33.

Svenja und ich waren ein Jahr später, etwas außerhalb von Hamburg, mit ein paar Freunden von ihr in ein größeres Wohnprojekt gezogen. Spätestens als wir uns einen Hund anschafften, brach der Kontakt zu Speedo endgültig ab. Einen eigenen Hund zu besitzen war für ihn die sichere Vorstufe zur absoluten Spießigkeit.

Bald wusste ich nicht mal mehr, ob er noch in derselben Stadt lebte wie wir.

Und sosehr ich die Zeit mit Svenja genoss, die Trennung von Speedo belastete mich, und immer häufiger fand ich mich in Gedanken darüber, wie es wäre, mal alleine wegzufahren. So richtig allein. Der Volvo meiner Mutter, den sie mir mittlerweile komplett überlassen hatte, ein Stapel meiner Lieblings-CDs auf dem leeren Beifahrersitz und kein Auto hinter mir. Am besten gleich tausend Kilometer. Je länger ich darüber nachdachte, je unmöglicher es sich anfühlte, umso größer wurde mein Wunsch.

 

Wir saßen gerade im Garten mit den Kindern unserer Mitbewohner, als mein Handy klingelte. Ich nahm den Anruf entgegen, obwohl es eine unbekannte Nummer war. »Ja, hallo?«, sagte ich, wie immer, ohne meinen Namen zu nennen. »Hallo, hier ist Sebastian.« Ich atmete ein und überlegte. Sebastian? »Welcher Sebastian?«, antwortete ich kurz. »Sebastian Labinsky.« – »Labinsky?«, ich stand auf dem Schlauch. »Noch nie gehört. Sorry. Kennen wir uns?« – »Hier ist Speedo! Du Esel!«, tönte es mir entgegen. Gefolgt von einem lauten »Ha!«.

»Ach! Speedo. Hi!«, sagte ich und entfernte mich aus der Runde.

Ich hatte Speedo seit über einem Jahr nicht mehr gesehen. Svenjas Haare waren mittlerweile gleich lang und in einem hellen Rehbraun gefärbt. Ihre engen Jeans waren fließenden Kleidern gewichen. Ein befreundetes Paar, mit dem wir zusammenlebten, hatte mich gefragt, ob ich nicht Patenonkel für deren Kind werden wolle. Sie erklärten mir, dass ich ja schon mit unserem Hund so liebevoll umgehen würde, so zuverlässig sei wie niemand sonst, den sie kennen würden, und das, obwohl ich ja viel jünger als sie sei. Die SMS, die ich schrieb, wenn sich abzeichnete, dass ich ein paar Minuten zu spät kommen würde, fanden sie »super«, und eines der Kinder habe mal gesagt, Johann würde »viel besser Auto fahren als Papa«. Nach einer kurzen Pause ergänzten sie dann noch: »Außerdem sehen wir das ganze Patenonkel-Thema auch im traditionellen Sinne. Also, wenn uns mal was passieren sollte, wäre Jakob bei dir ja abgesichert.« Ich schluckte. Abgesichert. Ich traute mich nicht zu fragen, was sie genau damit meinten. Ebenso verbot ich mir das Gedankenspiel, ob Jakob in meiner Gegenwart vielleicht eher unsicherer war als bei seinen Eltern. Sozusagen entsichert anstatt abgesichert.

 

»Sebastian! … Hi. Wie, äh, geht’s denn so?« Ein »Speedo« kam mir nach der langen Zeit, in der wir einander nicht gesehen hatten, nicht mehr über die Lippen, obwohl ich seinen echten Vornamen nie gekannt, geschweige denn benutzt hatte. Er war mir fremd geworden, die gemeinsame Zeit war verblasst.

»Ja, danke. Gut. Ich studiere Medizin jetzt. Mir geht es super. Ja, wirklich richtig super. Ha!« Er lachte, wie er früher gelacht hatte. Eine Mischung aus ehrlicher Freude, gemischt mit Unsicherheit und dem Drang, diese möglichst lautstark zu überspielen. Ich sagte erst mal nichts. »Medizin? Das ist ja super«, antwortete ich lang gezogen und überlegte, ob ich eine Anspielung auf Fear And Loathing machen sollte. »Ah! Medicine! Medicine!« – »Watch out, this man has a bad heart, angina pectoris, but don’t worry we have a cure.« – »Aahh … and now for the doctor.« Ich sparte es mir. Zu verunsichert war ich durch Sebastians unerwarteten Anruf. »Das ist ja … lustig …, dass du anrufst. Was gibt’s denn? Alles okay?«

»Jaja, alles okay! Alles … Du … wir müssen uns mal treffen.« Er lachte wieder, als fände er es auch ein wenig absurd. Als könnte er sich von außen beobachten und seine eigene Absurdität spüren. Ich sah ihn förmlich nach einem Publikum Ausschau halten. »Pass auf: Ich muss dringend mal was mit dir besprechen. Bist du in Hamburg?«

»Treffen?« Ich atmete durch. »Wir können doch auch jetzt hier reden, oder?« Ich kannte Anmoderationen wie diese zur Genüge. Es meldete sich öfter mal ein alter Freund per Telefon und fragte explizit nach einem Treffen. Oberflächlich freundlich, aber doch sehr bestimmt erläuterte er mir dann, dass es um etwas gehe, was man nicht so gut am Telefon werde besprechen können. Es ging dann immer um Geld.

»Treffen?«, wiederholte ich widerwillig. »Ich hab viel zu tun grad. Außerdem kümmere ich mich um mein Patenkind. Wir leben ja nicht mehr in der City, sondern in Bergedorf. Ich kann irgendwie nicht.« Ich wusste nicht, warum ich das erwähnte. Irgendwie wollte ich, dass er wusste, dass ich ein anderes Leben führte, und doch bereute ich es sofort, als ich es aussprach. Speedo war zu Sebastian geworden. Ein Fremder. Ich wollte gar nicht, dass er wusste, wo ich wohnte.

»Ah« Er stockte für einen kurzen Moment.

»Du, worum geht es denn? Ich bin grad so viel unterwegs«, was ich da faselte, war mir peinlich, »ich mach viele Studiojobs und so. Ist ja auch egal – sag doch mal bitte, worum es geht.«

Sebastian ließ nicht auf sich warten: »Kennst du Geocaching?« Er fing sofort an, wie ein Wasserfall zu reden. »Geocaching? Kennst du das?«

»Nein, noch nie gehört. Geo Catchen?« Hulk Hogan erschien vor meinem inneren Auge mit einem Naturreportage-Magazin.

»Geocaching! Cache, nicht Catch! Hat nichts mit fangen zu tun. Das ist so ’ne Art weltumspannende Schnitzeljagd. Man veröffentlicht geografische Koordinaten im Internet und kann die dann mit GPS-Empfängern aufspüren. Wer zuerst da ist, dokumentiert online, dass er oder sie den Cache«, er holte keine Luft, »also den Schatz quasi, gefunden hat. Niemand bekommt davon etwas mit, außer die Spieler. Das gibt es mittlerweile in jedem Land der Welt.« Er lachte wieder kurz. Es klang eher wie ein harter, trockener Husten. »Ich mache das seit einiger Zeit und habe da neulich jemanden kennengelernt.« Er stoppte. Kein Husten, kein Lachen. Kein Laut in der Leitung. Ich hörte noch nicht mal mehr seinen Atem. Als wäre die Leitung tot. »Hallo?«, fragte ich, irritiert vom abrupten Ende des Wortschwalles.

»Ja! Hallo!! Hallo!!« Sebastian äffte mich nach. Wieder dieser Husten. Während ich mich fragte, was diese Information wohl mit mir zu tun hatte, schoss mir die Erinnerung an eine Situation im Urlaub vor ein paar Jahren in den Kopf.

 

Ich wollte damals gerade unser gemietetes Ferienhaus verlassen, als mein Telefon klingelte. Das Display meines Handys zeigte »aaaaaaaaaaaaa«, den Namen, unter dem ich die Sicherheitsleute abgespeichert hatte. Es war ungewöhnlich, dass sie mich anriefen, wir kommunizierten gewöhnlich nur über SMS. Ich ließ das winzige vibrierende Objekt aufklappen. Handys waren mittlerweile nur noch wenige Zentimeter klein. »Ja?« – »Johann, entschuldige bitte, dass wir dich stören müssen.« Dem Du hatte ich auch im Erwachsenenalter nicht entwachsen können. »Was gibt’s denn?«, erwiderte ich leicht genervt. »Wir hätten nicht angerufen, wenn es nicht wichtig wäre.« Die Männer hatten die Angewohnheit, wir anstelle von ich zu sagen. »Uns geht’s gut«, hatte sogar mal einer geantwortet, als ich vom Beifahrersitz aus gefragt hatte, wie es ihm gehe. Er war gänzlich zu seinem Job geworden. Es gibt kein »i« in »Team«, schoss es mir damals durch den Kopf. Ein dämliches Zitat aus einem noch dämlicheren Kriegsfilm.

»Wir möchten dich bitten, das Haus für einen Moment nicht zu verlassen. Wir haben hier vor dem Tor eine Situation, die wir klären müssen.« Blut schoss mir in den Kopf, mein Gesicht wurde heiß. Anstatt auszuatmen, hielt ich die Luft in meiner Lunge und fragte kurz: »Was genau?« Während ich dachte, was denn überhaupt eine Situation sein sollte. War das nicht einfach nur falsch und mit Bedeutungsverlust aus dem Englischen a situation eingedeutscht? Sagte man das überhaupt im Deutschen so? In Gedanken klang ich schon wie mein Vater. So schlecht gelaunt war ich in dieser Situation auf jeden Fall schon.

»Wir melden uns gleich wieder. Bleib bitte noch einen Moment drinnen.« Ich klappte das Telefon zu. Der kurze Moment des Schreckens war schon wieder verflogen, und ich fing an, mich zu ärgern. In Wirklichkeit war nie irgendwas. Die antrainierte Paranoia der Sicherheitsmänner ging mir mittlerweile tierisch auf die Nerven. Alles war eine potenzielle Gefahr, doch es passierte nie etwas. Eigentlich war alles einfach nur normal. Ein Van mit schwarzen Scheiben beherbergte eine normale Familie. Ein Auto, das mir hinterherfuhr, bog irgendwann ab und tauchte nie wieder auf. Oder es war ein Nachbar. Oder Besuch vom Nachbarn. Eine Frau, die vermeintlich mich fotografierte, machte ein Bild vom Haus hinter mir. Ein Mann, der zielstrebig auf mich zuging, fragte mich einfach nur nach dem Weg oder ging einfach vorbei. Doch immer waren diese Situationen flankiert von Männern, deren Brust sich spannte, deren Schritt sich beschleunigte, die schon die Jacke geöffnet hatten, sobald sich auch nur der Hauch einer Situation andeutete. Alles nach dem Motto »Dass man paranoid ist, bedeutet nicht, dass man nicht verfolgt wird«. Und was sollte ich ihnen schon sagen: »Entspannen Sie sich mal. Es ist nie was!«? Stimmte ja bewiesenermaßen auch nicht.

Ich wartete eine Minute. Sah auf mein Handy. Die Zeit verging nicht. Was sollte schon sein? Mein Herz begann wieder heftiger zu schlagen. Ich wusste nicht, ob es Ärger oder Angst war. Ob ich genervt oder in Panik war. Auf jeden Fall ließ mich das Gefühl nicht länger innen vor der Tür stehen. Ich klappte das Telefon auf und schrieb eine SMS. »Komme raus.« Ich spannte den Bauch an, atmete gepresst durch die Lippen aus, um mich zu fokussieren, und öffnete die Tür. Ich ging die paar Schritte zum blickdichten Gartentor, legte die Hand auf die Klinke. Ich spürte das kalte Metall und merkte, dass meine Handflächen feucht waren. Ich wischte schnell beide Hände an meiner Jeans ab. In diesem Moment bewegte sich die Klinke herunter, das Tor öffnete sich, und Brohm stand vor mir. Seine Jugendlichkeit, die mich im ersten gemeinsamen Urlaub in Portugal noch so beeindruckt hatte, war in den vergangenen fünf Jahren verflogen. Ihn schien das ständig aufgeregte Nichtstun irgendwie auch mitzunehmen. »Alles okay. Kannst gern rauskommen.«

»Was war denn los?«, fragte ich und versuchte, so ernst und abgebrüht zu schauen, wie es mir meine unklare Gefühlslage erlaubte.

»Wir hatten hier zwei unbekannte Personen. Die haben hier in der Mauer rumgefummelt. Wir dachten erst an BTM, aber dann haben die so handygroße Sender rausgeholt und sich am Tor zu schaffen gemacht. Da sind wir dann mal raus und haben die angesprochen. Das sind vielleicht ein paar Verrückte gewesen, sag ich dir. Die haben sich richtig verjagt!« Er lachte mich an.

Ich lachte zurück, wusste aber nicht, warum.

»Kennst du Geocaching?«

»Nein«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Und es interessiert mich einen Scheißdreck. Wieso kann nicht wenigstens irgendwas Gefährliches passiert sein? Nie ist irgendwas, sparte ich mir zu sagen und erhielt in etwa die gleiche Beschreibung, wie Speedo aka Sebastian sie mir jetzt am Telefon gegeben hatte.

Geocaching. Ich hatte auch wirklich zu jedem noch so bescheuerten Männerhobby irgendeine noch bescheuertere Erinnerung.

 

Immer noch stand ich abseits von unseren Freunden im Garten und telefonierte mit meinem Ex-Freund.

»Ach so. Ja. Das. Ja, schon von gehört.« Ich war mir relativ sicher, dass er mich nun fragen würde, ob ich ihm einen Flug zu irgendwelchen weit entfernten Koordinaten bezahlen würde, damit er die nächste Plastikbox erreichen könnte. Oder vielleicht hatte er sich in irgendwelche komplizierten Zusammenhänge verstrickt, und ich müsste ihm nun aus einer selbst verschuldeten finanziellen Patsche helfen. »Lass mal bitte gleich treffen. Ich habe im Game jemanden kennengelernt, der mit Thomas Drach zusammen im Gefängnis gesessen hat. In Santa Fu. In seiner Nachbarzelle. Ich hab morgen Zeit. Kommst du in die City?« Ich fühlte mich von einer Sekunde auf die nächste irgendwie ungesund. Als hätte ich mich seit langer Zeit schon schlecht ernährt. Ein pappiges Gefühl breitete sich in meinem Mund aus. Ich wurde schlapp. Eine bleierne Müdigkeit übermannte mich augenblicklich. »Okay?«, antwortete ich verstört. »Und was erzählt der so?«

»Dafür müssen wir uns treffen. Das kann ich nicht am Telefon erzählen«, antwortete Sebastian eindringlich. Der Garten begann sich langsam um mich zu drehen. Ich überlegte nicht lang: »In Ordnung. Morgen geht klar. Wo?« Als ich die Frage aussprach, kam mir in den Sinn, dass es bei einem Treffen, wie sich dieses abzeichnete zu werden, wohl besser war, selbst derjenige zu sein, der den Treffpunkt auswählte. Ein öffentlicher Platz musste es sein. Das kannte ich aus Filmen. Oder war es meine Erinnerung an die Entführung? Es war schon so lange her. Langsam verschwamm alles.

»Mir egal, sag du«, erwiderte Sebastian und beruhigte mich damit ein wenig. Er hatte anscheinend keinen weitergehenden Plan, mich in einen Hinterhalt zu locken.

»Lass mal morgen Mittag auf dem Holstenspielplatz treffen. Ich hab da aber mein Patenkind dabei. Morgen ist Mittwoch. Das kann ich nicht absagen.« Ich wusste, dass mittags immer ein paar Muttis auf dem Spielplatz waren. Es würde voll genug sein, um nicht unbeobachtet zu sein, und trotzdem leer genug, um in Ruhe sprechen zu können.

»Alles klar. Dreizehn Uhr?«

»Okay, bis morgen.«

Ich legte auf und schaute zu den Menschen in unserem Garten. Der Schwindel legte sich. Was konnte ich ihnen erzählen? Ich hatte keine Lust, so wahnsinnig weit auszuholen.

Svenja sah mich fragend an: »Wer war das?«

»Einer aus dem Studio. Ich muss den morgen kurz in der Stadt treffen. Ich mach das, wenn ich eh mit Jakob auf dem Spielplatz bin«, spulte ich automatisch eine Lüge ab. Alle nickten, und ich ging rein. Auf dem Weg nach drinnen drehte ich mich kurz um. »Will sonst noch jemand ein Bier?«, rief ich in die Runde. Alle lachten. Es war noch vorm Mittagessen. Sie hielten es für einen Scherz.

 

Was, um Himmels willen, war hier auf einmal in mein Leben eingebrochen? Was konnte ich tun? Oder besser: Was musste ich nun tun? Wieso hatte ich den Spielplatz vorgeschlagen? Das Kind mitzunehmen erschien mir plötzlich wie die dümmste Idee. Als würde ich es als eine Art menschlichen Schutzschild zur Abwehr der surrealen Situation benutzen. Meine Gedanken begannen zu rasen. Was erwartete mich morgen auf diesem Spielplatz? Ich wusste, dass Thomas Drach im Gefängnis saß und sein Antrag auf vorzeitige Haftentlassung gerade abgelehnt worden war. Bei der gerichtlichen Anhörung hatte er meinem Vater einen Betrag von 450 000 US-Dollar als »Wiedergutmachung« angeboten. Den Rest der 30 Millionen wollte er lieber behalten. Was ging in seinem kranken Hirn vor? Irgendwem musste ich von diesem morgigen Treffen erzählen. Aber wem? Ich ahnte, dass, wenn ich meinen Vater anrufen würde, er spätestens beim Wort Geocaching das Interesse verlieren würde. Ich sah förmlich sein vom Klang des Wortes angewidertes Gesicht am anderen Ende der Leitung. Dann schon eher Johann Schwenn? Er war der Anwalt meines Vaters. War er der richtige Ansprechpartner? Zu ihm hatte ich aber seit den Gerichtsverhandlungen überhaupt keinen Kontakt mehr. Ihn anzurufen traute ich mich nicht. Meine Mutter? Was sollte sie machen? Ich wollte weder ihr noch sonst jemandem das Gefühl, das ich gerade hatte, weitergeben. Weder den Menschen im Garten noch meinen Eltern noch sonst jemandem. War ich wirklich so allein, wie ich mich gerade fühlte?

Dann öffnete ich das Bier mit einem rumliegenden Feuerzeug und wählte die erste Nummer in meinem Telefonbuch. »aaaaaaaaaaaaa«.

Endlich, dachte ich, passiert bei denen mal was.