Kapitel 24

Cate presste ihr Gesicht an das Fenster von Tizianos Erdgeschosswohnung mit dem Aufzug und dem extra umgebauten Badezimmer, rief seinen Namen und griff durch das Sicherheitsgitter und klopfte an das Glas. Sie geriet vor Panik und Angst langsam außer Atem. Cate dachte daran, dass Tiziano nie jemanden hereinließ: Er kam an die Tür, um sein Mittagessen entgegenzunehmen, oder sie ließen es auf der Türschwelle stehen. Eine zurückgezogen lebende Person.

Ein eigenartiges Geräusch, hatte Nicki gesagt. Was für ein eigenartiges Geräusch? Hatte er Schmerzen? War er in Schwierigkeiten? Cate dachte an seinen Gesichtsausdruck am Abend vorher, als er sie in Michelles Apartment auf seinen Schoß gezogen hatte. Hatte er etwas mit Loni Meadows’ Tod zu tun? Hatte er etwas … Dummes gemacht?

Cate merkte, dass sie nicht an Michelle denken konnte. Sie begriff das alles nicht. Die abrupte Erkenntnis, dass es gar kein Unfall gewesen war, diese Theorien, die Sandro Cellini mit sorgfältiger Entschlossenheit entwickelt hatte, waren plötzlich Tatsache: Es war unwirklich, aber es war wahr. Dieses Glatteis hätte es dort gar nicht geben dürfen, und Loni Meadows war zu einem Liebestreffen gerufen worden, das überhaupt nicht existierte.

»Tiziano«, flüsterte sie, bemüht, die Panik aus ihrer Stimme zu tilgen, »caro, was machst du da drin?« Sie schluckte. »Geht’s dir gut?«

Und dann öffnete sich die Tür. Er saß da. Er blockierte die Tür nicht wie sonst, lächelte kühl, streckte die Hände nach seinem Mittagessen aus. Er blieb aber mit dem Gesicht im Schatten der Tür und erlaubte es Cate einzutreten. Sie trat ein, und die Tür schloss sich hinter ihr.

Es war dunkel, sogar noch dunkler, als es in der Küche gewesen war. »Hast du Kerzen?«, fragte sie. Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern ging wie eine Blinde durch den eckigen, düsteren Raum, stieß gegen den großen, glänzenden Flügel, das Gegenstück zu dem in der Bibliothek, der dieses kleine Zimmer dominierte, und wich ihm dann aus. Sie wusste, wo die Kerzen sich befanden, da sie den Vorrat für solche Gelegenheiten auffüllen musste: Sie waren in einer Schublade in der Kommode. Sie zündete eine an und stellte sie in eine Untertasse. Sie gab nicht viel Licht, aber es war besser als nichts. Tiziano zuckte mit den Schultern, drehte sich ihr zu, und während sich ihre Augen an das Licht gewöhnten, sah sie, wie er sich verändert hatte.

»Nicki und Ginevra machten sich Sorgen um dich«, sagte sie. »Du hast nicht geantwortet.«

»Ich hatte vergessen, wie es ist«, sagte er mit rauer Stimme. »Das ist alles. Ich hatte vergessen, wie abreisen ist. Sich verabschieden. Und wir hätten noch vier Wochen zusammen haben sollen.«

Konnte das alles sein? Dass er sie vermissen würde, diese merkwürdige Familie von Außenseitern und Einzelgängern? Das konnte nicht alles sein. Cate trat an seinen Rollstuhl und hockte sich neben ihn hin. Sie spürte, dass ihre Füße immer noch nass vom Schnee waren, und ihr Körper fühlte sich vor Müdigkeit und Kälte fiebrig an. Sie fragte sich, wie lange es dauern würde, bis das Leben wieder normal würde. Wenn das jemals wieder der Fall sein würde.

Was, wenn es nicht Michelle war? Was, wenn sie dieses Handy jemand anderem gegeben hatte? Sie und Tiziano hatten sich immer nahgestanden.

»Tiziano«, sagte sie und konnte die Angst nicht aus ihrer Stimme heraushalten. »Lieber.« Cate benutzte das Kosewort, wie ihre Mutter es ihr gegenüber benutzt hätte, wie sie es gegenüber dem Bruder, den sie nie hatte, benutzt hätte. »Er hat es mir erzählt. Cellini hat mir von deinem Unfall erzählt. Von der Bombe, die deinen Vater getötet hat. Von Lonis Ehemann, dem Anwalt, der den Bombenleger verteidigt hat.«

»Hat er das?«, sagte Tiziano, und seine Stimme kam von irgendwo tief unten.

»Warum warst du aufgeregt?« Sie wollte nicht fragen, warum er geweint hatte. »Weil du diesen Haufen verlassen wirst?«

»Glaubt er, dass ich es war?«, fragte Tiziano, ohne ihre Frage zu beantworten. »Glaubt Cellini, dass ich ihr Auto manipuliert habe oder sie unter Drogen gesetzt oder meinen Rollstuhl mitten in der Nacht in der Kurve geparkt habe, um sie von der Straße zu drängen?«

Cate konnte nichts sagen.

Schließlich fand sie Worte. »Ich habe ihm gesagt, dass du es auf keinen Fall warst«, sagte sie.

»Du glaubst nicht, dass ich es hätte tun können?« Tiziano nahm schnell ihre Hand, hob sie an seinen Mund und drückte sie fest an sein Gesicht. Sie spürte seine weichen Lippen und die Stoppeln und die Kraft seiner Hände.

»Körperlich?«, sagte sie und spürte etwas wie Adrenalin durch ihren Körper schießen. »Ich glaube, das könntest du. Ja.« Dann, mutig: »Weißt du, wie du querfeldein dorthin gelangst?«

Und er machte ein Geräusch, einen Schmerzenslaut. »Lass mich dir sagen«, sagte er, »dass ich es getan haben könnte. Es gibt nichts, was ich nicht tun kann, in diesem Stuhl oder draußen.« Und er ließ abrupt Cates Hand los. »Nichts«, wiederholte er, obwohl sie beide wussten, dass das nicht stimmte.

»Weißt du«, sagte er in einem Tonfall, der fast normal klang, was merkwürdig war, »dass der Bombenleger noch mindestens drei weitere Menschen wegen ihres Ehemanns getötet hat? Lonis Ehemann, der Menschenrechtsanwalt: Wo waren die Menschenrechte dieser Toten? Wo waren meine? Eine von ihnen war eine Frau, frisch verheiratet und im vierten Monat schwanger.«

Es war furchtbar unpassend, aber Cate fragte sich, ob Tiziano Kinder wollte. Und zum ersten Mal dachte sie an Vincenzo, V’cenz, der, als sie mal auf der Straße in einen Buggy geschaut hatte, gesagt hatte: »Du willst doch keine Kinder, oder, Cate? Auf keinen Fall.«

»Ich erinnere mich daran«, sagte sie, und das tat sie auch. Eine Bombe in einer Kaffeebar in Triest.

»Glaubst du, dass ich jemanden umbringen würde? Jemanden verkrüppeln will? Glaubst du, dass ich diese Rache will?«

Und Cate wusste nicht, was sie sagen sollte, weil sie und Sandro Cellini genau darüber nachgedacht hatten. Der Flügel schimmerte im fahlen Licht, das durch das Fenster fiel, die Kerze flackerte. Das Zimmer war kahl, abgesehen von dem großen Instrument und einem schmalen Bett. Eine Mönchszelle, aber Tiziano hatte beim Gedanken daran, sie zu verlassen, geweint.

»Rache an einer Frau, nur weil sie mit diesem alten Gauner verheiratet war? Sie umbringen, um ihn zu treffen? Wer hat sich das denn ausgedacht? Du? Cellini?« Seine Stimme war vor Aufregung ganz rau.

»Er kennt dich nicht«, sagte Cate. »Es ist nicht seine Schuld. Und außerdem, er glaubt auch nicht, dass du es warst. Nicht mehr.«

»Ich hätte es tun können«, sagte Tiziano und setzte sich im Rollstuhl auf. Er war größer als sie, wie sie da neben ihm hockte, ihre Hand auf seinem harten Knie, obwohl er sie natürlich nicht spürte. »Ich hätte es tun können, aber ich habe es nicht getan. Sie war mir eigentlich völlig egal.«

Dann drehte er sich ihr zu. »Wer dann?«, fragte er. »Was glaubt er, wer es war?«

»Er denkt, es war Michelle«, sagte Cate, und es entstand eine lange Stille. Sie hatte gedacht, er werde sie verteidigen, aber das tat er nicht.

»Wegen ihres Ehemanns«, sagte er, und sie fragte sich, woher er es wusste. »Meadows hatte ihr Veto gegen ihn eingelegt, wusstest du das? Sie hat gesagt, sie will hier keine Ehepaare haben. Und er hat sich umgebracht. Kein Wunder, dass sie wütend ist.«

»Das würdest du nie tun«, sagte sie unvermittelt. »Oder?« Er nahm ihre Hände und umfasste sie.

»Sag niemals nie«, sagte Tiziano, als murmelte er Koseworte. Mai dire mai.

»Nein.« Cate spürte, wie die Dunkelheit näher an sie herankroch, spürte die Kälte durch den Steinfußboden aufsteigen und flüsterte: »Sag so was nicht.«

»Man weiß es nicht, Süße«, erwiderte Tiziano sanft. »Du weißt nicht, wie es ist. Es gibt einiges, das sich regeneriert, und einiges, das so bleibt. Das Rückenmark gehört zu den Dingen, die sich nicht regenerieren.«

Cate wollte in diesem Moment sagen, dass es völlig egal war, dass seine Beine nicht funktionierten, aber sie wusste nicht, wie man so etwas sagen konnte. Ihm war es nicht egal, das war das Entscheidende.

Außerdem sprach er noch.

»Sieh dir Alec Fairhead an. Er hat sich richtig regeneriert«, sagte er bitter.

»Was meinst du«, fragte sie beunruhigt.

»Nach wie vielen Jahren der Trauer – zwanzig? – ohne Beziehungen, ohne ordentliche Arbeit. Jetzt, da Loni tot ist, versucht er es bei jeder.«

»Wusstest du davon? Von Alec und Loni?« Sie schaute ihn an.

»Er hat es mir erzählt. Am Morgen, nachdem sie gestorben war, hat er es mir erzählt. Sie hat sein Kind abgetrieben, wusstest du das?« Cate schüttelte langsam den Kopf. »Jetzt ist er ein neuer Mann«, sagte Tiziano. »Er hat dich gestern Abend gebeten, mit ihm durchzubrennen, heute ist er hinter der kleinen Tina her. Er ist im Moment dort und lässt sich von ihr trösten.«

»Was?«, sagte sie. Sie hatte nicht gewusst, dass Tiziano sie letzten Abend gehört hatte. »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist, mit Tina«, sagte sie und merkte, wie Panik in ihr aufstieg. »Sie ist so verletzlich.«

»Oder weil du ihn für dich willst?« Sie starrte Tiziano an, überrascht von dem Zorn in seiner Stimme.

Er sah weg, aber nicht schnell genug. Sie hatte etwas in seinen Augen aufblitzen sehen. »Hast du es denn vorausgesehen? Mit Michelle?« Seine Stimme drückte nur noch oberflächliche Neugier aus, als wäre es ihm egal.

Und dann dachte Cate an Michelle, wie sie an dem Ölfass beim Feuer stand, sah den Ausdruck in Mauros Gesicht, als er hinlief, um sie aufzuhalten. Er hatte gedacht, dass sie etwas Schlimmes vorhatten, oder nicht? Warum hatte sie Michelles Geschichte so einfach geschluckt?

Sie hätte all den Kram auf die Wiese kippen und ihn durchsuchen sollen, bis sie wusste, was verbrannt werden sollte. Aber sie hatte Angst gehabt.

Sie hätte Sandro Cellini davon erzählen sollen, aber sie hatte die beiden Frauen schützen wollen.

Cate fühlte sich plötzlich vollkommen allein, die Last ihrer Fehler drückte auf ihre Schultern. Die Stimme ihrer Mutter klang ihr wieder in den Ohren: Wann wirst du Verantwortung übernehmen, Caterina?

»Ich gehe dort hinunter«, sagte Cate und hörte ihre eigene Stimme wie von weit entfernt. »Ich gehe nach unten zum villino.«

»Wie du willst«, sagte Tiziano steif.

Und erst als sie in der Kälte durch den Schnee lief, zu den Bäumen hinunter, wurde ihr klar, dass er dachte, Alec Fairhead sei der Grund, warum sie dorthin ging.

 

Luca Gallos Gesicht fiel in sich zusammen, während sie ihn ansahen, und plötzlich kraftlos, setzte er sich in den Stuhl hinter seinem Schreibtisch. Er schaute sich um, als erkenne er seine Umgebung kaum noch und hätte keine Ahnung mehr, was um ihn herum vorginge.

Sandro stand da, beobachtete ihn und wartete, Michelle Connor neben ihm schien vollkommen entspannt und neugierig.

Gallo hatte seinen Stuhl zurückgeschoben und schaute auf die Schubladen. Auf seinem Schreibtisch herrschte totales Chaos – ein überquellender Eingangskorb, ein kleines Foto eines Männergesichts war unter den Computerbildschirm gerutscht, Papiere lagen auf den Fußboden. Waren das die Anzeichen, dass ein Mann den Verstand verlor?

»Stimmt das?«, fragte Sandro ruhig.

Luca Gallo schüttelte den Kopf, dann sah er auf. »Wie bitte?«, sagte er.

»Hat sie Ihnen letzten Mittwoch, am Tag vor Loni Meadows’ Tod, das Handy gegeben?«

»Am Tag davor?«, sagte Luca langsam. »Ich bin mir wegen des Tages nicht mehr sicher.«

»Aber bevor sie gestorben ist?« Sandro war geduldig. Luca nickte. »Vorher«, sagte er, »ja.«

Es war unglaublich zäh; der Mann war traumatisiert. »Ich versuche gerade nachzudenken«, sagte er, »wo ich es hingetan habe.«

»Spielen Sie auf Zeit?«, fragte Sandro, so sanft er konnte. »Denn Sie geben damit mir die Zeit, mir über eines klar zu werden: Wenn hier irgendjemand Loni Meadows’ Autounfall hätte arrangieren können, dann waren Sie das.« Während sie ihn ansahen, fokussierten Gallos Augen langsam wieder, er wirkte wie hypnotisiert. Sandro fuhr fort: »Sie hätten Mauro dorthin schicken können, nicht wahr? Damit er die Drecksarbeit erledigt, die Straße präpariert. Das hätte er gut gekonnt, und jetzt kann er, ziemlich passend, keinen Kommentar dazu abgeben. Sie waren nicht beim Abendessen, Sie hätten warten können, bis alle das Esszimmer verlassen, und dann diese SMS schicken. Wirklich nur Sie hätten diese Nachricht schicken können, stimmt’s?«

»Woher wissen Sie das?« Luca schien nach einer logischen Erklärung zu suchen. »Wie können Sie sich so sicher sein, dass die SMS von seinem Handy kam?«

Sandro zuckte mit den Schultern. »Das kann ich natürlich nicht.« Er nahm das kleine, silbrige Handy, das Loni Meadows gehört hatte, aus seiner Tasche und sah es nachdenklich an. »Natürlich, selbst wenn Orfeos Handy nie wieder auftauchen sollte, dann wird das hier es mir schließlich sagen.« Er klappte es auf und strich gedankenverloren mit dem Daumen über den kleinen, toten Monitor.

»Das kann es Ihnen auch jetzt sagen«, warf Michelle ein, und Sandro drehte sich zu ihr um. »Was meinen Sie?«, fragte er, und sie gestikulierte ungeduldig. Er gab ihr das Handy und beobachtete stirnrunzelnd, wie sie ihr eigenes Handy aus ihrer Tasche nahm und es aufklappte.

Gallo öffnete panisch einige Schubladen. »Warten Sie«, sagte Sandro, »beruhigen Sie sich.«

»Es ist irgendwo hier«, sagte Gallo. Die Schubladen standen offen, er sah mit wildem Blick hoch.

»Es muss hart gewesen sein«, sagte Sandro, die Arme vor der Brust verschränkt, »für so eine Frau zu arbeiten. Und dann, als sie Sie vor aller Augen beschimpfte …« Sandro sah etwas Leidenschaftliches in Gallos Augen kommen.

»Also«, sagte Sandro, »Per Hansen sagt, er hat gegen Mitternacht ein Licht gesehen, das sich seitlich um das Schloss herumbewegte und dann querfeldein.« Er stützte sich mit den Fingerspitzen auf den Schreibtisch, Auge in Auge mit Gallo. »Die Polizei wird es herausfinden, wissen Sie. Sie werden die Schuhe oder die Hose finden, sie werden Spuren daran entdecken.« Er hielt inne. »Was haben Sie mit dem Handy gemacht? Haben Sie es zerstört? Hatten Sie gehofft, es würde niemand mehr danach fragen? Oder wollten Sie es einfach zurückgeben und darauf bauen, dass Orfeo zu dumm und zu arrogant ist, um Fragen zu stellen?«

Gallo sah nach unten auf das Durcheinander von Papier, alten Telefonbüchern und Akten. Dann konzentrierte er sich und griff zu. »Hier«, sagte er. »Hier, hier ist es.« Und dann schwenkte er einen Umschlag, auf dem »Graf Orfeo« stand, in einer ordentlichen Schrift, die überhaupt nicht zu dem Chaos im Zimmer passte.

Sandro hielt inne.

»Gut«, sagte er und streckte langsam die Hand aus. Gallo zögerte, dann ließ er den Umschlag in Sandros Hand fallen, und in diesem Moment schaute Michelle auf und hielt ihr verkratztes telefonino hoch. Der Bildschirm leuchtete.

»Sehen Sie«, sagte sie, »geschafft. Ihre SIM-Karte in meinem Handy. Lonis Anrufe und ihre Nachrichten, alles hier.«

»Und hier«, sagte Sandro und wog den Umschlag in seiner Hand, merkwürdig widerwillig, ihn zu öffnen. »Und warum haben Sie ihm das Handy nicht zurückgegeben, Luca?«, fragte er und fühlte plötzlich nicht den geringsten Triumph. »Er hat Sie gestern Abend danach gefragt.«

»Das hat er, ja, das hat er«, sagte Luca eifrig. »Ich habe ihm gesagt, dass es gefunden wurde. Er wollte es heute Morgen abholen.« Er machte ein langes Gesicht. »Aber er ist heute Morgen schon früh abgereist.«

Sandro riss den Umschlag auf und zog das Handy heraus. Er drückte auf den Knopf, nichts passierte.

»Ich nehme an, der Akku ist leer«, sagte Luca nervös. Sandro grummelte, schaute es an und überlegte. Er drückte noch einmal auf den Knopf, dann warf er das Ding auf den Schreibtisch, wo es auf einem Stapel Museumsbroschüren landete. Michelle trat näher.

»Hier«, sagte sie ruhig, »sehen Sie sich das an.«

SMS. Die letzte Nachricht kam von jemandem, der als Nic in Loni Meadows’ Adressbuch stand.

Bin heute Abend frei, stand da auf Englisch. Vielleicht dachte derjenige, der die Nachricht geschickt hatte, dass das aristokratischer sei. Im Liberty. Du weißt, dass ich nicht gern warte.

»Sie hatten recht«, sagte Michelle erstaunt.

Langsam nahm Sandro ihr das Handy ab und klickte zurück zu den Informationen über die Anrufe. Die letzte Nummer, die sie angerufen hatte.

Nic, 00:09, 22. Februar. Ein Anruf um neun Minuten nach Mitternacht, Freitagnacht.

»Sie hat angerufen«, sagte Sandro. »Sie war da unten in der Dunkelheit, mit einer Kopfverletzung, voller Angst, sicher unter Schock, wahrscheinlich unterkühlt.« Beide starrten ihn an. »Sie hat ihren Liebhaber angerufen«, fuhr er fort. »Natürlich, sie dachte, er käme ihr zu Hilfe.« Er wandte sich Luca Gallo zu. »Umso dümmer von ihr.«

Gallo sah ihn an, schüttelte den Kopf, aber Sandro wollte nicht warten.

»Haben Sie überhaupt geantwortet? Haben Sie ihrem Schluchzen gelauscht, oder war sie nicht mehr in der Lage zu sprechen?« Er sah Gallo in die Augen. »Sie waren nicht einmal damit zufrieden, sie sterben zu lassen, nicht wahr? Sie mussten hinunterlaufen, um sicherzugehen. Und dann haben Sie ihre Taschen nach dem Handy durchsucht und es in den Fluss geworfen.«

Sandro schaute auf das Chaos im Büro und fragte sich, ob dieser Mann die Geistesgegenwart besaß, so etwas zu tun. Er musste sie gehasst haben.

»Hat sie Sie bedroht, hat sie in ihrem Blog über Sie geschrieben? Hat sie vielleicht das Büro in Amerika angeschrieben und Vorwürfe erhoben? Haben Sie ihren Computer manipuliert, um Beweise zu vernichten?«

In der Stille in diesem düsteren, muffigen Zimmer spürte Sandro etwas so deutlich wie einen Temperaturwechsel, das von Michelle Connor ausging.

»Luca?«, sagte sie völlig entsetzt. »Nein.«

»Haben Sie Mauro dazu gebracht, für Sie das Glatteis zu machen?«, fuhr Sandro fort. »Das hätte er getan, ohne nachzufragen, stimmt’s? Und später dann kamen Sie hier herauf. Sie haben das Abendessen verlassen und haben gesagt, Sie würden hier hochgehen, aber niemand hat Sie gesehen, oder doch? Sie hätten überall sein können.«

Und Gallo sagte leise: »Nein.«

»Nein?« Verdammt, dachte Sandro, verdammt. Gesteh doch einfach.

»Ich habe mit meinem Freund Salvatore in Sizilien telefoniert«, sagt Gallo schlicht, und dann waren seine Angst und seine Aufregung vorbei. »Er wird es bestätigen. Die Telefonaufzeichnungen werden es bestätigen. Wir haben bis spät in die Nacht gesprochen.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht genau, bis wann. Es ist egal. Er wird es Ihnen sagen können.«

Auf dem Schreibtisch zwischen ihnen leuchtete Niccolo Orfeos Handy auf.

KEINE SIM, stand da.

Sandro sah es stirnrunzelnd an. »Was bedeutet das?«, fragte er ungeduldig. Sein eigenes Handy mochte für ihn wichtig sein, aber er war oft von den Details, den unverständlichen Nachrichten genervt.

»Es bedeutet, dass die Sim-Karte nicht drin ist«, sagte Michelle zögernd. Sie klang, als würde ihr übel.

»Aber sie war drin, als Sie es gefunden haben. Und als Sie es übergeben haben …«

»Ich habe es nicht, es war nicht … «, Michelle erstarrte.

»Einen Moment mal«, sagte Sandro, weil ihm etwas einfiel, etwas, dass ihm schon vor einer Stunde hätte auffallen müssen. »Sie haben« – er sprach langsam –, »haben Sie nicht gesagt: Wir haben gelacht? Sie haben gesagt: Wir dachten, was für ein alter Narr, was für eine Nutte. Wir.«

Er sah von Gallo zu Michelle. »Michelle hat Ihnen das Handy nicht gegeben, oder?«, sagte er zu Gallo. Und zu Michelle: »Mit wem haben Sie diese Nachrichten gelesen? Wem haben Sie es anvertraut, es Luca zurückzugeben?«

Aber er wusste es bereits.

 

»Schneit es da unten wirklich?«, sagte Luisa, das Handy in der Hand, während sie hin und her lief. »Und wahrscheinlich hat er dort auch keinen Empfang.« Sie drückte ihr Gesicht gegen das Glas, als könne ein Blick auf Santa Maria del Carmine ihr helfen. »Was, wenn er einen Unfall hatte?«

»Es ist ziemlich abgelegen«, sagte Giuli. Sie hörte kaum zu. Sie las einen Eintrag in Loni Meadows’ Blog von vor sechs Monaten über eine Ausstellung in New York. Sie versuchte, das Englisch zu verstehen. Im Text ging es weniger über Kunst, was gut war, denn wenn sie auf die kleinen Fotos klickte, dann fand Giuli sie im besten Fall unverständlich, im schlimmsten richtig verstörend. Der Text schien mehr ein Angriff auf die Künstlerin zu sein.

»Komm her«, sagte sie zu Luisa, »dein Englisch ist besser als meines.« Luisa durchquerte mit zwei Schritten das Zimmer, ungeduldig wie immer, und setzte sich neben Giuli auf den Stuhl. »Rutsch mal«, sagte sie und schaute auf den Bildschirm. Giuli holte noch einen Stuhl.

»Billiger Exhibitionismus«, übersetzte Luisa. »Kein Gemälde, sondern ihr Missbrauch in der Kindheit. Das ist keine Kunst, sondern unzüchtige Enthüllung. Müll aus Wohnwagen …« Luisa wusste nicht, was das bedeuten sollte, »… sie nimmt den Dreck aus ihrem Nabel und klebt ihn an einen Topf.« Sie schaute sich das Bild an, vergrößerte es. Die elegante Form einer etruskischen Amphore mit schmalem Hals. Wenn man genau hinsah, entdeckte man eine hässliche Kreatur, die auf dem glatten Kragen der Vase saß, ein gehörntes Ding mit Zähnen und voller Haarbüschel und Nägel, das über eine schreckliche Energie verfügte. Luisa wich zurück.

»Kindesmissbrauch?«, sagte Giuli. Luisa schaute sie an. »Ja«, sagte sie und griff nach einem Blatt Papier.

»Ich habe es doch gesagt, oder nicht?«, murmelte sie und sah von dem Blatt zum Bildschirm. »Ich habe gesagt, wenn ich eine von all denen als psychisch instabil aussuchen müsste, dann sie. Und Sandro hat gesagt: Sucht nach den Schwachen, nicht nach den Starken. Das ist sie.«

Und Luisa nahm ihr Handy. »Ich werde ihn anrufen«, sagte sie. »Er muss das wissen. Denn wenn ich dieses Mädchen wäre, dieses missbrauchte Mädchen, das aufgewachsen ist, um in ihrem eigenen Leben Monster zu kreieren, und wenn ich das hier lesen würde, wenn ich mir vorstelle, dass Millionen Leute das über mich lesen würden …« Und sie unterbrach sich, um zu wählen, dabei schüttelte sie den Kopf.

»Sie also«, sagte Giuli. »Tina Kreutz.«