ZEHN

Lockhardt führt Melanie Voigt ins angrenzende Wohnzimmer und zum Ecksofa, auf das sie sich sinken lässt. Sie verbirgt das Gesicht in den Händen.

Er sieht sich um.

Die Einrichtung ist einfach und hell, ein wenig kitschig vielleicht mit jeder Menge Nippes-Figuren in dem großen Vitrinenschrank, der eine ganze Wand einnimmt, und mit Puppen auf den Sofalehnen. Zwei große, gerahmte Clownsbilder neben dem Flat-TV, alles sauber und ordentlich.

Das Fenster und die Terrassentür gehen nach hinten auf den rückwärtigen Garten hinaus, der drei- oder viermal so groß ist wie das Ziergärtchen vor dem Haus und ebenfalls frisch gemäht.

Abel fällt auf, dass kein einziges Foto zu sehen ist, weder von Marvin Voigt noch von seiner Frau oder gar von beiden zusammen. Aber er entdeckt mehrere Häkchen an der Wand. Und wenn man ganz genau hinschaut, kann man erkennen, dass sich unterhalb der Häkchen rechteckige Flächen befinden, die einen Tick heller sind als die Wandfarbe. Hier haben Bilder gehangen, die jemand hat verschwinden lassen.

Er hört das Wasser in der Küche rauschen, und endlich kommt Paul mit einem vollen Glas, das er vor Melanie Voigt auf den Couchtisch stellt. Abel geht vor ihr in die Hocke, um auf Augenhöhe zu sein, und fragt: »Frau Voigt – brauchen Sie einen Arzt?«

Ihr energisches Kopfschütteln zeigt, dass sie keineswegs im Schockzustand erstarrt ist. Sie greift nach dem Wasserglas und trinkt in langsamen, großen Schlucken, bevor sie es wieder abstellt, sich zurücklehnt und mit klarer Stimme sagt: »Jetzt stellen Sie schon Ihre Fragen, deshalb sind Sie doch hergekommen. Ich werde sie beantworten, so gut ich kann.«

Paul zögert keine Sekunde und nimmt das Angebot sofort an.

»Sie leben getrennt? Seit wann?«, fragt er.

»Seit einem halben Jahr.«

»Und wo wohnte Ihr Mann?«

»Keine Ahnung. Jedenfalls nicht hier.«

Paul setzt sich ihr gegenüber. »Frau Voigt – trauen Sie Ihrem Mann einen Suizid zu?«

»Ich weiß es nicht«, sagt sie nach einem gewissen Zögern. »Eigentlich traue ich ihm alles zu. Er war seit seiner Rückkehr aus Afghanistan verändert. Ich kannte ihn nicht mehr. Er war nicht mehr der Mann, den ich geheiratet habe.«

»Wann ist er zurückgekommen?«

»Vor einem Jahr.«

»Das war aber nicht sein erster Auslandseinsatz als Soldat, oder?«

»Nein. Sein vierter. Er war süchtig danach. Kaum war er acht Tage zu Hause, hielt er es schon nicht mehr aus und wollte wieder weg. Der Krieg hat ihn kaputtgemacht und dann nicht mehr losgelassen.«

»Haben Sie sich deshalb von ihm getrennt?«

»Ja. Unter anderem.«

»Er war nicht mehr derselbe, sagen Sie. Hatte er ein Einsehen, dass er eventuell unter den Nachwirkungen seines Kriegsein­satzes gelitten haben könnte?«

»Sie meinen, ob ihm sein desolater Geisteszustand bewusst war?«

»Ja. So in etwa.«

»Wissen Sie, was er getan hat, wenn ich ihn darauf angesprochen habe? Er ist ausgeflippt, war aggressiv, fuchsteufelswild. Hat gewütet. Sachen an die Wand geworfen. Danach ist er weggefahren, kam tage- und nächtelang nicht mehr nach Hause.«

»Hat er sich in ärztliche Behandlung begeben?«

»Erst auf mein wiederholtes Drängen hin. Weil ich es nicht mehr ausgehalten habe mit ihm und seinen … Stimmungsschwankungen. Ich habe ihn vor die Wahl gestellt – entweder er lässt sich behandeln, oder ich lasse mich scheiden.«

»Wie hat er reagiert?«

»Er hat mich grün und blau geschlagen.«

Es ist plötzlich so still im Zimmer, dass man das sonore Brummen des Kühlschranks aus der offenen Küchentür hören kann.

Paul und Abel warten, bis Melanie Voigt von selbst weiterredet. Mit leiser, aber gefasster Stimme fährt sie schließlich fort.

»Hinterher hat es ihm leidgetan. Er hat Rotz und Wasser geheult, sich tausendmal entschuldigt, mich auf Knien angefleht, ihm zu verzeihen, es würde garantiert nie mehr vorkommen, blablabla …«

»Aber es kam wieder vor …«

»Natürlich, was denken Sie? Nach der Versöhnung sah es kurzfristig so aus, als könnten wir wieder ein normales Leben führen. Aber das täuschte. Oder besser gesagt: Ich ließ mich täuschen. Irgendein banaler Anlass genügte, und das Ganze ging wieder von vorne los. Ich hatte die falsche Zahnpasta gekauft oder sein Lieblings-T-Shirt verwaschen oder was auch immer. Schreie, Schläge, Schluchzen, Bitten um Vergebung. Immer wieder die gleiche Leier. Bis ich es nicht mehr ausgehalten habe. Eines Abends habe ich meine Sachen gepackt und bin ins Frauenhaus.«

Nun laufen ihr die Tränen herunter. Abel reicht ihr ein frisches Papiertaschentuch, das sie wortlos annimmt.

»Als ich im Frauenhaus war, hat er sich endlich in Behandlung begeben.«

»Wegen PTBS?«, fragt Abel.

Melanie Voigt nickt.

»Wo? Bei wem?«, fragt er nach.

»Ich weiß es nicht. Wird wohl irgendeine Institution bei der Bundeswehr gewesen sein. Der Psychologische Dienst, nehme ich an.«

»Kennen Sie einen Dr. Sokratis?«, will Paul wissen.

»Nicht, dass ich wüsste …«

»Erzählen Sie weiter«, bittet Abel. »Hat sich Ihr Mann verändert, als er in Behandlung war?«

»Ja. Er ist von heute auf morgen ausgezogen. Keine Ahnung, wohin. Aber er hat mir einen Brief dagelassen. Da stand drin, dass ihm alles leidtut und er mich nicht mehr belästigen will. Nie mehr. Und dass er in die Scheidung einwilligt.«

»Haben Sie den Brief noch?«

»Nein. Längst zerrissen und weggeworfen.«

»Haben Sie ihm geglaubt? Dass er Sie in Ruhe lässt?«

»Zuerst nicht. Eine Freundin hat die erste Zeit sicherheitshalber bei mir hier übernachtet. Nur für alle Fälle.«

»War er noch mal da?«

»Kein einziges Mal. Ich habe ihn seither nicht mehr ge­sehen.«

»Haben Sie mit ihm telefoniert? Hat er Sie angerufen?«

Sie zögert, bevor sie spricht. »Zehn oder zwölf Mal hab ich einen Anruf von einer unterdrückten Nummer bekommen. Meistens mitten in der Nacht. Wenn ich dann abgehoben habe, hat der Anrufer nichts gesagt. Kein Wort.«

»Er hat Ihnen also auch nicht Angst gemacht oder Sie bedroht?«

»Nein. Sobald ich abgehoben und mich gemeldet habe, hat er aufgelegt.«

»Und woher wollen Sie wissen, dass er es war?«

»Wer sollte mich sonst mitten in der Nacht anrufen?«

»Sie wissen also nicht, wo Ihr Mann sich die letzten drei ­Wochen aufgehalten hat?«

»Nein.«

»Hatte Ihr Mann Kontakt zu anderen Soldaten? Irgendein Kameradennetzwerk, wo er untergeschlüpft sein könnte?«

»Nein. Mein Mann ist ein Einzelgänger. War ein Einzelgänger, meine ich …«

»Hat Ihr Mann Waffen versteckt? Zum Beispiel hier im Keller? Oder überhaupt im Haus?«

»Hatte er mal, ja. Wir hatten einen Riesenstreit deswegen.« Sie lacht traurig. »Was heißt deswegen – in den letzten Jahren und Monaten hatten wir ständig Streit wegen irgendwas.«

»Um was für Waffen ging es?«

»Keine Ahnung. Pistolen, Gewehre – es war sein Job als Soldat, damit umzugehen, verstehen Sie?«

»Was genau war sein Job?«

»Er war ausgebildeter Scharfschütze.«

Paul und Abel wechseln einen raschen Blick.

»Aber jetzt befinden sich keine Waffen mehr hier im Haus?«, hakt Abel nach.

»Nein, keine einzige. Ich habe gesagt, ich will hier keine Waffen haben.«

»Hat er sich daran gehalten?«

»Ja. Er hatte mal einen Waffenschrank im Keller. Den hat er weggebracht, als ich im Frauenhaus war.«

»Was ich Sie jetzt frage, ist sehr wichtig. Wo könnte Ihr Mann die letzten Wochen gewesen sein? Hatte er Zugang zu irgendeiner Wohnung? Vielleicht von einem befreundeten Soldaten?«

»Ich weiß es nicht.«

»Er hatte ein eigenes Auto, oder?«

»Ja. Das war sein Ein und Alles. Er hat in jeder freien Minute daran herumgebastelt. Und selbst umlackiert hat er es auch. In so einem scheußlichen militärbraunen Mattton. Aber es stand nie in unserer Garage. Dazu ist sie viel zu klein, sein Pick-up hat da nicht reingepasst.«

»Wo hat er den Wagen normalerweise untergestellt?«

Melanie Voigt schnäuzt sich und schüttelt dann plötzlich den Kopf.

»Nein. Tut mir leid. So geht das nicht weiter. Ich werde hier ausgequetscht wie eine Zitrone. Und Sie geben gar nichts preis. Was ist hier eigentlich los? Sie können mir nicht erzählen, dass Sie mir all diese Fragen stellen, nur weil mein Mann aus einem Fenster in den Tod gesprungen ist. Jetzt sind Sie an der Reihe – weswegen sind Sie eigentlich hier?«

Nachdem sie wieder einen kurzen Blick ausgetauscht haben, nickt Paul fast unmerklich, und Abel räuspert sich.

»Wir können es noch nicht mit absoluter Sicherheit sagen, aber es besteht der dringende Verdacht, dass Ihr Mann in eine größere Sache verwickelt sein könnte«, beginnt er vorsichtig.

»In was?«, will Melanie Voigt wissen. »Was für eine größere Sache soll das sein?«

Bevor Abel zu viel preisgibt, geht Paul dazwischen.

»In Waffenschiebereien.«

Er lässt seinen Bluff im Raum stehen.

Seine Antwort zeigt Wirkung. Melanie Voigt scheint durchaus bewusst zu sein, dass hinter diesem Begriff genügend Zündstoff steckt, um umfangreichere polizeiliche Untersuchungen zu legitimieren. Paul merkt, dass er sie am Haken hat, und lässt nicht locker.

»Frau Voigt, was wir brauchen, ist irgendein Hinweis, wo Ihr Mann sich aufgehalten hat, als er nicht mehr bei Ihnen war. Wo hat er seinen Pick-up untergebracht, seine Sachen, seine Waffen? Fällt Ihnen gar nichts ein, was für uns hilfreich sein könnte? Es ist sehr wichtig, glauben Sie mir!«

Er sieht Melanie Voigt eindringlich an.

Die gibt sich schließlich einen Ruck, steht auf und geht zum Wohnzimmerschrank. Dort zieht sie eine Schublade heraus und knallt sie samt Inhalt auf den Couchtisch.

»Das ist alles, was ich noch von ihm besitze. Sie können den Inhalt gerne mitnehmen, ich will das Zeug nicht mehr behalten.«

Paul und Abel werfen einen Blick in die Schublade. Es sind Fotos darin, gerahmte Fotos. Jetzt erklären sich die hellen Flecke an der Wand. Die Bilder waren früher offenbar im Wohnzimmer aufgehängt.

Auch ein Schuhkarton befindet sich in der Schublade. Paul nimmt den Deckel ab. Der Karton enthält Briefe, gebündelt und zusammengeschnürt. Paul stülpt den Deckel wieder über die Schachtel und nimmt sich gemeinsam mit Abel die Fotos vor. Dazu legt er sie einzeln auf dem Couchtisch aus und sieht sie sich an, während Abel ihm über die Schulter schaut. Eines pickt er heraus, hält es hoch und betrachtet es genauer.

Es zeigt Marvin Voigt im T-Shirt mit verschränkten Armen, sodass seine Muskeln und seine Tattoos zur Geltung kommen, lässig an seinen matt lackierten braunen Pick-up gelehnt. Im Hintergrund ist die Fassade eines Gebäudes zu erkennen. Und ein ausgeblichener Schriftzug, »Gebr. Gondorff«.

Paul hält es Melanie Voigt hin. »Wo ist dieses Bild aufgenommen worden, wissen Sie das?«

Sie nimmt es in beide Hände, betrachtet es lange und konzentriert.

»Doch, ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Er hat mal erzählt, dass er eine Werkstatt angemietet hat.«

»Wo?«

»Irgendwo am Stadtrand. Im Norden, Richtung Flughafen. Allach, Karlsfeld, Freimann, Moosach. Genau weiß ich das nicht. Ich weiß nur, dass das der Tag gewesen sein muss, als er den Pick-up fertig lackiert hatte. Er war furchtbar stolz darauf. Das Foto hat er mit Selbstauslöser aufgenommen und extra vergrößern lassen. Hing prominent da drüben.«

Sie zeigt auf die jetzt leere Wand neben der Küchentür.

Pauls Handy meldet sich. »Another brick in the wall« von Pink Floyd:

»Daddy’s flown across the ocean

Leaving just a memory

Snapshot in the family album …«

Es dauert eine ganze Weile, bis er das Handy herausgefingert und auf lautlos gestellt hat. Nach einem kurzen Blick auf das Display stürmt er mit einer hastig gemurmelten Entschuldigung hinaus, um den Anruf ungestört entgegennehmen zu können.

Es ist der Anruf, auf den er so lange gewartet hat.

Der Anruf von Frau Dr. Sedlaczek.