Athelstan und Cranston folgten Colebrooke um Holzschuppen und Nebengebäude, durch einen Torbogen in der inneren Festungsmauer und über einen vereisten Platz zu einem riesigen Turm, der sich über den Festungsgraben hinauswölbte. Der Lieutenant blieb stehen.
»Dort liegen unterirdische Verliese, und darüber führen Stufen in eine Kammer im Obergeschoß.« Er zuckte die Achseln. »Dort ist Sir Ralph gestorben.«
»Ermordet worden«, korrigierte Cranston.
»Gibt es noch andere Räume?« fragte Athelstan.
»Früher mal, noch ein weiteres Stockwerk, aber die Tür dorthin wurde zugeschüttet.«
Athelstan schaute hinauf zu den verschneiten Zinnen und seufzte.
»Ein Turm des Schweigens«, murmelte er. »Ein trostloser Ort zum Sterben.«
Sie stiegen die Treppe hinauf. Drinnen hockten zwei Wächter auf Schemeln vor einem Kohlebecken. Colebrooke nickte ihnen zu. Sie erkletterten eine zweite, steile Treppe und drückten oben die halboffene Tür auf. Ein dunkler, muffig riechender Gang erstreckte sich vor ihnen. Leise vor sich hin fluchend, nahm Colebrooke etwas Zunder von einem Steinsims, und bald darauf loderten die Fackeln in den Wandhaltern. Sie betraten den kalten Korridor. Athelstan sah einen Berg von Mauerbrocken, losen Ziegeln und Schieferplatten, der den Zugang zum darüberliegenden Stockwerk verschloß. Colebrooke probierte ein paar Schlüssel, die er unter seinem Mantel hervorgezogen hatte; schließlich schloß er die Tür auf und lud Cranston und Athelstan mit einer beinahe spöttischen Gebärde ein einzutreten.
Es war ein Raum mit gewölbter Decke aus Stein. Der erste Eindruck war der eines alles beherrschenden Graus. Keine Wandbehänge oder Teppiche an den Wänden, nichts außer der hageren Gestalt eines sterbenden Christus an einem schwarzen Holzkreuz. Mitten im Raum stand ein großes vierpfostiges Bett, dessen schmutzige, lohbraune Vorhänge fest geschlossen waren. Es gab einen Tisch und ein paar Schemel, und drei oder vier Holzzapfen steckten neben dem Bett in der Wand; ein Mantel, ein schweres Wams und ein breiter, lederner Schwertgurt hingen noch daran. Auf der anderen Seite des Bettes stand ein hölzernes Lavarium mit einer riesigen Zinnschüssel und einem Krug, auf dem ein schmutziges Tuch lag. Ein kleiner Kamin hätte ein wenig Wärme gespendet, aber nur kalte, pulverige Asche lag darin. Ein Kohlebecken voll halbverbrannter Holzkohle stand verloren im Raum. Athelstan war sicher, daß es hier kälter war als draußen. Cranston schnippte mit den Fingern und deutete auf die offenen Fensterläden.
»Bei den Titten des Teufels, Mann!« rief er. »Es ist lausig kalt!«
»Wir haben alles so gelassen, wie es war, Lord Coroner«, versetzte Colebrooke scharf.
Athelstan deutete auf das Fenster. »Und da soll der Mörder hereingeklettert sein?« fragte er.
Er starrte auf die große Öffnung.
»Nur so kann es gewesen sein«, sagte Colebrooke, ging zum Fenster und warf dröhnend die Läden zu. Athelstan schaute sich im Zimmer um. Er erkannte den fauligen Gestank des Todes, und mit Abscheu sah er die schmutzigen Binsen auf dem Boden und den gesprungenen Nachttopf voll Nachtkot und Urin.
»In drei Teufels Namen!« bellte Cranston und stampfte auf. »Laßt das wegschaffen, sonst stinkt es hier bald wie in einer Pestgrube.«
Dann trat er ans Bett und riß die Vorhänge auf. Athelstan warf einen Blick hinein und wich entsetzt zurück. Der Tote lag weiß und blutlos auf verschmierten Kissen und Laken. Die starren Hände krallten sich noch in die blutgetränkte Bettdecke. Der Kopf des Mannes war zurückgebogen, das Gesicht im Grinsen des Todes verzerrt. Die schweren Augenlider waren halb geöffnet, und es war, als starrten die Augen auf den furchtbaren Schnitt hinunter, der sich von einem Ohr zum anderen zog. Das Blut war herausgeströmt wie Wein auseinem zerbrochenen Faß und lag dick und geronnen auf Brust und Bettzeug. Athelstan zog die Decke zurück und betrachtete den halbnackten weißen Leib.
»Die Todesursache liegt auf der Hand«, murmelte er. »Keine anderen Wunden oder Blutergüsse.« Wortlos schlug er das Kreuz über den Leichnam und trat zurück.
Colebrooke hielt klugen Abstand. »Sir Ralph hat einen solchen Tod befürchtet«, sagte erleise.
»Seit wann?« wollte Athelstan wissen.
»Oh, seit drei oder vier Tagen.«
»Weshalb?« fragte Cranston. »Wovor hat Sir Ralph sich gefürchtet?«
Colebrooke zuckte die Achseln. »Das weiß der Himmel. Vielleicht werdet Ihr es von seiner Tochter oder von seinem Bruder erfahren. Ich weiß nur, daß Sir Ralph den Engel des Todes an seiner Seite zu spüren glaubte.«
Cranston trat ans Fenster, klappte die Läden wieder auf und lehnte sich in die eisige Luft.
»Da geht’s aber tief runter«, bemerkte er und zog sich zu Athelstans großer Erleichterung wieder zurück. Nur Athelstan war klar, wieviel der brave Coroner schon getrunken hatte.
»Wer würde mitten in der Nacht, im tiefsten Winter, einen solchen Aufstieg wagen?«
»Oh, in die Mauer sind Stufen gehauen«, antwortete Colebrooke selbstzufrieden. »Aber nur wenige Leute wissen davon.«
»Wieso?« fragte Athelstan.
»Es sind eigentlich nur Kerben, in denen ein Fuß Halt findet«, sagte Colebrooke. »Der Maurer, der den Turm gebaut hat, war ein vorsichtiger Mann. Wenn jemand in den Graben fiel, konnte er so wieder rausklettern.«
»Ihr sagt also«, Cranston ließ sich auf einen Schemel fallen und wischte sich die Stirn, »daß irgend jemand, wahrscheinlich ein Soldat oder ein gedungener Mörder, diese Trittkerben benutzt hat und zum Fenster heraufgeklettert ist.« Er drehte sich um und betrachtete die Fensterläden. »Eurer Meinung nach«, fuhr er fort, »hat der Mörder einen Dolch durch den Spalt geschoben und den Riegel hochgehoben, dann ist er eingestiegen und hat Sir Ralph die Kehle durchgeschnitten.«
Colebrooke nickte langsam. »Das nehme ich an, Sir John.«
»Und ich nehme an«, ergänzte Cranston sarkastisch, »daß Sir Ralph seinen Mörder einfach hereinklettern ließ, gar nicht erst aufstand, sondern wie ein Lämmchen liegenblieb und sich die Kehle durchschneiden ließ.«
Colebrooke ging zum Fenster, schloß es vernehmlich und schob den hölzernen Riegel vor. Dann zog er den Dolch, schob ihn in den Spalt zwischen den beiden Läden und hob behutsam den Riegel aus seiner Halterung. Er drückte die Läden auf, drehte sich um und schaute Cranston lächelnd an.
»Es geht also, Lord Coroner«, bemerkte er trocken. »Der Mörder durchquert dann auf leisen Sohlen die Kammer. Einem Mann die Kehle durchzuschneiden dauert nicht lange, vor allem, wenn er viel getrunken hat.«
Athelstan dachte über die Worte des Lieutenants nach. Plausibel war es. Er und Cranston wußten von den Nachtschatten, einer Räuberbande, die im Schutze der Dunkelheit in ein Haus eindringen und es ausplündern konnte, ohne daß Bürger, Frauen, Kinder und sogar Hunde aufwachten. Warum sollte es hier anders sein? Athelstan musterte das Gemach aufmerksam: dicke Granitmauem, ein steinernes Gewölbe, kalte Steinplatten unter der Binsenstreu.
»Nein, Bruder.« Colebrooke schien seine Gedanken gelesen zu haben. »Es gibt keinen Geheimgang. Nur zwei Wege führen in diese Kammer - durch das Fenster oder durch die Tür. Das untere Stockwerk ist bewacht; wir sind an den Wächtern vorbeigekommen. Und der Zugang zum oberen Stockwerk ist durch eingestürztes Gemäuer verschüttet.«
»Hat man irgendwo Blutspuren gefunden?« fragte Athelstan. Er sah, daß der Lieutenant einen spöttischen Seitenblick auf die blutige Leiche warf. »Nein«, fuhr er ärgerlich fort, »ich meine, anderswo. Am Fenster. Bei der Tür. Als der Mörder seine Tat vollbracht hatte, muß sein Messer oder sein Schwert doch voller Blut gewesen sein.«
Colebrooke schüttelte den Kopf. »Überzeugt Euch selbst, Bruder. Ich habe nichts gefunden.«
Athelstan warf Cranston einen mutlosen Blick zu; dieser saß inzwischen wie ein nasser Sack auf seinem Schemel und hatte die Augen halb geschlossen nach dem vielen Wein und den heftigen Anstrengungen in der Morgenkälte. Der Ordensbruder sah sich gründlich um. Bettzeug und Leichnam waren von getrocknetem Blutgetränkt, aber weder am Fenster noch in den Binsen oder in der Nähe der Tür fand er eine Spur davon. »Ist sonst etwas verändert worden?«
Colebrooke schüttelte den Kopf. Cranston regte sich plötzlich. »Warum ist Sir Ralph hierhergezogen?« fragte er unvermittelt. »Das ist doch nicht sein gewohntes Gemach.«
»Er glaubte, er wäre hier sicher. Die nördliche Bastion ist eine der unzugänglichsten in der ganzen Festung. Eigentlich wohnte der Konstabler in den Königlichen Gemächern im White Tower.«
»Und hier war er auch sicher«, schloß Athelstan, »bis der Wassergraben zufror.«
»Ja«, sagte Colebrooke. »Daran hat niemand gedacht, weder ich noch sonst jemand.«
»Hätte man einen Attentäter nicht sehen müssen?« fragte Cranston.
»Das bezweifle ich, Sir John. Nachts ist der Tower in Dunkelheit gehüllt. Auf der Nordbastion standen keine Wachen, und die auf der Mauer dürften die meiste Zeit damit verbracht haben, sich zu wärmen.«
Cranstons Augen wurden schmal. »Dann wollen wir jetzt, bevor wir mit den anderen sprechen, die Abfolge der Ereignisse klären.«
»Sir Ralph aß in der Großen Halle zu Abend und trank viel. Geoffrey Parchmeiner und die beiden Wachen eskortierten ihn hierher. Letztere durchsuchten die Kammer, den Korridor und den Raum darunter. Alles war in Ordnung.«
»Und dann?«
»Sir Ralph schloß die Tür hinter sich ab. Das haben die Wachen draußen gehört. Sie begleiteten Geoffrey aus dem Gang, verschlossen die Tür am anderen Ende und begannen ihre Wache. Sie waren die ganze Nacht auf ihrem Posten und haben nichts Außergewöhnliches bemerkt. Ich bei meinen üblichen nächtlichen Rundgängen genausowenig.«
Athelstan hob die Hand. »Diese Schlüsselgeschichte …?«
»Sir Ralph hatte einen Schlüssel zu seiner Kammer. Den zweiten hatten die Wachen an einem Schlüsselbund unten.«
»Und für die Tür am Ende des Ganges?«
»Auch hier hatten Sir Ralph und die Wachen je einen Schlüssel. Ihr werdet sie gleich sehen, wenn Ihr hinuntergeht; sie hängen an Haken an der Wand.«
»Weiter, Lieutenant - was geschah dann?«
»Gleich nach dem Morgengebet kam Geoffrey Parchmeiner…«
Der Lieutenant sah Athelstan verschlagen an. »Ihr habt ihn kennengelernt? Den geliebten zukünftigen Schwiegersohn? Nun, er kam, um Sir Ralph zu wecken.«
»Wieso Geoffrey?«
»Sir Ralph hat ihm vertraut.«
»Brachte er etwas zu essen oder zu trinken mit?«
»Nein. Er wollte, aber wegen des kalten Wetters wollte Sir Ralph, daß Geoffrey ihm die Aufwartung machen und ihn wecken sollte. Dann wollten sie den Tag planen und mit den anderen in der Großen Halle frühstücken.«
»Weiter«, befahl Cranston und stampfte mit den Füßen, um sie zu wärmen.
»Nun, die Wachen führten Geoffrey die Stiege herauf, ließen ihn auf den Korridor und schlossen hinter ihm wieder ab. Sie hörten, wie er den Gang entlangging, an die Kammertür klopfte und rief, aber Sir Ralph rührte sich nicht. Nach einer Weile kam Geoffrey zurück und erklärte, Sir Ralph sei nicht wachzukriegen.« Colebrooke brach ab, kratzte sich am Kopf und schloß die Augen, um sich zu konzentrieren. »Geoffrey nahm den Schlüssel zu Sir Ralphs Kammer vom Haken, besann sich dann aber und holte mich. Ich war in der Großen Halle, kam sofort, nahm den Schlüsselbund an mich und schloß die Tür auf.« Der Lieutenant deutete auf das Bett. »Wir fanden Sir Ralph, wie Ihr ihn hier seht.«
»Und das Fenster stand offen?« fragte Cranston.
»Ja.«
»Seit wann ist der Festungsgraben zugefroren?« erkundigte sich Athelstan.
»Seit ungefähr drei Tagen.« Colebrooke rieb sich heftig die Hände. »Sir John, wir müssen doch sicher nicht hierbleiben«, sagte er flehentlich. »Es gibt wärmere Orte für solche Fragen.« Cranston stand auf und streckte sich.
»Gleich«, brummte er. »Seit wann war Sir Ralph Konstabler?«
»Oh, seit ungefähr vier Jahren.«
»Mochtet Ihr ihn?«
»Nein. Er war ein Pedant, verlangte fanatisch Disziplin - nur von seiner Tochter und ihrem Liebhaber nicht.«
Cranston nickte und wandte sich noch einmal dem Leichnam zu. »Ich nehme an«, knurrte er, »von der Mordwaffe gibt es keine Spur. Vielleicht könntest du noch einmal nachsehen, Athelstan.«
Der Bruder stöhnte, durchsuchte aber mit Colebrookes Hilfe noch einmal den Raum. Sie stocherten in der Binsenstreu und siebten die kalte Asche im Kamin.
»Nichts«, erklärte Colebrooke dann. »Hier könnte man noch nicht einmal eine Stecknadel verstecken.«
Athelstan ging zu Sir Ralphs Schwertgurt und zog die Klinge heraus. »Auch hier keine Blutflecken«, sagte er. »Kein Tröpfchen, kein Fleckchen. Sir John, wir sollten jetzt gehen.« Draußen untersuchten sie noch einen Flecken auf dem Boden des Ganges, aber es war nur Öl. Auf der Hälfte der Treppe hielt Athelstan plötzlich den Lieutenant fest. »Die beiden Wachposten«, flüsterte er. »Sind das dieselben wie letzte Nacht?«
»Ja. Söldner, die Sir Ralph schon gedient haben, als er noch zum Haushalt Seiner Gnaden des Regenten gehörte.«
»Sind sie loyal?«
Colebrooke verzog das Gesicht. »Das nehme ich an. Sie haben einen Eid auf ihn geleistet. Und was noch wichtiger ist: Sir Ralph hatte ihren Sold verdoppelt. Sie hatten von seinem Tod nichts zu gewinnen, sondern sehr viel zu verlieren.«
»Habt Ihr etwas zu gewinnen?« fragte Cranston mit schwerer Zunge.
Colebrookes Hand fuhr zum Griff seines Dolches. »Sir John, diese Frage gefällt mir nicht. Ich gebe zu, daß ich Sir Ralph nicht leiden konnte - obwohl Seine Gnaden der Regent ihn schätzte.«
»Wolltet Ihr Whittons Posten?«
»Natürlich. Ich halte mich für den besseren Mann.«
»Aber der Regent war anderer Ansicht?«
»John von Gaunt hat sich darüber nicht mit mir beraten«, bemerkte Colebrooke säuerlich. »Ich hoffe allerdings, daß er mich jetzt zu Whittons Nachfolger ernennt.«
»Warum?« fragte Athelstan leise.
Colebrooke schien überrascht. »Ich bin loyal; sollte es Unruhen geben, werde ich den Tower bis zum letzten Atemzug halten.«
Cranston grinste und tippte ihn sanft gegen die Brust. »Das ist es, mein guter Lieutenant. Wir denken beide das gleiche: Sir Ralphs Tod hängt vielleicht zusammen mit den Verschwörungen, die wie Unkraut aus dem Boden schießen in den Dörfern und Siedlungen rings um London.«
Colebrooke nickte. »Whitton war ein harter Zuchtmeister«, sagte er, »und ein gedungener Mörder der Großen Gemeinde hätte einen solchen Auftrag sicher leicht erledigen können.«
Auch Athelstan lächelte und klopfte Colebrooke auf die Schulter. »Da mögt Ihr recht haben, Master Colebrooke. An einer solchen Theorie wäre nur eines auszusetzen.«
Der Lieutenant starrte ihn verständnislos an.
»Versteht Ihr nicht?« fragte Athelstan. »Irgendjemand im Tower muß einem solchen Meuchelmörder doch sagen, wo, wann und wie Sir Ralph zu finden ist.«
Ein sehr enttäuschter Lieutenant führte sie zum Fuß der Treppe. Die beiden vierschrötigen, untersetzten Wachposten saßen immer noch mit ausgestreckten Händen vor dem rotglühenden Kohlebecken. Sie rührten sich kaum, als Colebrooke nähertrat, und Athelstan spürte ihre Verachtung für den so plötzlich aufgestiegenen Zweiten Offizier.
»Ihr hattet gestern nacht Wache?«
Die Söldner nickten.
»Ihr habt nichts Außergewöhnliches gesehen?«
Sie schüttelten den Kopf und grinsten herablassend, als fänden sie Athelstan ziemlich amüsant und ein bißchen langweilig. »Aufgestanden!« brüllte Cranston. »Auf! Ihr unverschämten Hurensöhne! In drei Teufels Namen, ich habe bessere Männer als euch an einen Baum binden und auspeitschen lassen, bis ihr Rücken blutig rot war!«
Die stählerne Drohung in Cranstons Stimme brachte die beiden Soldaten auf die Beine.
»So ist es besser«, schnurrte der Coroner sanft. »Und jetzt, ihr Scheißkerle, beantwortet ihr die Fragen meines Schreibers, und alles ist gut.« Er packte den einen bei der Schulter. »Sonst könnte ich vielleicht auf die Idee kommen, daß ihr mitten in der Nacht euren Herrn ermordet habt.«
»Das stimmt nicht«, knirschte der Kerl. »Wir waren Sir Ralph treu ergeben. Wir haben nichts gesehen und nichts gemerkt, bis dieser Geck,« - der Posten zuckte die Achseln - »der zukünftige Schwiegersohn des Konstablers, gerannt kommt und behauptet, er kann Sir Ralph nicht wachkriegen. Er schnappt sich den Schlüssel und will zurück, aber dann überlegt sich’s der Feigling anders und stürzt zum Lieutenant.«
»Ihr habt ihn klopfen und Sir Ralphs Namen rufen hören?« fragte Athelstan.
»Natürlich.«
»Aber er ist nicht in die Kammer gegangen?«
»Der Schlüssel war ja hier.« Der Soldat deutete auf einen Holzzapfen in der Wand. »Er hing hier vor unseren Augen. Und es gibt nur zwei. Einer war hier, und Sir Ralph hatte den anderen.«
»Dessen bist du sicher?« sagte Cranston.
»Ja, klar«, bekräftigte der Bursche. »Den anderen Schlüssel habe ich auf dem Tisch neben dem Bett des Konstablers gefunden, nachdem ich aufgeschlossen hatte. Er ist jetzt hier.« Cranston nickte. »Genug ist genug. Wir wollen uns den Turm von außen ansehen.«
Als sie die Nordbastion verließen, drang plötzlich ein furchtbares Getöse aus dem Innenhof. Sie folgten dem Lieutenant, der eilig durch den Torbogen lief, und spähten über die verschneite Wiese. Der Lärm kam aus einem Gebäude zwischen der Großen Halle und dem White Tower. Erst konnte Athelstan nicht erkennen, was los war. Er sah Leute hin und her rennen, und Hunde sprangen kläffend im Schnee herum. Colebrooke atmete tief durch und entspannte sich.
»Ach, er ist’s nur«, sagte er leise. »Seht.«
Athelstan und Cranston sahen verblüfft einen großen, zottigen Braunbären auf den Hinterbeinen stehen. Die Vorderpranken schlugen in die Luft.
»Bären habe ich schon gesehen«, murmelte Cranston. »Rauhhaarige kleine Biester, über die die Hunde herfielen. Aber etwas so Majestätisches noch nie.«
Der Bär brüllte, und Athelstan sah den Eisenring um seinen Hals und daran die schweren Ketten, die von Wärtern gehalten wurden. Der verrückte Rothand führte das Tier durch den Innenhof zu einem dicken Pfahl am hinteren Ende der Großen Halle, wo es festgemacht wurde.
»Der Bär ist prachtvoll«, flüsterte Athelstan.
»Ein Geschenk«, erklärte der Lieutenant, »von einem norwegischen Fürsten an den Großvater des jetzigen Königs, Gott hab ihn selig. Er heißt Ursus magnus.«
»Aha!« lächelte Athelstan. »Nach dem Sternbild.«
Colebrooke sah ihn verständnislos an.
»Die Sterne«, beharrte Athelstan. »Ein Bild am Himmel…« Colebrooke lächelte schmal und führte sie zu einer Pforte in der äußeren Festungsmauer. Er zog ein paar Riegel zurück, und die Angeln kreischten protestierend, als er das massive Tor öffnete.
Durch diese Pforte ist seit Monaten niemand gegangen, dachte Athelstan.
Vorsichtig traten sie auf den zugefrorenen Wassergraben. Die Stille und der dichte Nebel ließen alles unwirklich erscheinen. »Das einzige Mal, daß du je auf dem Wasser wandeln wirst, Priester«, knurrte Cranston.
Athelstan grinste. »Ein seltsames Gefühl«, erwiderte er und sah Colebrookes ernstes Gesicht. »Wozu dient dieses Tor?«
Der Lieutenant zuckte die Achseln. »Es wird selten benutzt. Manchmal fährt ein Spion oder ein geheimer Bote heimlich über den Graben, oder jemand will den Tower unbemerkt verlassen. Jetzt« - er klopfte mit dem Stiefel auf das dicke Eis - »spielt es keine Rolle.«
Athelstan sah sich um. Hinter ihm ragte die mächtige Festungsmauer bis in die schneebeladenen Wolken. Das andere Ufer des Wassergrabens lag im dichten Nebel verborgen. Nichts regte sich. Ihr Atem und das Scharren ihrer Stiefel auf dem Eis waren die einzigen Geräusche. Sie setzten die Füße so behutsam und vorsichtig voreinander, als könnte das Eis jederzeit brechen und das Wasser wieder zum Vorschein kommen. An der steilen Mauer entlang gingen sie um die Nordbastion herum.
»Wo sind diese Trittkerben?« fragte Cranston.
Colebrooke winkte sie weiter und deutete auf das Mauerwerk. Auf den ersten Blick waren die Stufen in der Wand kaum zu erkennen, aber schließlich sahen sie sie, tief ins Gestein eingegraben wie die Klauenspuren eines riesigen Vogels. Cranston legte die Hand in eine der Kerben.
»Ja«, murmelte er. »Hier ist jemand gewesen. Schau, das Eis ist gebrochen.«
Atheisten besichtigte die vereisten Höhlungen und nickte.
»Ein schwieriger Aufstieg«, bemerkte er. »Höchst gefährlich in finsterer Nacht.« Sein Blick wanderte über den hartgefrorenen Schnee; er bückte sich, hob etwas auf und verbarg es in der hohlen Hand, bis Colebrooke sich zum Gehen wandte.
»Was ist das?« fragte Cranston undeutlich. »Was hast du da gefunden?«
Der Ordensbruder öffnete die Faust, und Cranston lächelte, als er die versilberte Stiefelschnalle sah.
»Aha«, murmelte er. »Also war jemand hier. Jetzt brauchen wir nur noch den Träger dieser Schnalle und dann: Hei-ho, ab zum Oberhofgericht, einen kurzen Prozeß und eine etwas längere Hinrichtung.«
Athelstan schüttelte den Kopf. »Ach, Sir John«, sagte er leise, »wenn die Dinge doch so einfach wären …«
Sie gingen zurück in den Innenhof. Der Tower war inzwischen zum Leben erwacht, obwohl der Frost nicht nachgelassen hatte und nichts auf einen Wetterumschwung hindeutete. Hufschmiede hatten ihre Feuer entzündet, und der Hof hallte vom Klang der Hämmer und dem Rauschen der Blasebälge, an denen zerlumpte Lehijungen sich abrackerten, um den Schmiedefeuern Lebenshauch einzublasen. Ein Metzger schnitt ein Schwein auf, und Küchenjungen rannten umher, schüttelten das Blut von den Fleischstücken und stopften sie in dickbauchige Fässer mit Pökellake, damit sie bis zum Frühling hielten. Ein Roßknecht führte ein lahmendes Pferd im Kreis herum, damit seine Kameraden nach dem Fehler schauen konnten. Hausdiener und Mägde tauchten Berge fettverschmierter Zinnteller in Bottiche mit kochendheißem Wasser. Der Lieutenant betrachtete das Schauspiel und grinste.
»Bald ist Weihnachten«, erklärte er. »Da muß alles sauber und vorbereitet sein.«
Athelstan nickte. Er sah drei Jungen Stechpalmen und anderes immergrüne Gezweig über den Schnee zur Treppe des großen Burgturms schleifen.
»Ihr werdet Weihnachten feiern?« fragte Athelstan und deutete auf einen hochrädrigen Karren, von dem Soldaten gerade mächtige Weinfässer abluden.
»Selbstverständlich«, antwortete Colebrooke. »Der Tod ist ja kein Fremder im Tower, und Sir Ralph wird vor dem Heiligen Abend unter der Erde sein.« Er ging weiter, als sei er ihre Fragerei leid.
Athelstan zwinkerte Cranston zu, blieb stehen und rief: »Master Colebrooke?«
Der Lieutenant drehte sich um und hatte Mühe, seine Gereiztheit zu verbergen.
»Ja, Bruder?«
»Warum sind so viele Leute hier? Ich meine - die Hospitaliter, Master Geoffrey, Sir Fulke?«
Colebrooke zuckte die Achseln. »Der Bruder des Konstablers wohnt hier.«
»Und der junge Geoffrey?«
Colebrooke verzog spöttisch das Gesicht. »Ich glaube, der ist auf Mistress Philippa ebenso scharf wie sie auf ihn. Sir Ralph hat ihn zu Weihnachten in den Tower eingeladen, und warum auch nicht? Der Frost hat allen Geschäften in der Stadt ein Ende gemacht, und Sir Ralph bestand darauf, daß der Verlobte seiner Tochter bei ihm sei - besonders, seit er so merkwürdig ängstlich wurde.«
»Und die beiden Hospitaliter?« fragte Cranston.
»Alte Freunde«, antwortete Colebrooke. »Sie kommen jedes Jahr zu Weihnachten in immer gleichem Ritual. Zwei Wochen vor Weihnachten reisen sie an, und am Heiligen Abend speisen sie in der Goldenen Mitra außerhalb des Tower. Sie bleiben stets bis zum Dreikönigstag, und nach dem Fest der Erscheinung des Herrn fahren sie wieder. Dreimal haben sie es jetzt schon so gemacht; weiß der Himmel, warum.« Er wandte sich ab und spuckte gelben Schleim in den Schnee. »Wie gesagt, Sir Ralph hatte seine Geheimnisse, und ich war nie neugierig.«
Cranston fing an zu zappeln, ein Zeichen dafür, daß er sich allmählich langweilte und die Kälte satt hatte. Athelstan ließ zu, daß Colebrooke sie in den White Tower zurückbrachte, eine steinerne Wendeltreppe hinauf und durch einen Vorraum in die St.-John’s-Kapelle.
Als Athelstan den Weihrauchduft roch, entspannte er sich augenblicklich. Er betrat das Kirchenschiff mit seiner hohen Balkendecke und den breiten Gängen, die jeweils flankiert waren von zwölf runden, mit breiten grünen und scharlachroten Samtbändern umwickelten Säulen. Der Boden war blank gebohnert; die seltsamen roten Steinplatten schienen eigene Wärme abzugeben. Die zarten Gemälde an den Wänden und die großen Glasfenster fingen das blendend weiße Licht des Schnees ein und tauchten Chorraum und Kirchenschiff in warme, goldene Glut. An jeder Säule standen Kohlebecken mit Kräutern, und die Luft war schwer von der stickigen Süße des Sommers. Athelstan wurde es warm, behaglich und friedlich ums Herz, obwohl er die Kirche nicht ohne Neid betrachtete. Hätte er doch solchen Schmuck auch in St. Erconwald! Er sah den großen Silberstern über der Kanzel und ging entzückt nach vorn in den stillen Chorraum, bestaunte die Marmorstufen und den prachtvollen, aus reinweißem Alabaster gehauenen Altar.
»Welch stille Heiterkeit«, murmelte er, als er zu den anderen zurückkehrte.
Colebrooke lächelte befangen. »Als wir die Halle verließen, habe ich der Dienerschaft befohlen, hier alles vorzubereiten«, erklärte er und sah sich um. »Durch irgendeinen Trick oder Kunstgriff der Architekten, sei es nun die Dicke des Mauerwerks oder seine Lage im Tower, ist es hier in der Kapelle immer warm.«
»Ich brauche eine Erfrischung«, verkündete Cranston feierlich. »Ich habe zahllose Treppen erklommen, einen grausigen Leichnam beschaut, bin über glattes Eis balanciert, und jetzt habe ich genug. Master Colebrooke, Ihr scheint mir ein verständiger Mann zu sein. Ihr werdet die anderen hier versammeln, und da Vorweihnachtszeit ist, werdet Ihr einen Krug Wein für mich und meinen Schreiber mitbringen.«
Colebrooke nickte und eilte davon, nicht ohne zuvor mit Athelstans Hilfe die Stühle in weitem Halbkreis aufzustellen. Als er weg war, holte Athelstan einen blankpolierten Tisch aus dem Chorraum und legte Feder, Tintenhorn und Pergament bereit. Sorgsam wärmte er die Tinte über dem Kohlebecken, bis sie glatt und gleichmäßig aus der Feder floß. Cranston hockte auf seinem Stuhl, schlug den Mantel zurück und genoß die duftende Wärme. Athelstan betrachtete ihn aufmerksam.
»Sir John«, sagte er leise. »Seht Euch vor mit dem Wein. Ihr habt schon genug getrunken, und Ihr seid müde.«
»Hau ab, Athelstan!« lallte Cranston erbost. »Ich trinke, was mir paßt, verdammt!«
Athelstan schloß die Augen und betete stumm um Hilfe. Bis jetzt hatte Sir John sich benommen, aber der Wein in seinem Wanst konnte den Teufel in seinem Herzen wecken, und nur der Herrgott wußte, welches Unheil dann drohte.
Colebrooke kam schnellen Schritts zurück. Hinter ihm, Athelstan sah es mit Verzweiflung, schleppte ein Diener einen großen Krug Rotwein und zwei bauchige Becher. Cranston packte den Krug wie ein Verdurstender und stürzte zwei Becher Wein hinunter, während Familie und Gäste des Konstablers die Kapelle betraten und auf den Stühlen Platz nahmen. Endlich schloß Cranston die Augen, rülpste volltönend und satt und war zufrieden. Seine zögernden Gäste betrachteten ungläubig das rote Gesicht des königlichen Coroners, der sich mit hängenden Armen und Beinen vor ihnen auf dem Stuhl räkelte. Athelstan war hin- und hergerissen zwischen Zorn und Bewunderung. Cranston machte sich wegen irgend etwas Sorgen, und nur der Himmel wußte, weshalb. Aber die Fähigkeit des Coroners, einen Weinberg leerzusaufen und trotzdem seinen Scharfsinn nicht zu verlieren, war immer wieder faszinierend.
Der Dominikaner ließ den Blick rasch über die Versammlung wandern. Die beiden Hospitaliter schauten unbeteiligt und verächtlich drein. Philippa klammerte sich noch fester an ihren beschwipsten Verlobten, der Cranston wohlwollend angrinste. Rastani, der Diener, schien beklommen; anscheinend fürchtete er sich vor dem großen Kreuz, das an einem der Balken über ihm hing, und Athelstan fragte sich, wie echt die Bekehrung des Moslems zum wahren Glauben war. Sir Fulke wirkte gelangweilt, als wünschte er, von diesen ermüdenden Vorgängen verschont zu bleiben. Der Kaplan konnte seine Verdrossenheit über die unvermittelte Vorladung kaum verbergen.
»Ich danke Euch sehr«, begann Athelstan sanft, »daß Ihr gekommen seid. Mistress Philippa, bitte nehmt den Ausdruck unseres Mitgefühls zu dem jähen und grausigen Verlust Eures Vaters entgegen.« Athelstan spielte mit dem Stiel seiner Gänsefeder. »Wir kennen jetzt die Einzelheiten seines Todes.«
»Es war Mord!« Philippa beugte sich vor, und ihr üppiger Busen wogte unter dem dicken Taft ihres Kleides. »Mord, Bruder! Mein Vater wurde ermordet!«
»Ja, ja, das wurde er«, lallte Cranston. »Aber von wem, he? Warum? Und wie?« Er richtete sich auf und tippte trunken an seine feuerrote Nase. »Sorgt Euch nicht, Mistress. Der Mörder wird gefunden, und dann tanzt er seinen letzten Tanz auf dem Schafott zu Tyburn.«
»Euer Vater«, unterbrach Athelstan, »schien große Angst zu haben, Mistress Philippa. Er ist aus seinem gewohnten Quartier ausgezogen und hat sich in der Nordbastion verrammelt. Warum? Wovor hat er sich gefürchtet?«
Seltsames Schweigen senkte sich über die Gruppe.
»Ich habe eine Frage gestellt«, sagte Athelstan leise. »Wovor hatte Sir Ralph solche Angst, daß er sich in eine Kammer einschloß, den Sold seiner Wachen verdoppelte und jeden, der zu ihm kam, durchsuchen ließ? Wem war an Sir Ralphs Tod so viel gelegen, daß er in finsterer Nacht einen gefrorenen Wassergraben überquerte, an der Außenwand des Turmes hinaufkletterte und in eine bewachte Kammer eindrang, um einen scheußlichen Mord zu begehen?«
»Den Rebellen!« rief Colebrooke. »Verräter wollten einen Mann beseitigen, der den jungen König bis zum letzten Blutstropfen verteidigen würde.«
»Unsinn!« erwiderte Athelstan knapp. »Seine Gnaden, der Regent John von Gaunt, wird, wie Ihr selbst schon sagtet, Master Colebrooke, einen Nachfolger ernennen, der in seiner Loyalität nicht weniger glühend ist.«
»Mein Vater war etwas Besonderes!« platzte Philippa heraus. »Mistress.« Athelstan lenkte ihren tränenverschleierten Blick auf sich. »Gott weiß, daß Euer Vater etwas Besonderes war, in seinem Leben wie in seinen Geheimnissen. Ihr wißt etwas - warum erzählt Ihr es uns nicht?«
Das Mädchen schlug die Augen nieder. Sie zog die Hand unter ihrem Umhang hervor und warf ein vergilbtes Stück Pergament auf den Tisch. »Das hier hat das Leben meines Vaters verändert«, stammelte sie. »Nur der Himmel weiß, warum!« Athelstan griff nach dem Pergament und schaute rasch in die Runde. Die Hospitaliter wirkten plötzlich angespannt. Insgeheim mußte er lächeln. Gut, dachte er. Jetzt lüftet sich das Geheimnis.