Vor dem Vorzimmer des Kriminaldirektors warten sie, bis die Tür zugegangen ist und sie unter sich sind.
Keiner sagt ein Wort.
Weil gerade noch ein Bürobote einen Wagen mit Akten vorbeischiebt, inspizieren sie so lange ihre Schuhspitzen. Umständlich sucht der Bote die richtigen Aktenordner heraus, bevor er mit ihnen im nächsten Büro verschwindet.
Abel merkt sofort, dass Paul vom Virus angesteckt ist, der den leidenschaftlichen Jäger befällt, sobald er die Witterung des Wilds aufnehmen kann. Dass Paul diese Witterung aufgenommen hat, kann er ihm regelrecht ansehen. Abel hat keinen Augenblick daran gezweifelt, dass Paul mit Leib und Seele Polizist geblieben ist.
Aber wehe, er würde ihm das auf den Kopf zusagen.
Nichts hasst Paul mehr, als wenn er glaubt, durchschaut zu werden. Also spielt Abel das Spielchen mit und weiß von nichts.
Es ist wie in der Steinzeit.
Daran hat sich seit Tausenden von Jahren nichts geändert.
Es gibt die Sammler, und es gibt die Jäger.
Er und Sandra Kleinert sind Sammler. Sie sammeln Informationen und Beweise.
Simon ist Jäger.
Wenn er es schafft, eine Spur zu finden und ihr zu folgen, dann bringt er den Täter auch zur Strecke.
»Okay«, legt Paul los, als auch der letzte Schritt auf dem Gang verklungen und die letzte Tür geschlossen worden ist.
»Wir machen jetzt Folgendes …«
Er streckt die Hand aus, und Sandra braucht einen kurzen Augenblick, bis sie begreift, was Paul will. Sie klappt ihre Umhängetasche auf, holt die Beweismitteltüte heraus und reicht sie Paul.
»Danke. Abel und ich fahren damit jetzt zu einem Labor, das ich kenne. Wenn jemand in der Lage ist, etwas Brauchbares zu finden, dann dort. Sandra – du machst mir eine Zusammenfassung von höchstens fünf Seiten, in der alles steht, was wir bisher wissen. Von Indizien und Abläufen bis zu relevanten Zeugenaussagen. Dann brauche ich eine genaue Liste der Opfer mit allem, was wir über sie in Erfahrung bringen können.«
»Ist das alles?«, fragt sie und hebt eine Augenbraue. In der Gewissheit, dass Simon noch lange nicht fertig ist.
Und genauso ist es.
»Nein«, sagt er. »Ich möchte, dass von der Beerdigung des ersten Opfers …«
»Tamara Jaeger.«
»Ja, Tamara Jaeger. Ich möchte, dass möglichst viele der Trauergäste anhand der Fotos namentlich identifiziert werden.«
Sandra Kleinert pustet einmal tief durch.
»Das ist eine Sisyphusarbeit, das weißt du.«
»Ist mir klar. Dann holst du dir eben ein paar Leute von der Sonderkommission dazu.«
Er will schon gehen, dreht sich aber noch einmal um. »Ach so, ja – die Obduktionsberichte der Opfer und die Laboranalysen der Kugeln und der Hülsen … die brauche ich auch noch. Wir sehen uns dann.«
Sandra hält ihn auf.
»Warte, eine Minute noch, Paul. Ich dachte, ich hätte da drin bei unserem Chef gehört, dass wir ein Team sind …«
Paul blickt sie verständnislos an.
Sandra zeigt auf den Beweismittelbeutel.
»Willst du uns nicht verraten, was du da vom Baum gepflückt hast?«
Paul seufzt, dann sieht er ein, dass er diesmal nachgeben muss.
»Na schön. Aber das muss vorerst unter uns bleiben. Ich will keine falschen Hoffnungen wecken, sonst ist hier gleich der Teufel los.«
»Da sind wir uns einig«, stimmt ihm Abel zu, der ahnt, auf was Simon hinauswill. »Ich möchte nur eines wissen: Warum bringst du das nicht in unser Labor? Wir sind technisch auf dem neuesten Stand, das weißt du!«
»Das ist mir klar. Aber eines will ich auf gar keinen Fall: dass die Leute vom LKA oder vom Verfassungsschutz spitzkriegen, dass wir vielleicht – ich sage vielleicht! – etwas haben. Dann ist es nämlich ab sofort nicht mehr unser Fall, versteht ihr? Dann kommandieren uns andere herum. Und vom Verfassungsschutz oder vom LKA lasse ich mir nicht in die Arbeit pfuschen.«
»Hört sich vernünftig an«, gibt ihm Abel recht. »Wenn du denen den Mittelfinger zeigst, merken sie nicht mal, wie du das meinst, und nehmen gleich die ganze Hand.«
»Aber jetzt spann uns nicht länger auf die Folter«, mahnt Sandra. »Was ist das?«
Paul sieht sich um und hält den Beutel gegen das Licht, nachdem er sich noch einmal davon überzeugt hat, dass niemand in der Nähe ist.
»Das könnte, wenn mich nicht alles täuscht, ein Referenzpunkt für einen Scharfschützen sein. So was bringen die an, um von ihrem Standpunkt aus zu sehen, ob, woher und wie stark der Wind weht, wenn sie auf sehr weite Entfernungen schießen. Technisch korrekt heißt das Windrichtungsanzeiger.«
»Das heißt, ein Scharfschütze bringt so etwas vorher an, wenn er die Gelegenheit dazu hat«, meint Abel.
»Ganz genau. Wenn dieses Schleifchen von unserem Heckenschützen stammt, dann hat er das vor der Tat dort befestigt. Und zwar so, dass es niemandem auffällt. Nur er weiß das. Und er kann es von seinem Standpunkt aus sehen.«
»Hast du es mit dem Fernglas vom Rohbau aus entdeckt?«, will Abel wissen.
»Ja. Aber man sieht es nur, wenn man danach sucht«, antwortet Paul. »Der Kerl hat es vielleicht Tage vorher angebracht. Wahrscheinlich nachts, weil er da irgendwie hochsteigen musste. Das ist eine Vorsichtsmaßnahme, weil er nicht wissen konnte, wie das Wetter am Tattag und zur Tatzeit sein würde. Ob es ein Gewitter gibt beispielsweise. Das kann im Hochsommer immer passieren. Seit der Tat ist schon einige Zeit vergangen, und es hat auch geregnet, aber mit ganz viel Glück finden wir noch einen Fingerabdruck. Unser Mann hat beim Anbringen des Bändchens bestimmt keine Handschuhe angehabt. Das wäre viel zu umständlich gewesen.«
Er packt den Beweismittelbeutel weg und gibt ihnen das Zeichen zum Aufbruch, weil eine Gruppe von Polizeibeamten in Uniform um die Ecke kommt.