ZWÖLF

Es ist Nacht geworden.

Die Autobahn in Richtung München zieht sich schnurgerade dahin. Es herrscht wenig Verkehr.

Paul Simon hat den Tempomat auf 130 gestellt und gibt sich größte Mühe, die Augen offen zu halten.

Unterwegs musste er eine Pause einlegen. Die Anspannung hatte ihren Tribut gefordert. Er fühlte sich, kurz nachdem er den Vierkanthof hinter sich gelassen hatte, zerschlagen wie ein Boxer nach einem Zehn-Runden-Kampf mit abschließendem Knockout. Außerdem hatte er plötzlich Hunger wie ein Wolf. Das war kein Wunder. Er hatte seit seinem Frühstück im Hotel, bei dem er nur Kaffee und ein trockenes Hörnchen hinuntergebracht hatte, nichts mehr gegessen.

Als er auf dem Weg zur Autobahn in einem Ort, dessen Namen er schon wieder vergessen hat, eine Wirtschaft mit Biergarten am Straßenrand sah, hatte er angehalten, in aller Ruhe einen Schweinsbraten gegessen und dazu ein erfrischendes, eiskaltes Radler getrunken, was seine Lebensgeister einigermaßen zurückbrachte. Und sein inneres Gleichgewicht noch dazu.

Aber jetzt, gut sechzig Kilometer vor München, merkt er, dass die Müdigkeit allmählich die Oberhand gewinnt. Der Sekundenschlaf hat ihn selbst überrascht. Er weiß nicht, wie lange er die Augen geschlossen hatte, doch zu seinem Glück verläuft die Autobahn auf diesem Teilstück kerzengerade und ist vollkommen leer.

Es gibt nichts so Einschläferndes, wie in gleichmäßiger Geschwindigkeit bei Dunkelheit ewig geradeaus zu fahren. Er beschließt, am nächsten Rastplatz abzubiegen und notgedrungen auf dem Fahrersitz ein Nickerchen zu machen.

»Powernapping«, wie seine große Tochter sagt, wenn sie ihn aufzieht, weil er an einem verregneten Sonntagnachmittag auf dem Sofa über dem Wirtschaftsteil der Zeitung eingeschlafen ist.

Mein Gott – wie lange ist das schon wieder her, dass er einen friedlichen Tag zusammen mit seiner Familie verbracht hat …

Endlich wird der nächste Rastplatz angezeigt.

Paul biegt von der Autobahn ab und verlangsamt sein Tempo, bis er in Schrittgeschwindigkeit auf einen der freien Parkplätze rollt und anhält. Es ist ein altmodischer Rastplatz, nicht sehr groß und für Lkws ungeeignet, ohne Raststätte oder Tankstelle. Nur ein ziemlich schäbiges Nachkriegstoilettenhaus und daneben drei oder vier klobige Steintische mit Steinhockern für Reisende, denen es vor nichts graust, so ungemütlich sehen sie aus. Wenigstens sind alle zehn Meter Mülleimer aufgestellt.

Auch die Beleuchtung ist miserabel, aber für Simon genau richtig. Er hat sich einen Parkplatz ausgesucht, der abseits des Lichtkegels von einer der trüben Straßenlampen liegt, damit er besser schlafen kann.

Eine Familie mit zwei Kindern entert gerade neben ihm mit viel Gequengel ihren Van und fährt auf die Autobahn zurück, jetzt steht nur noch Simons Wagen da.

Er steigt aus und streckt sich.

Vor seiner Zwangspause will Paul noch die Toilette auf­suchen.

Anschließend wäscht er sich Hände und Gesicht. Im Spiegel fällt sein Blick auf seine blutunterlaufenen Augen. Es wird Zeit, dass er wieder mehr Schlaf bekommt …

Im selben Moment, als er die Fahrertür öffnet, erkennt er eine dunkle Gestalt auf dem Beifahrersitz. Gleichzeitig stößt ihn jemand grob auf den Fahrersitz.

Er ist vollkommen überrumpelt.

Bevor er reagieren kann, werden seine Handgelenke von eiser­nen Fäusten gepackt, einmal von links, einmal von rechts, und in Sekundenschnelle mit Kabelbindern ans Lenkrad gefesselt. So fest, dass er sie nicht mehr bewegen kann.

Er sieht ein, dass es wenig Sinn hat, wie wild herumzustrampeln, und lehnt sich in den Sitz zurück.

Rechts neben ihm sitzt Mirko Marek, in der offenen Tür lehnt der Hüne mit den gegelten Haaren.

Paul flucht innerlich, weil er nicht vorsichtig genug war und sein Auto nicht abgesperrt hat. Aber das hätte ihm auch nicht viel genutzt. Dann hätten sie ihm eben vor dem Toilettenhaus aufgelauert und wären über ihn hergefallen. Der Hüne schlägt die Fahrertür zu und steht rauchend vor dem Auto Schmiere.

Erst jetzt bemerkt Simon den Jeep Cherokee am anderen Ende des Parkplatzes. Er war ihm vorher nicht aufgefallen, als er aus dem Toilettenhaus gekommen war.

Das kommt davon, wenn man vor lauter Müdigkeit kaum noch die Augen offen halten kann, denkt Simon wütend über sich selbst. Und wenn man den Gegner unterschätzt.

An ihm dranzubleiben war keine große Kunst, das weiß er. Sie mussten ihn nicht einmal auf Sicht verfolgen. Ein kleiner Peilsender, an seinem Wagen angebracht, hat genügt.

Auch daran hätte er denken können. Aber er war noch so aufgewühlt von seinem Tête-à-Tête mit Regina Kerenski gewesen, dass er nur noch in sein Auto gestiegen und vom Vierkant­hof gefahren war.

Hauptsache weg.

Eine Stimme kommt vom Rücksitz.

»Wer nicht hören will, muss fühlen.«

Die Stimme klingt wie die von Dr. Sokratis, denkt Paul, als er auch schon einen schmerzhaften Stich im Hals spürt.

Eine Spritze.

Die Substanz wird injiziert, dann wird die Spritze wieder ­herausgezogen.

Mirko Marek starrt ihn unentwegt mit seinen halb geschlossenen Augenlidern schweigend an. Er scheint nur darauf zu warten, dass Paul das Bewusstsein verliert.

Obwohl er dagegen ankämpft, hat die Drogenmixtur in seinem Körper innerhalb einer halben Minute ihre durchschlagende Wirkung erzielt.

Paul Simon sinkt in sich zusammen und ist weg.