer arbeitete im Zoë, einer Bar, in der unzählige Sofas standen und in der wir günstig oder manchmal sogar umsonst trinken konnten. Auch diese Freundin war bezaubernd, und da alle außer Speedo und mir wunderschöne, schlaue und aufregende Freundinnen zu haben schienen, fingen wir irgendwann an, uns zu später Stunde nur noch aufeinander zu konzentrieren. Irgendwann brauchte es nicht mehr als eine Nase Kokain und ein paar Bier, und wir fingen an, übertrieben leidenschaftlich miteinander zu knutschen. Mit weit aufgerissenen Mündern zungenküssten wir uns durch die Hamburger Bars. Es war nicht das Gleiche, wie eine Frau zu küssen, aber irgendwie unkomplizierter und mit weniger Missverständnissen verbunden. Die Einfachheit, mit der so ein Kuss zwischen uns funktionierte, reizte mich, und von der Aufmerksamkeit, die dies in unserem Freundeskreis erregte, ließen wir uns nur noch mehr anspornen. Ich genoss es sehr, Speedo zu küssen und dabei angestarrt zu werden. Ich musste ihn weder überzeugen noch darauf achten, wie ich aussah oder was ich vorher sagte. Mit ihm schien alles einfacher zu sein. Wir mussten keine Worte wechseln, ein Blick genügte, und unsere Lippen berührten sich. Keiner von uns war beleidigt, wenn sich einer von uns einen Drink nahm und den anderen deshalb lachend wegstieß. Unsere männlichen Freunde fanden es zwar etwas befremdlich, doch gerade diese Sonderrolle gefiel mir. Mehrfach die Woche fielen wir stark angetrunken und aufgeputscht übereinander her. Ab und zu öffnete ich ein Auge und beobachtete die Menschen um uns herum. So angestarrt zu werden, weil ich etwas machte, nicht weil ich etwas war, gefiel mir. Es war, wie auf einer Bühne eine Show zu spielen. Nur ohne die mühsamen Bandproben vorher.
Einmal waren wir an einem Nachmittag schon so durchgefeiert, dass uns in meiner Wohnung langweilig wurde und wir uns, da noch keine Bar geöffnet hatte, entschieden, gemeinsam in die Badewanne zu gehen, um ein bisschen runterzukommen. Oder rauf. Eins von beidem. Hauptsache, keine tödliche Langeweile. Ich ließ das Wasser ein und kippte etwas Shampoo rein. Ein benebeltes Grinsen auf den Gesichtern, zogen wir uns, als die Wanne voll war, aus und stiegen ein. Speedo saß mit dem Rücken zur Wand und schaute in Richtung meiner Waschmaschine, auf der ein paar leere Flaschen standen und darüber ein Emailleschild einer Fünfzigerjahre-Werbung der Firma Schlitz, die ich vor Kurzem auf einem Flohmarkt gekauft hatte. Das Schild zeigte eine Küche. Etwas auf dem Herd war angebrannt. Eine verzweifelte Hausfrau warf sich in die ausgebreiteten Arme des Mannes, der gönnerhaft sagte: »Don’t you worry, darling, you didn’t burn the beer.«
Ich kniete mit eingezogenem Bauch auf der anderen Seite der Wanne. Der runde Drehknauf, mit dem man den Abfluss öffnen und schließen konnte, drückte mir unangenehm in den Rücken, und ich versuchte, mir etwas mehr Badeschaum zwischen die Beine zu spülen. Mir war obenrum zu kalt und untenrum zu heiß. Keiner von uns traute sich, die Beine auszustrecken, aus Angst, man könnte irgendwas des anderen berühren. Schnell verpuffte auch der Shampooschaum zu einer durchsichtigen Bläschenschicht auf dem langsam immer kälter werdenden Wasser. Ich sah Speedos Schamhaare durch den Schaum. Seinen dunklen, schlaffen Penis und seinen gänzlich untätowierten weißen, hageren Körper, der kein Gramm Fett an sich hatte. Ich sah seine Füße, die ungewöhnlich dreckig waren und langsam immer sauberer wurden. An der Wasseroberfläche erkannte ich nasse bunte Wollfussel, die sich von seinen Zehen gelöst hatten und langsam nach oben trieben. Seine Hände mit den schlanken, langen Fingern oberhalb der Wanne, die so stark durchblutet waren, dass sie selbst im faden Dämmerlicht des Badezimmers fast so rot wie seine Haare leuchteten. Ich ließ meinen nackten Po nach hinten gleiten, der Drehknauf drückte sich mir jetzt unangenehm zwischen die Schulterblätter.
Speedo grinste mich an. Ihm schien die Situation zu gefallen. Er schien ohnehin an Situationen, die ins Unangenehme zu kippen drohten, einen gewissen Gefallen finden zu können. Livin’ On The Edge von Aerosmith fiel mir immer mal wieder ein, wenn ich mit Speedo zusammen war. Er schien ständig die Gefahr zu suchen. Immer wieder gefährlich nah am Abgrund balancierend.
Livin’ on the edge
You can’t help yourself from fallin’
Livin’ on the edge
You can’t help yourself at all[18]
Die Augen weit aufgerissen, lehnte sich Speedo auf einmal in meine Richtung und lachte laut. Wie ein Maschinengewehr knallten die Silben aus seiner Kehle: »HA HA HA!« Ich kannte dieses Lachen zu gut. Jedes Mal, wenn er so lachte, schien irgendwas in seinem Hirn überraschend verdrahtet worden zu sein. Den Mund weit aufgerissen, schien er auf die Absurdität der Situation hindeuten zu wollen. Wenn er so in einer Bar lachte, drehte er sich mit nahezu rotierenden Kopfbewegungen sofort nach allen Seiten um, da er wusste, dass sein stakkatoartiges Lachen sofortige Aufmerksamkeit bedeutete. Auch hier im Badezimmer schaute er kurz zur Tür, als bestünde die Möglichkeit eines spontan erscheinenden Publikums. »HA HA HA HA!!« Er lehnte sich weiter nach vorne, seine rechte Hand bewegte sich wie in Zeitlupe auf mich zu. Speedo hatte mittlerweile diesen leicht irren, latent übernächtigten Blick, den ich schon von Mörder kannte. Ich zog reflexartig meinen Bauch noch fester ein und versuchte ein Lächeln. Es sah wohl sehr dämlich aus, denn ich sah in Speedos blitzenden Augen, dass er meinen Schreck erkannt hatte. Seine Hand änderte die Richtung und griff nach der Flasche Bier, die auf der Waschmaschine stand. Er nahm sie, führte sie zum Mund und ließ sich, während das Bier in seinen Mund lief, so heftig nach hinten fallen, dass das Badewasser in einer großen Welle über den Rand schwappte.
Ich grinste verstört, stand schnell auf und drehte mich um. Ein Bein schon aus der Wanne. Im Spiegel über der Waschmaschine sah ich Speedo mit eingefrorenem Gesicht im lauwarmen Wasser sitzen. Sein Gesichtsausdruck hatte sich innerhalb von Sekundenbruchteilen geändert. Von total irre zu fast schon depressiv. Ich nahm mir ein Handtuch und schmiss ein weiteres auf die riesige Pfütze auf dem Boden. »Entweder trockne ich mich jetzt ab, oder ich geh in den Park.« Ich lachte Speedo an, und als hätte sich wieder ein Schalter in seinem Hirn umgelegt, lächelte er mit müden Augen zurück und ließ, ohne eine weitere Regung zu zeigen, das Bier in die Badewanne fallen. »Ich komm gleich. Muss nur noch den Zuber austrinken.«
Als wir wieder trocken und high waren, verließen wir die Wohnung. Die ganze Badewannenaktion war mir irgendwie peinlich, und ich wusste überhaupt nicht mehr, was beziehungsweise ob wir uns überhaupt etwas davon versprochen hatten.
Vor der Tür trafen wir Svenja. Wir begrüßten uns freudig, und sie erzählte, dass Mörder gerade zu nichts zu gebrauchen war und sie Lust hatte, mit uns auszugehen.
Speedos Lippen öffneten sich. Er grinste mich an und nahm mich mit einer Hand bei der Hüfte, um unsere Knutschshow abzufahren. Normalerweise hätte ich mitgemacht. Ich war von der Badewanne, dem Bier und dem abklingenden Kokainrausch sowieso völlig rammdösig und hatte Lust, dass etwas passierte. Allerdings hatte ich gleich beim Verlassen meiner Wohnung den schwarzen 7er BMW an der Straßenecke stehen sehen. Auch durch den Auszug bei meinen Eltern hatte ich sie nicht abschütteln können. Die Personenschützer hatten hier im Schanzenviertel keinen Ort, an dem sie sich aufhalten konnten, und somit saßen sie Tag und Nacht in ihren Autos vor meiner Tür. Wie damals. Der einzige Unterschied war, dass ich gänzlich das Interesse verloren hatte, in eines der Autos einzusteigen.
Obwohl das Licht aus war, erkannte ich im Innenraum die Umrisse von Martens. Sein Gesicht bläulich kühl beleuchtet von einem Handydisplay.
Ruckartig und mit steifem Rücken drehte ich mich zu Svenja und ließ Speedos Versuch, mich zu küssen, ins Leere laufen. »Dann lass doch zu dir gehen, bisschen Musik hören und überlegen, was wir dann machen«, schlug ich vor. Ein Besuch bei Svenja, die mit Mörder zusammenwohnte, fühlte sich für mich wahnsinnig aufregend an.
Speedo, der fast an meine Schulter gestoßen war, schaute mich überrascht an. Ich ignorierte seine aufkeimende schlechte Laune, die sich in einem merkwürdig verzerrten Gesichtsausdruck manifestierte. Er wirkte ernst und schlagartig schlecht gelaunt. Gleichzeitig grinste er irgendwie steif und eingefroren. Ein bisschen erinnerte er mich mit seinen gefärbten Haaren an den Joker aus Batman. Ich drehte mich von ihm weg, um nicht schlecht drauf zu kommen, und sah zu Svenja. Sie lächelte mich an. In Speedos Hirn schien sich wieder ein Schalter umzulegen: »Ich habe sowieso noch ’n Date in der City.« Er grinste. »Sssssitttyy.« Er betonte das Wort noch einmal so affektiert, dass wir alle lachen mussten.
»Holy Jesus! What are these goddamn animals?« Er schlug unvermittelt mit einer imaginären Fliegenklatsche um sich und zitierte damit eine Szene unseres derzeitigen Lieblingsfilms Fear And Loathing In Las Vegas.
»No point in mentioning these bats!«, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen und hoffte, wir könnten so gut auseinandergehen. Tatsächlich schien die unangenehme Situation von eben bei Speedo wie gelöscht. Wir umarmten uns, und Speedo schloss die schwarze, mittlerweile abgewetzte Lederjacke über seinem blauen Trainingsanzug. Noch einmal näherte sich sein Kopf schnell dem meinen, er zog mich ruckartig zu sich heran und flüsterte mir ins Ohr: »Alter! Die hat bestimmt ein Kuhzimmer, du wirst schon sehen!« Genauso ruckartig ließ er mich los. Stieß mich fast weg. Ich machte einen Schritt zurück und lachte. Ich zwinkerte ihm zu, doch Speedo schaute mich ganz ernst an, um den Bruchteil einer Sekunde später wieder Herr der Lage zu sein. Seine aufflackernde Eifersucht war anscheinend genauso blitzartig verflogen, wie sie gekommen war. Als ob zwei gänzlich unterschiedliche Seelen in seinem Körper wohnten. Wie in so einem Kasperletheater, fuhr es mir in den Kopf. Plötzlich taucht der Kasper auf dem Boden auf, taucht wieder ab, und der Seppel erscheint genauso unvermittelt und zappelt rum. Nur wer steuert hier eigentlich?
Svenja und ich blickten ihn an. Er grinste zurück, drehte sich um, ging schnell ein paar Schritte, um dann noch einmal herumzuwirbeln. »Did you see what God just did to us?«, schrie er fast, die Hände affektiert gen Himmel und dann auf Svenja gerichtet. Für einen kurzen Moment musste ich über den dramatischen Abgang lachen. Speedos Mundwinkel flackerten in Sekundenschnelle von einer Position in die andere. Dann drehte er sich um und verschwand im Sog der den Abend beginnenden Menschen, in den Lichtern des Viertels.
Ein mulmiges Gefühl des Abschieds machte sich in meinem Körper breit. Speedo war für mich ein Neuanfang gewesen. Zumindest die Chance für einen Neuanfang. Nie hatte ich Speedo irgendetwas von den Sicherheitsleuten oder sonstigen Dingen, die mit der Entführung zusammenhingen, erzählt. Obwohl es so breit in der deutschen Öffentlichkeit bekannt war, fühlte es sich für mich immer noch wie das Privateste an, was ich mitzuteilen hatte. Und wie er mich jetzt so stehen ließ, wie ich ihn so hatte abblitzen lassen, beschlich mich ein komisches Gefühl. Hatte ich die Chance auf einen Neuanfang verpasst? Hätte ich ihn halten sollen?
Ich blickte zu Svenja. Sie kannte Speedo schon ein paar Monate und ließ sich inzwischen viel weniger von seiner Exaltiertheit beeindrucken, als ich es noch tat. Wir sahen einander an. Ihre Haare verdeckten einen Teil ihres linken Auges. Die rechte Seite ihres Kopfes war fast kahl rasiert, wobei das nur auffiel, wenn sie ihr Haar mit einer routinierten Handbewegung im Nacken bündelte und ein paar Zentimeter über ihre linke Schulter fallen ließ. Ein Undercut, der versinnbildlichte, dass etwas Verstecktes in dieser ohnehin schon aufregenden Frau ruhte, was ich nur zu gern kennenlernen würde, machte sie für mich noch spannender. Ohnehin zeugte ihre Frisur von einer selbstbewussten Eigenständigkeit, die mich nachhaltig beeindruckte. Sie erinnerte mich an Juliette Lewis aus dem Film Natural Born Killers. Mallory hatte in dem Film unzählige Frisuren. Svenja musste sich für eine komplette Veränderung ihres Typs nur einmal drehen. Ein paar blonde Strähnen durchzogen ihre dunklen Haare. Lang fielen ihr weich gelockte, vorsichtig gedrehte Haarsträhnen über die Schultern, bis eine Handbewegung oder nur ein Windstoß den Blick auf ihren Undercut oder den angedeuteten Bob auf der anderen Seite ihres Gesichts freigab. Trug sie ihr Haar offen, sah sie aus wie eine zeitlos schöne Frau, band sie es sich zu einem Zopf, hatte sie etwas Verwegenes, etwas Aufregendes, das mich unwiderstehlich in ihren Bann zog. Wenn sie lachte und den Kopf dabei überschwänglich zur Seite warf, fielen ihr ein paar Haare ins Gesicht, verdeckten ihre Augen, gaben aber den Blick auf ihren perfekten Hals frei, in dem ihr Kehlkopf zart auf und ab hüpfte. Um ihren fragilen Nacken trug sie eine von Mörders schweren silbernen Ketten mit einem brennenden Totenkopf dran. Wenn sie mich ansah, fühlte ich mich, als würden mir ihre braunen Augen jeden Moment mein Herz durch die Augenhöhlen aus meiner Brust saugen. Sie wäre die perfekte Komplizin für ein Verbrechen gewesen. Kein Zeuge hätte sich bei einer Aussage auf eine Frisur festlegen können. Wir gegen den Rest der Welt. Mickey und Mallory.
Erst als wir vor der Tür des Hauses standen, in dem sie anscheinend wohnte, merkte ich, wie aufgeregt ich war. Svenja allerdings suchte ganz entspannt den Haustürschlüssel und schaute ab und zu zu mir, wobei sie mich anlächelte. Irgendwann hielt sie mir ihre lederne Handtasche hin: »Kannst du mal suchen bitte?« Überrascht nahm ich die Tasche an mich. Noch nie hatte ich in die Handtasche einer Frau schauen dürfen. Ich nahm meine Taschenlampe aus der Gürteltasche, die ich trug, und leuchtete hinein. »Ernsthaft?«, kommentierte Svenja sofort. »Du hast ernsthaft ’ne Taschenlampe in deiner supermodernen Gürteltasche? Wir sind doch nicht im Dschungel! Mein Opa hatte immer so ein Survival Bag dabei. Der war aber auch früher im Krieg.« Ich schluckte. Ich hatte meinen Zivilbullenlook noch nicht gänzlich ablegen können.
Neben diversen Schminkutensilien, Haarspray und zwei Reclam-Heften hatte ich den Haustürschlüssel mit meiner 20 000-Lumen-Leuchte in der Tasche sofort gefunden. Ich sah Svenja verunsichert an. Was war falsch an der Gürteltasche? War ich wirklich so uncool? Warum stand sie dann überhaupt hier mit mir? Hatte sie irgendwelche anderen Gründe? »Im Krieg warste wohl nicht, oder?«, fragte Svenja schnippisch. Ich überlegte kurz, was ich sagen sollte. Irgendwas Souveränes hätte es sein müssen. Irgendwas, um sie zu beeindrucken. Stattdessen schluckte ich nur, steckte meine Taschenlampe zurück in meine Bauchtasche, drehte sie nach hinten, sodass Svenja sie nicht mehr sehen konnte, und reichte ihr den Schlüssel. Sie nahm ihn, schloss auf, und ich bedeutete ihr mit einem ausgestreckten Arm hineinzugehen. »Nach dir. Alte Schule. Hab ich im Krieg gelernt.« – »Damit ich dann als Erste erschossen werde?« Svenja schaute mich mit funkelnden Augen an. »Immerhin könnte ich dich dann auffangen, und du könntest in meinen Armen ausbluten«, antwortete ich und bemühte mich, keine Miene zu verziehen. Gleichzeitig machten wir einen Schritt in den Hausflur, drängten uns aneinander vorbei, schauten uns in die Augen und küssten uns.
Svenja war deutlich älter als ich. Acht oder neun Jahre. Genau wusste ich es nicht. Mitte, eher Ende zwanzig. Alles an ihr schien zu betonen, dass sie wusste, was sie wollte. Eine Mischung aus Christiane F., Pippi Langstrumpf und Mallory Knox. Ich hatte den Eindruck, dass, wenn man mit ihr zusammen war, jederzeit alles passieren konnte. Ich war schlagartig verliebt und hatte das Gefühl, dass Mörder und sie ohnehin nicht mehr so viel füreinander übrighatten. Er nahm weiterhin immer größere Mengen Kokain zu sich, und Svenja schien etwas anderes für ihr Leben zu wollen.
Während wir bald jeden Tag und jede Nacht miteinander verbrachten, schien Speedo die Nächte immer länger auszudehnen. Die wenigen Male, die wir uns am Tag noch trafen, wurden immer komischer. Er war die meiste Zeit verkatert, und ich hatte irgendwann keine Lust mehr, mir seine Frauengeschichten aus irgendwelchen Diskotheken anzuhören. Irgendwie psycho fand ich das auf einmal. Unsere Band legten wir auch auf Eis. Merchandise produzierten wir nie und spielten noch nicht mal ein einziges Konzert. Für mich waren die Ausläufer von Score! und der Anfang von Psychodiskothek der Weg aus der versehentlich erworbenen Popidentität und den ätzenden Gala- und Bravo-Artikeln. Aber die Aussicht, dass ich mich schon wieder aus irgendeiner bekannten Vorgeschichte würde herausspielen müssen, deprimierte und demotivierte mich zusehends, und somit beschränkte sich mein Musikmachen, wie schon vor Beginn von Am kahlen Aste, auf Gitarre spielen und Songs schreiben und gelegentliche Aushilfsjobs in Hamburger Tonstudios.
Ich kann nicht fühlen, was du denkst,
Wie kann ich wissen, was du tust,
Wenn ich mit geschlossenen Augen
Nach dem rätsel, was du suchst?
Wie kann ich wissen, was du meinst,
Wie kann ich ahnen, was du willst,
Wenn du mir nicht erzählst,
Was deinen Hunger stillt?
Wie kann ich dir schenken, was du willst,
Wenn du es selbst nicht weißt,
Bist du verwirrt oder verlegen
Oder »nur schüchtern«, wie es heißt?
Wie es heißt, ist mir egal,
Ich mach mich selber auf den Weg
Nach der Wahl der besten Qual,
Die ich dann irgendwo versteck’.
Und du kannst suchen, wo du denkst,
Nur finden wirst du nichts –
Weil du nicht weißt, wonach du suchst,
Und dein Verstand lässt dich im Stich.
Und du fragst: »Johann, kann es sein,
Dass du ständig müde bist?
Und ist es möglich, dass kein Schlaf hilft,
Und du irgendwas vermisst?«[19]