Kapitel 3

Während Sandro die Via Senese im grauen Morgenlicht entlangfuhr und die rosa Vespa im Blick behielt, tat er das wie auf Autopilot. Nach drei Tagen hätte er es auch blind machen können: Sandro hatte immer schon ein Talent für die Orientierung gehabt. Wenn auch nicht für Verhandlungen.

Gestern Abend hatten er und Luisa über den Auftrag gesprochen, was Sandro überrascht hatte, und auch gefreut.

Sie war schon zu Hause gewesen, als er um halb acht heimkam.

Er war dem Mädchen zur Schule gefolgt, wo sie den ganzen Tag geblieben war, er war ihr wieder nach Hause gefolgt. Er war ihr in eine Kaffeebar in Galluzzo gefolgt, wo sie mit drei Freundinnen eine heiße Schokolade getrunken hatte, dann war sie wieder nach Hause gefahren.

Luisa hatte polpettone gekocht, und der Geruch von Kalb- und Schweinefleisch und Wein, der aus dem Ofen drang, hatte seine Stimmung gehoben wie schon seit Wochen nicht mehr. Er hatte sie dankbar am Herd umarmt, und sie hatte sich umgedreht und ihn rasch in die Wange gezwickt, bevor sie sich wieder ihren Pfannen zuwandte.

Sandro hatte sich an den Tisch gesetzt und sich ein Glas Wein von Morellino di Scansano eingeschenkt, den er im Weingeschäft in der Via dei Serragli auf dem Nachhauseweg gekauft hatte, als feierliche Geste, ein Auftrag war ein Auftrag. Die Besitzerin, eine große, kräftige Blondine, über die er manchmal ins Grübeln kam – ihre Stimme war zu tief, ihr Adamsapfel zu deutlich –, hatte ihm den Wein empfohlen. Sie oder er hatte einen ausgezeichneten Geschmack.

Luisa hatte das Fenster geöffnet, um die Fensterläden zu schließen, und er hatte gesehen, dass sie in der eisigen Luft zitterte. Irgendetwas in der Chemotherapie hatte sie in die Wechseljahre versetzt, und sie zog sich bei einer Hitzewallung die Weste aus.

»Du wirst dir den Tod holen«, sagte er hoffnungslos.

»Mir geht’s gut«, erwiderte sie ungeduldig, schien dann aber lockerer zu werden. Sie zog einen Pullover an, der über einer Stuhllehne hing. Sandro erinnerte sich nicht, ihn schon einmal gesehen zu haben. Zimtfarbene, feine Merinowolle. Sah teuer aus. Wenn Luisa sein Blick aufgefallen war, so hatte sie es sich nicht anmerken lassen.

»Hübscher Pullover«, sagte er sanft.

»Nicht wahr?«, meinte sie. »Alte Kollektion, hat kaum was gekostet.«

Er hätte froh sein sollen, dass sie stolz auf ihr Aussehen war. »Du siehst wunderschön aus«, hatte Sandro unbeholfen gesagt. »Meine wunderschöne Frau. Komm und trink ein Glas mit mir.«

»In einer Minute«, sagte sie, wandte ihm den Rücken zu und rührte in einer Pfanne.

»Was machst du denn jetzt?«, fragte er.

»Nur ein Ragout. Zum Einfrieren. Ich dachte, wo ich gerade dabei bin, mache ich das schnell noch. Ich habe auf dem Markt die doppelte Menge gekauft.«

Irgendetwas an diesem Kochmarathon machte Sandro nervös. Aber noch bevor er seine Nervosität näher fassen konnte, hatte Luisa die Schürze abgelegt und saß neben ihm. Ihre Haut leuchtete vor dem feinen Braun des neuen Pullovers. Sie erhob das Glas, in das Sandro ihr Wein eingeschenkt hatte.

Sie sprachen über Carlotta, und Sandro hatte gemerkt, wie der Wein und Luisas Aufmerksamkeit ihn weicher werden ließen, ihn entspannten.

»Klingt für mich wie ein normaler Teenager«, hatte Luisa gesagt.

»Wir haben nie Drogen genommen«, hatte Sandro entgegnet. Er war um die zwanzig gewesen, als er Luisa getroffen hatte, nahe genug an Carlottas Alter.

»Damals war alles anders«, hatte Luisa gesagt, mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. »Wir hatten kein Geld.«

Sie hatte einen winzigen Schluck Wein getrunken, Sandro wusste, dass sie irgendwo gelesen hatte, dass mehr als ein Glas Wein täglich das Risiko, an Brustkrebs zu erkranken, erhöhte. Sie war nie eine Trinkerin gewesen, er hatte ihr sagen wollen: Es gibt keinen Grund, cara, such nicht nach einem Grund.

»Das stimmt«, hatte er gesagt. »Richtig, wir hatten kein Geld.« Nicht, dass wir heute viel mehr hätten. »Aber es gab auch keine Drogen, nicht so wie heute.«

Luisa hatte ihn scharf angesehen. »Nicht so viele«, hatte sie gesagt. »Aber es gab welche.«

»Woher willst du das wissen?« Sandro war erstaunt gewesen. Seine Frau zuckte mit den Schultern, und ihm fiel auf, dass ihre Schultern so schmal waren wie damals, als sie das erste Mal zusammen ausgingen. Sie zog eine Augenbraue hoch und lächelte ihn listig an.

»Als ich damals zu arbeiten begonnen habe, gab es Mädchen, die nahmen bestimmte Pillen. Drogen, die sie schlank hielten. Die amerikanischen Studenten brachten einiges mit, Amphetamine, nehme ich an. Sie nannten es Speed. Erinnerst du dich nicht an den Jazzclub hinterm Bahnhof?« Ihre Augen blitzten.

Und Sandro hatte sich daran erinnert, obwohl er dreißig Jahre nicht mehr an den Ort gedacht hatte, nicht, dass er jemals in diesem Club gewesen wäre. Er war in den späten Sechzigern geschlossen worden, vernagelt und vergammelt, bis er zwanzig Jahre später als Discountladen wiedereröffnet wurde. Gatto Nero.

»Bist du je dahin gegangen?«, hatte er sie neugierig gefragt. »In die Gatto?« Dreißig Jahre, und doch gab es immer noch Dinge, die er nicht über Luisa wusste.

»Ein- oder zweimal. Der Fotograf hat mich mitgenommen.«

Der Fotograf war vor Sandros Zeit gewesen. Er war zwanzig Jahre älter als Luisa und ein Freund, nicht der Freund. Sandro war trotzdem sehr eifersüchtig auf den Mann gewesen. Ihm wurde erst jetzt klar, da er selbst in den Fünfzigern war, dass der Fotograf, der schon lange tot war, fast sicher schwul gewesen war. Luisa hatte den Mann verehrt, das war alles, was Sandro wusste.

Es war Ewigkeiten her, dass sie das letzte Mal so miteinander gesprochen hatten. Ihre eheliche Spezialität war Ruhe und Frieden. Und lange vor dem Krebs hatten sie das letzte Mal über die alten Zeiten gesprochen. Sandro hatte gewusst, dass er es einfach geschehen lassen und es genießen sollte, aber er konnte es irgendwie nicht. Was bedeutete das?

»Ein Einzelkind«, hatte Luisa kopfschüttelnd gesagt. »Sie sind heutzutage alle Einzelkinder. Das muss ja schiefgehen.«

»Das weiß ich nicht«, hatte Sandro nachdenklich erwidert. Er hatte ihr nicht erzählt, wie das Kind entstanden war, das wertvolle Kind. Hätten sie ein eigenes Kind gehabt, er und Luisa, wenn sie ihre Scham überwunden und Experten konsultiert hätten? Das würden sie nie wissen.

»Ich nehme an, dass sie das Richtige tun und es direkt zu Anfang verbieten, sollte sie tatsächlich mit Drogen zu tun haben«, hatte er hinzugefügt. Er hatte an das Mädchen gedacht, wie sie mit ihren Freundinnen bei einer heißen Schokolade saß und kicherte. »Bisher hat sie allerdings noch keinen falschen Schritt gemacht. Aber normalerweise geht sie am Wochenende aus. Donnerstag, Freitag. Gestern Abend ist sie zu Hause geblieben.« Er hatte Luisa angesehen. »Ich gehe also davon aus, dass ich morgen erst spät zurückkomme.«

Luisa nickte und sah plötzlich ängstlich aus.

»Sie ist ein nettes Mädchen«, hatte Sandro gesagt. »Sie wird’s schon schaffen.«

»Gut«, hatte Luisa gesagt, ihn leicht getätschelt und war aufgestanden. Ihr Glas auf dem Tisch hatte sie kaum angerührt.

»Also, was soll das alles?«, hatte Sandro gefragt, als sie sich bückte, um nach den polpettone zu sehen.

»Was?«, hatte Luisa über die Schulter gefragt.

»Dieser Kochrausch«, sagte er lächelnd. »Nicht, dass ich mich darüber beschwere.«

Er hatte eigentlich nicht gedacht, dass es einen echten Grund dafür gäbe. Aber den gab es.

»Deck den Tisch«, sagte sie, »dann erzähle ich es dir.«

Er hatte gewusst, dass es ihm nicht gefallen würde.

 

Kurz hinter der Stadtmauer fuhr die rosa Vespa bei Gelb über eine große Kreuzung, und Sandro fuhr bei Rot hinter ihr her, weil es ihm plötzlich egal war. Ein Lieferwagen hupte, bremste knapp hinter ihm, aber Sandro sah sich nicht einmal um.

Die Sonne war gerade über den Hügeln des Casentino im Osten aufgegangen und schien auf den silbrigen Arno, der sich unter den riesigen Schirmpinien, die die Viale Michelangelo säumten, wand. Sie waren fast angekommen. Vor ihm wurde Carlotta Bellagamba langsamer, die kleine Vespa schwankte, als würde auch Carlotta die Aussicht bewundern, als wäre auch sie überrascht von ihrer überwältigenden Stadt. Die tiefe, flache Sonne strahlte auf die goldene Kugel oben auf der großen, roten Kuppel von Santa Maria del Fiore, und dahinter, im Südwesten, waren die entfernten Apenninen mit Schnee bedeckt.

Die rosa Vespa schoss in der letzten Minute nach links, ein alter Mann mit Hut und Mantel sprang wütend aus dem Weg, Sandro bog gemütlich hinter ihr ab.

Die Schule, das Liceo Classico Marzocco, war natürlich die beste. Die hohen, verputzten Mauern entlang der Straße, die einem Außenstehenden wie ein Feldweg mit überhängenden Glyzinien und Magnolien erscheinen mussten, verbargen einige der exklusivsten Immobilien der Stadt. Vor Sandro stellte sein Zielobjekt ihre Vespa in eine lange Reihe von Mopeds vor einer blitzsauberen Fassade, wie sie es jeden Tag getan hatte, an dem er sie beobachtete.

Sandro fuhr langsam weiter, und als er außer Sichtweite war, stellte er sich in eine Auffahrt und stieg aus.

Der Bürgersteig vor der Schule war voller Schüler, die rauchten und redeten. Sie hüpften in der Kälte herum und lachten. Sie warteten bis zum letzten Moment, bevor sie hineinliefen. Es war jetzt nach acht Uhr. Sandro ging langsam, damit er Zeit hatte, Carlotta in der Menge zu finden. Er musste vom Bürgersteig auf die Straße treten, so voll war es, und dann zwang ihn ein glänzender, neuer Audi wieder zurück. Er blieb direkt vor den Schultoren stehen. Ein gut aussehender, älterer Mann mit Schnurrbart in einem perfekten Anzug, ein bisschen wie Frollini, dachte Sandro, ein Tausend-Euro-Anzug, dazu eine nette Sonnenbräune. Er war ihm sofort unsympathisch. Der Mann stieg aus und schimpfte mit dem schlaksigen, langhaarigen Jungen, der beleidigt auf der Beifahrerseite ausstieg. Sohn oder Enkelsohn? Sohn, beschloss Sandro, dieser Mann war offensichtlich reich und clever genug, um trotz seines Alters eine gebärfähige Frau gefunden zu haben. Ihm schien es völlig egal zu sein, dass sein breites Auto ein Hindernis darstellen könnte. Schließlich schlurfte der Junge weg. Und nachdem er arrogant eine Minute dagestanden und ihm nachgesehen hatte, stieg der Mann wieder in den Audi und fuhr los.

Ungeduldig wartete Sandro darauf, dass das große Auto wegfuhr. Aus den Augenwinkeln beobachtete er den großen Jungen, der durch die Menge ging. Zu seiner Überraschung blieb er bei Carlotta stehen, Carlotta in ihrer lila Strickmütze, und beugte sich zu ihr vor, um sie zu begrüßen. Er war locker, aber Carlottas Körpersprache sagte Sandro, dass, falls der Junge nicht ihr Freund war, sie sich wünschte, er wäre es. Das war das erste Mal, dass Sandro ihn sah, was bedeutete, dass er den Stundenplan nicht so genau nahm. Seine langen Haare waren glatt und glänzend, und er trug einen Armeerucksack. Carlotta hakte sich bei ihm ein, er akzeptierte das. Sie gingen hinein.

Sandro wartete, an die Schulmauer gelehnt, für den Fall, dass sie noch einmal herauskam. Es gab junge Leute, die in der Technik des Schuleschwänzens geübt waren. Sie wussten genug, um nicht einfach zu verschwinden, sie wussten, wie sie sich zuerst eintragen und dann abhauen konnten. Aber dann war es auch so, dass die Straße im scharfen, blauen Licht so schön war und plötzlich so friedlich, jetzt, da alle Schüler im Gebäude verschwunden waren, dass er das Gefühl hatte, er könnte den ganzen Tag über hier stehen bleiben. Damit er nicht nachdenken musste.

Der Schule befand sich gegenüber eine niedrige Steinmauer, hinter der es bergab in ein kleines Tal ging, mit Olivenbäumen und einer perfekten Villa, bevor es auf der anderen Seite wieder bergauf ging bis zur beeindruckenden, mittelalterlichen Stadtmauer, die sich über den Hügel zog. Es war möglicherweise der perfekteste Ausblick, den Sandro je gesehen hatte: das Silbergrün der Bäume, der goldene Stuck der Villa, die rauen, grauen Steine der Festungsanlagen der Stadt und die entfernte, stattliche Silhouette des großen Domes dahinter. Holzrauch stieg von irgendwo am Abhang auf, das Licht war wegen der frühen Stunde noch rosig, der Himmel war von einem fast unwirklichen, klaren Blau.

Luisa.

Es stellte sich heraus, dass dort herumzustehen ihn doch nicht vom Grübeln abhielt. Sandro stampfte in sprachloser Frustration mit den Füßen auf, und das Geräusch störte die Stille. Er sollte jetzt Hand in Hand mit Luisa durch diese schmalen Gassen gehen und auf die Stadt sehen, sie sollten ihren Ruhestand genießen.

Dinge zu klären, das war noch nie Sandros Stärke in der Ehe gewesen. Er zog es vor, Unstimmigkeiten auszusitzen. Er hatte es gestern Abend versucht, und er dachte sogar, dass es ihm gelungen wäre. Luisa hatte geglaubt, dass er sich für sie freue. Es sah ihr nicht ähnlich, sich etwas vorzumachen, aber dieses Mal hatte sie nur gehört, was sie hören wollte.

»Liebling«, hatte sie gesagt und den Holzlöffel neben die Pfanne gelegt, den Deckel aufgesetzt und ihre Schürze abgenommen, »ich muss dir etwas erzählen.«

Sechs Monate zuvor hätten ihm diese Worte die Haare aufgestellt. Aber der Schrecken war weniger geworden, und Sandro spürte den Luxus einer geringeren Angst, der nagenden, schuldbeladenen, selbstmitleidigen Art, die fragte: Und was ist mit mir?

»Na ja, eigentlich muss ich es dir nicht unbedingt erzählen«, meinte sie, »ich muss dich was fragen.« Ihr Blick flackerte. Und sie hatte ihm in die Augen gesehen. Er fragte sich, wieso ihre Haut immer noch so weich und leuchtend aussah nach all dem Gift, das man ihrem Körper zugeführt hatte? Sie hatten gesagt, sie solle nicht in die Sonne gehen und dass die Chemo Nebenwirkungen haben könnte, aber sie sah wunderbar aus.

»Erzähl weiter.« Sandro lächelte sie an. Wie schlimm konnte es sein? Er machte sich keine Sorgen, sie hatte irgendwelche guten Nachrichten, so viel war klar.

»Ich werde befördert«, sagte sie, und ein Lächeln zuckte um ihren Mund. Sie strich eine lose Strähne hinters Ohr, und Sandro sah, dass sie ein bisschen geschminkt war. »Na ja, irgendwie jedenfalls.«

»Aha«, hatte Sandro erwidert. »Cara, das ist toll.« Dann hatte er nachgedacht. »Aber du bist die Geschäftsführerin. Wie kannst du befördert werden, wenn du schon die Chefin bist?« Er lächelte immer noch, aber er hörte, dass er nörglerisch klang, indem er ihre Neuigkeiten infrage stellte. Ihr ihren Erfolg missgönnte.

»Also, Frollini« – sie errötete kaum sichtbar –, »er will, dass ich eine aktivere Rolle spiele. Als Einkäuferin, weißt du.«

Frollini. Und da war er wieder zwischen ihnen, mit seiner Sonnenbräune, seinem dünnen Schnurrbart, einer schönen Villa nicht weit von ihnen entfernt und einem glänzenden Sportwagen. Er war immer sehr gut zu Luisa gewesen, und jedes Mal, wenn er Sandro traf, was vielleicht zwei Mal pro Jahr der Fall war, nahm er Sandros Hand zwischen seine Hände und drückte sie heftig. »Sie sind ein glücklicher Mann, Cellini«, sagte er dann, bevor er ihm zu fest auf die Schulter klopfte.

Auf dem frostigen Hügel räusperte sich Sandro, unwillkürlich genervt beim Gedanken an Frollini, bei der Erinnerung an seine eigene unehrliche Reaktion auf Luisa gestern Abend und an die Aussprache. Geschah ihm recht.

»Also«, hatte er ernst gesagt, »das ist toll.« Er wusste nicht, was er sich unter Einkaufen vorgestellt hatte, dass Luisa sich Dias anschaut oder vielleicht Broschüren oder im Internet surft? Dass sie zu Florentiner Modeschauen geht, Pitti Uomo und so was, und auswählt, was ihr für die nächste Saison gefällt, eigentlich ganz harmlos.

Na ja bis zu einem gewissen Punkt, wie sich herausstellte.

»Wann fängst du an?«, hatte er gefragt.

»Nun, das ist es ja«, hatte Luisa erwidert. »Er will, dass ich mit ihm zu den Modeschauen gehe. Also, Frollini.«

Sandro hatte gespürt, wie sein Lächeln verkrampfte bei dem Gedanken an den gut aussehenden, alten Mann in seinen Kaschmiranzügen, wie er Luisa die Autotür aufhält. Er hatte eine Frau in seiner Villa, sie waren seit ewigen Zeiten verheiratet, ihre Kinder waren erwachsen und arbeiteten im Ausland. Es hatte immer Gerüchte über Frollini und eine Geliebte gegeben, aber er war sehr diskret. Und dann fiel Sandro ein, dass Luisa ihren Boss stets gegen solche Anschuldigungen verteidigt hatte. »So ist er nicht«, hatte sie gesagt. »Er ist nicht so schäbig. Nein.«

Andererseits erwartete er so etwas von ihr, Loyalität war Luisas zweiter Vorname.

»Okay«, hatte er gesagt und heftig genickt, um seine erstarrten Gesichtszüge zu verbergen. »Modeschauen. Wann? Und wo?« Er hatte mit gespielter Nonchalance die Schultern gezuckt. »Mailand?«

Neben ihm trat jemand aus der Seitentür der Schule auf die schmale, sonnenbeschienene Straße: der Hausmeister. Sandro hatte sich ihm bereits vorgestellt. Er hatte es tun müssen – ein Mann mittleren Alters, der vor einer Schule herumhängt … Widerwillig hatte der Mann ihm geglaubt. Es stellte sich heraus, dass er selbst ein Expolizist war.

Sandro nickte, der Mann nickte zurück.

Gestern Abend hatte Luisa ihm nicht in die Augen sehen können. »Eigentlich«, hatte sie gesagt und war stärker errötet, »New York. Die nächsten Modeschauen sind in New York.«

Sandro hatte genickt, verwirrt, und er stellte nicht einmal die nächste Frage, weil das ganze Gebäude, das er gebaut hatte, die Welt, in der Luisa wieder wie früher wäre und sie die Wochenenden und Abende zusammen verbrachten, bei ruhigen Essen, Picknicks und Ausflügen aufs Land, um ihn herum mit solch katastrophaler Unausweichlichkeit zusammenbrach, dass er wusste, er musste nicht auch noch nachhelfen. Sie würde es ihm sagen.

»Nächste Woche«, hatte sie gesagt und von ihren Händen aufgesehen. »Montag früh fliege ich hin, am Mittwoch bin ich wieder hier.« Ihr Gesichtsausdruck war halb trotzig, halb schuldbewusst gewesen. »Spät am Mittwoch.«

Er war perplex gewesen. Sie fuhr in zwei Tagen weg? Es war also bereits alles organisiert, und er konnte sowieso nichts mehr tun. Er spürte, wie sich Wut in ihm regte und zusammenballte, kindisch. Mich fragen? Sie fragt mich nicht. Sandro hatte sich zusammengerissen.

»Wie aufregend«, hatte er wie taub gesagt. »Mamma mia.«

Sie hatte sich vorgebeugt und ihre Arme um ihn geschlungen, nachdem sie seine Zustimmung gehört hatte. Sandro hatte ihre Weichheit an seinem Körper gespürt, konnte ihren süßen, bekannten Geruch riechen, vermischt mit den schwereren Kochgerüchen, und hatte toben wollen wie ein enttäuschtes Kind. Er hatte nichts mehr gesagt, hatte die polpettone gegessen, die wunderbar rochen, aber in seinem Mund nur wie Sägespäne schmeckten. Er hatte sie mit zu viel Morellino heruntergespült und war bemüht jovial geworden. Er hatte nicht gut geschlafen.

Aber an diesem Punkt befanden sie sich.

 

Die Sonne stand höher am Himmel, und die Mauer erwärmte sich trotz der feinen Frostschicht, die immer noch im Tal unter ihm sichtbar war. Neben Sandro genoss der Hausmeister die Wärme und stand zufrieden da. Sein Schlüsselbund hing am Torschloss, er hielt ein Feuerzeug und schützte seine Zigarette mit der Hand, beugte sich zurück und blies den blauen Rauch mit tiefer Befriedigung aus.

Es war 8 Uhr 30, und Carlotta war in der Schule, wo sie sein sollte.

Der Hausmeister wandte sich Sandro zu. »Und?«, sagte er, »wie läuft’s?« Er nickte in Richtung des offenen Tors. »Die Überwachung?«

Die Szene war so absurd friedlich – das scharfe, blaue Winterlicht, der strahlend weiße Putz, die pittoreske, gewundene Straße und die Stadt, die unter ihnen lag –, dass diese Frage für den Bruchteil einer Sekunde keinen Sinn ergab. Und in dieser Sekunde hatte Sandro vergessen, warum er dort war. Dann fiel ihm der sarkastische Tonfall der Frage auf.

»Ich habe heute Morgen einen Jungen bei ihr gesehen«, sagte er ruppig. Er erlaubte es diesem Mann nicht, ihn von oben herab zu behandeln.

Der Hausmeister nahm eine kleine, runde Blechdose aus seiner Tasche, öffnete den Deckel und drückte seine Zigarette darin aus, bevor er sie wieder schloss, mit dem Zigarettenstummel darin. »Sonst muss ich es ja doch später selbst wieder saubermachen«, erklärte er. »Großer, dünner Junge? Mit langen Haaren?«

»Genau der«, sagte Sandro. »Sind das schlechte Neuigkeiten ?«

»Alberto! Das hängt davon ab, wie man es sieht.« Schweigen. »Ich würde nicht wollen, dass meine Tochter sich mit ihm trifft.« Dann schien er Mitleid mit Sandro zu haben. »Obwohl ihre Eltern wahrscheinlich nichts gegen ihn haben.« Sein Tonfall war sarkastisch, Sandro sah ihn neugierig an.

»Sehr reich«, sagte der Hausmeister geduldig. »Eine der alten Familien, aber sie haben sich finanziell abgesichert. Ihnen gehört das halbe Lagerhaus in Prato. Sie haben ein Schloss irgendwo auf dem Land, eine Yacht liegt in Porto Ercole, die Mutter verbringt das halbe Jahr irgendwo in Indien. Goa? Sie ist jetzt dort.«

Er sah Sandro erwartungsvoll an, wartete darauf, dass er weitere Fragen stellte. Sandro würde sich eher die Zunge abbeißen. Es interessierte ihn nicht. Das überließ er den Hohlköpfen, die Promimagazine kauften. Aber Goa: Von Goa wusste er vor allem, dass es dort viele Drogen gab. Oder war die Mutter eine dieser religiösen Verrückten, die Yoga und Zen und so einen Kram machten? So oder so, es war nicht die Art von Familie, die er mochte. Wie als Antwort auf seinen Gesichtsausdruck lachte der Hausmeister auf. »Wenn der alte Mann bei einer seiner Freundinnen ist, heißt es Tag der offenen Tür. Das habe ich zumindest gehört. Und sie, sie ist ein nettes Mädchen, verstehen Sie mich nicht falsch, aber sie spielt nicht in seiner Liga.«

»Aha«, sagte Sandro. »Ich frage mich, ob sie ihnen von ihm erzählt hat, also, ihren Eltern.«

Der Hausmeister zuckte mit den Schultern und drehte sich weg. »Vielleicht gibt’s ja gar nichts zu erzählen«, sagte er. »Er hält sie nur hin.«

Die Hände in den Taschen, nickte Sandro. Ihm war kalt.

»Kommen Sie um eins wieder«, sagte der Hausmeister. »Die Schule ist heute um ein Uhr zu Ende. Holen Sie sich einen Kaffee, Sie sehen erfroren aus.« Und weg war er.

Direkt hinter der Porta San Miniato standen Gäste vor einer kleinen Kaffeebar und rauchten, die Hände in Handschuhen, in der kalten Luft. Drinnen war es warm und hell und voll von örtlichen Exzentrikern und Künstlertypen, und ein fetter, theatralischer, bärtiger Barista servierte ihm einen exzellenten Kaffee und ein Gebäckstück. Sandro setzte sich und wählte Giulis Nummer.

Um ein Uhr ging er den Hügel wieder hinauf zum Liceo Classico Marzocco. Carlotta Bellagamba war weg. Er hatte sie verpasst.