I got you in my camera/ I got you in my camera/
A second of your life, ruined for life/ You wanna ruin me in your magazine/ You wanna cover us in margarine/ Now is the time, you got the time/
To realize, to have real eyes.
John Lydon für die Sex Pistols: »I Wanna Be Me« (1976)
Punk war aus den Startlöchern gekommen und beschleunigte ebenso wie das erste Album der Ramones eine ganze Generation englischer Musiker. Der Konkurrenzdruck, Punkbands zu gründen, nahm zu. Im Frühjahr 1976 versuchten McLaren und Bernie Rhodes, aus dem Umfeld von London SS Musikgruppen zusammenzustellen. Wissend, dass die Sex Pistols beeindruckender wären, wenn sie als die Speerspitze einer neuen Generation erschienen, begann McLaren mit einer Strategie zur Bildung eines Umfelds, das dafür sorgen sollte, dass so etwas passierte.
»Die 101er waren gut dabei«, sagt Joe Strummer über seine erste Gruppe, benannt nach dem von ihnen besetzen Haus in Walterton Terrace 101. Aus dem Umfeld ihres Treffpunkts, dem örtlichen Pub, dem Chippenham und der Hausbesetzergemeinschaft heraus entstanden, hatten die 101er gerade ihre erste Single, einen schnellen, eindringlichen Pub Rocksong mit dem Titel »Keys To Your Heart« herausgebracht. »Wir arbeiteten sehr hart. Wir hatten zwölf Auftritte an vierzehn Tagen in Orten wie Sheffield, und es ging jeden Tag hoch und runter, aber wir waren präsent.« »Im April spielten die Sex Pistols zum ersten Mal im Nashville als unsere Vorgruppe. Ich ging auf die Bühne, während sie ihren Soundcheck machten, und ich hörte, wie Malcolm zu John sagte, ›Willst du Schuhe wie die von Steve oder Paul? Was für ein Pullover gefällt dir?‹, und ich dachte: ›Meine Fresse, sie haben einen Manager, und der bietet ihnen Klamotten an!‹ Die anderen in meiner Band hielten nicht viel von dem ganzen, aber ich saß im Publikum. Lydon war wirklich sehr dünn. Er zog seine Rotzfahne raus, schnäuzte sich, sagte: ›Falls ihr es nicht schon erraten habt, wir sind die Sex Pistols‹, und dann donnerten sie mit ›Substitute‹ los. Sie spielten ›Stepping Stone‹, was wir auch coverten, aber sie waren uns um Lichtjahre voraus. Der Unterschied war, dass wir ›Route 66‹ für die Säufer an der Bar spielten und darum bettelten, von ihnen gemocht zu werden. Aber dann kamen diese vier, die einfach da standen und Sachen sagten wie: ›Ist uns Scheißegal, was ihr denkt, ihr Arschlöcher, wir spielen, was wir wollen, und wir spielen es, wie wir wollen.‹ Sie kamen aus einem anderen Jahrhundert, es hat mich umgehauen. Es waren ihnen ganz im Ernst total Scheißegal. Das Publikum war schockiert. Danach hab ich angefangen, Dienstag abends in den 100 Club zu gehen. Dort kam Bernie Rhodes auf mich zu und meinte: ›Gib mir deine Nummer, ich muss dich mal wegen was sprechen.‹ Wir traten ein paar Mal als Vorgruppe auf für Kilburn And The High Roads, aber ich löste die Gruppe auf. Sie hielten mich für verrückt. Sie hatten wahrscheinlich recht, aber die Situation war danach, auf die andere Seite des Zauns zu springen, wenn man nicht auf der falschen bleiben wollte. Man muss sich nur mal an das T-Shirt erinnern, das Bernie und Malcolm entworfen hatten: ›Welche Seite vom Bett?‹ Es war so klar.«
»Strummer eilte im Red Cow auf mich zu«, sagte Roger Armstrong. »›Hab ich das Richtige getan?‹ fragte er mich. ›Was?‹ ›Ich hab die 101er verlassen.‹ Er kam im Schlepptau mit Mick Jones und Bernie, und der hielt einen Riesenvortrag darüber, dass das die Zukunft sei. Ich kannte Bernie aus dem berühmten King’s Road Triumvirat. Malcolm, Bernie und Andy Czezowski: der Schneider, der Rabbi und der Buchhalter. Es war schon eine komische Allianz. Sie hatten alle ihre eigene Band.«
»Ich sah Bernie und Malcolm als Konkurrenten«, sagt Chrissie Hynde, »obwohl sie hätten zusammenarbeiten können. Alles, was Bernie tat, schien eine fade Version dessen zu sein, was Malcolm mit den Sex Pistols machte. Als ich schließlich aus Frankreich zurückkehrte, wollte ich zum Beispiel etwas mit Mick Jones machen. Mick rief mich an und sagte: ›Ich will, dass du mit Bernie sprichst, er wird uns managen.‹ ›Ich bin mit dir in einer Band, ich will nicht mit diesem Typen sprechen.‹ ›In Ordnung, ich versuch’s zu erklären. Du wirst überhaupt nicht singen, du wirst nur Gitarre spielen und im Hintergrund bleiben. Die Band wird School Girls Underwear heißen.‹ Ich hatte ein Treffen mit Malcolm bei einem Teller Wan Tan Suppe. Die Sex Pistols liefen gut, und er wollte noch eine Band. Malcolm tat zu jenem Zeitpunkt nichts anderes, als sich auf Parties herumzutreiben und die Leute zusammenzubringen, die Persönlichkeiten waren. Typisch für Malcolm war, dass er sich keine Gedanken über die Musik machte, er interessierte sich nur für Persönlichkeiten.«
London SS hatte sich inzwischen zweimal gespalten. Der Gitarrist Bryan James hatte sich mit dem Schlagzeuger Chris Miller zusammengetan, der sich nach einem Krätzeanfall Rat Scabies (scabies = Krätze) nannte. Millers alter Freund aus Croydon, Ray Burns, kam an der Gitarre dazu. Er war ein Aussteiger aus der Arbeiterklasse, dessen manisches Verhalten echte Sensibilität verbarg. »Tony James war der Bassist«, sagt Burns, »sie drängten ihn aus der Band, weil er sich zu sehr für seine Klamotten interessierte, also bekam ich den Job. Dann schnitten sie mir die Haare. Es machte mir nichts aus: Ich war eine Art Hippie mit Biss. Das war London SS. Als Chrissie Hynde dazustieß, wurden wir zu Mike Hunt’s Honourable Discharge. Malcolm kam vorbei und schickte uns zwei Tage lang zum Proben, dann kam er mit Helen und Rotten und diesen ganzen Leuten. Sie sahen uns zu, lachten und sagten, dass wir uns verpissen sollten. Keine kommerziellen Möglichkeiten. Malcolm war o.k. Er gab uns Geld und redete vernünftig. Chrissie ging. Wir fingen an, unser eigenes Zeug zu spielen. Brian und Rat hatten Vanian im Nashville getroffen – sie fanden, er sah gut aus. Der Name The Damned war Brians Idee. Wir waren wirklich verdammt. Alles, was danebengehen konnte, ging daneben.«
In den ersten Wochen, in denen sie sich gründeten, bekamen The Damned von John Krivine und Andy Czezowski einen Raum zum Proben und wurden als Konkurrenten für die Sex Pistols gehandelt. In der Zwischenzeit arbeitete Bernard Rhodes an der anderen Hälfte von London SS. »Eines Morgens unterschrieb ich den Vertrag«, sagt Joe Strummer, »und da saßen diese Leute auf einer Bank und starrten mich an: Paul Simonon, Mick Jones und Viv Albertine. Ich dachte, gleich gibt’s ne Prügelei. Das war in den Wochen, in denen Bernie Rhodes Mick und Paul aus London SS abgezogen und zusammengesteckt hatte. Wenn die auf mich zugekommen wären, hätte ich wahrscheinlich ausgeholt. Zu der Zeit hatte sich Bernie schon mit Malcolm wegen des Hakenkreuzes überworfen, weil Bernies Mutter ein Flüchtling vom Festland war. Bernie rief mich an und ich willigte ein, ihn und Keith Levene zu treffen. Wir sind rüber nach Shepherd’s Bush zu dem besetzten Haus gefahren, in dem Paul, Mick und Viv wohnten – deshalb starrten sie mich auch so an –, und wir stellten die Gruppe an Ort und Stelle zusammen. Ungefähr eine Woche lang waren wir die Psychotic Negatives, dann waren wir die Weak Heartdrops, nach einem Songtext von Big Youth, dann fiel Paul der Name The Clash ein.«
Die Sex Pistols hatten sehr viel Publicity, aber sie wirkte sich auf zweierlei Weise aus. Nach den Berichten über Gewalt schlossen sich die Türen vor ihren Nasen. Sie hatten jetzt Hausverbot im Marquee und im Nashville, und das El Paradise hatte sich für einen permanenten Auftrittsort als zu unbeständig erwiesen. Als der Artikel im NME über die Schlägerei im Nashville erschien, spielte die Band in einem Club in der Finchley Road, dem Bablu: »Das war das beste Konzert, das wir je gaben«, sagt Glen Matlock. »Es waren ungefähr dreizehn Leute da, uns eingerechnet.«
McLaren und Helen Mininberg sammelten das Pressematerial der Gruppe, legten ein A3-Poster dazu und zwei gedruckte Fotos, hergestellt bei der Labour Party Press in Peckham Rye von McLarens altem Freund Jamie Reid, der wegen seiner Druck-Kenntnisse in die Familie geholt worden war. Mit diesem Päckchen sprach McLaren Booking-Agenturen an, aber ohne Erfolg. Dann entschied er sich, John Curd zu fragen, ein Bär von einem Mann, der Konzerte im Roundhouse promotete, ob die Sex Pistols nicht in das bevorstehende Ramones-Programm aufgenommen werden könnten. Malcolm und Nils gingen zu Curds Wohnung, wo sie im wahrsten Sinne des Wortes die Treppe hinuntergeworfen wurden.
»Das war der Vorfall, der McLaren dazu brachte, die Musikindustrie vollständig zu ignorieren«, sagt Jonh Ingham. »Er wollte eine eigene Alternative zu dem schaffen, was im Business zu dieser Zeit ablief. Einer seiner Grundsätze war: ›Man muss bezahlen, um die Band zu sehen, weil man dann ganz aktiv eine Anstrengung unternimmt.‹ Das war das Gegenteil dessen, was Pub Rocker praktizierten, die ihre Bands vor irgendeinem Publikum spielen ließen. Er wollte ein Publikum, das ausschließlich wegen der Band gekommen war.«
Im Laufe des Mai wurde die Gruppe vor eine neue Herausforderung gestellt: Eine Tour durch den Norden Englands. »Es war lächerlich«, sagt Nils Stevenson. »Malcolm gab uns gerade genug Geld, um hinzukommen, dann musste man sich selbst durchschlagen. Steve klaute Schokolade. Man musste aufpassen, dass man sein Geld bekam, weil die meisten Leute nicht mehr bezahlen wollten, nachdem sie die Gruppe gesehen hatten. Es war erschreckend, an diesen ganz normalen Orten zu spielen. Ich bin absolut nicht aggressiv, aber mein Adrenalinspiegel war so hoch, dass ich auf der Bühne hin und her ging und auf die Typen unten trat. In Barnsley spielten wir in diesem beschissenen Nest in der tiefsten Provinz, einfach nur ein Pub mitten im Nirgendwo. Es war voll, und die Sache wurde ein bisschen haarig, also brachte ich den Wirt dazu, die Polizei zu rufen, die uns nach draußen eskortierte. In Hull wurde es echt eklig, wir mussten ganz schnell verschwinden. Rotten wurde ziemlich unverschämt und machte die Zuschauer runter. Es war einfach so, dass der Look der Band und ihre mangelnde Professionalität die Leute in Rage brachte. Sie wollten eine Hippieband mit langen Haaren, und diese Jungs haben sie echt angepisst.«
»Es war schrecklich, ein Alptraum«, sagt John Lydon. »Keine Möglichkeit, sich zu entspannen, nichts. Nylon-Bettwäsche. Was du niemals in dein Buch reinkriegen wirst, ist die unglaubliche, totale Langeweile, die entsteht, wenn man in einer Band ist.«
»Es war wie bei kleinen Jungs«, sagt Glen Matlock. »Stell dir vor, mit Rotten in einem Bus zu sitzen. Und die Veranstaltungsorte! Wir spielten in Whitby, und sie sagten uns immer wieder, dass wir leiser drehen sollten. Zum Schluß haben wir nur noch Blödsinn gemacht und bloß so getan, als würden wir singen. Dieser Kerl kam trotzdem und sagte: ›Das geht nicht, Jungs. Wir bezahlen euch, was ausgemacht war, aber man kann im Nebenraum das Bingo nicht mehr hören.‹ Wir hatten ungefähr 15 Minuten gespielt.«
Überall in und außerhalb Londons lief es nach dem gleichen Schema ab: Ablehnung durch die meisten Leute und sofortige Identifikation seitens einer winzigen, aber bedeutsamen Minderheit. »In Newcastle konnte man alle sehen«, sagt Pauline Murray von Penetration, »T. Rex und Roxy Music, Mott the Hoople, Hawkwind, Cockney Rebel – und dann lange Zeit nichts mehr. Wir sahen uns die Doctors of Madness an, die eine echte plattenfirmamäßige Band waren. Dann sahen wir die Sex Pistols in Northallerton in einem winzigen Club. Kurze Zeit später spielten sie mit den Doctors of Madness in Middlesbrough und haben sie einfach weggefegt. Sie haben eine Menge Bands einfach weggefegt. Es klingt jetzt wie ein Klischee, aber ich hab gesehen, wie es passierte. Die Bands verloren ihr Selbstvertrauen, sobald die Sex Pistols kamen.«
»Mein Leben hat sich in dem Moment verändert, als ich die Sex Pistols sah«, sagt Howard Devoto. »Ich war sofort voll und ganz damit beschäftigt, etwas loszumachen. Plötzlich gab es da eine Richtung, etwas, bei dem ich leidenschaftlich gerne dabei sein wollte. Es war unglaublich berauschend. Ich sagte zu Malcolm: ›Wollt ihr in meinem College spielen?‹, und er meinte: ›Wenn du das organisieren kannst, machen wir das.‹ Ich versuchte die Studentengewerkschaft zu überreden, sie einzuladen, aber sie fuhren nicht drauf ab. Nicht wegen ihres Rufs, sondern weil sie noch nie von ihnen gehört hatten. Es gab immer noch sehr wenig Presse.«
Howard und Peter hatten bereits ihre eigene sex-pistols-mäßige Band gegründet und ihre Identitäten gewechselt, um den Pakt der Transformation zu besiegeln. McNeish nannte sich jetzt Shelley, den Namen, den Peter gehabt hätte, wäre er ein Mädchen geworden. Howard Trafford wurde Devoto. Der Name der Band, The Buzzcocks, kam aus einer Besprechung der Serie »Rock Follies« in der Februarausgabe von Time Out, die mit »get a buzz, cock« endete. Als nächstes organisierte man öffentliche Auftritte. Und im Vorprogramm der Sex Pistols zu spielen, war das einfachste: »Jemand hatte mir von diesem kleinen Saal über der Free Trade Hall erzählt«, sagt Devoto, »ich bekam ihn für den 4. Juni und inzwischen planten wir, selbst zu spielen.«
»Die anderen beiden sind abgesprungen«, sagt Shelley, »also holten wir diese Band, die Mandala Band, um mit den Pistols zu spielen. Wir organisierten alles, setzten eine Anzeige in den New Manchester Review und suchten nach einem Schlagzeuger und einem Bassisten. Am Freitag nachmittag kamen wir in der Lesser Free Trade Hall an. Als der Laden aufmachte, saß ich an der Kasse und nahm das Geld ein. Malcolm stand auf der Straße und sagte zu den Leuten, ›Kommt rein, da spielt eine großartige Band aus London, die wird bald berühmt sein. Kommt alle rein, kommt rein!‹«
Angekündigt durch ein vierseitiges, gefaltetes A4-Flugblatt war das Konzert in Manchester eine gute Gelegenheit für die Sex Pistols, um außerhalb Londons Fuß zu fassen, da Manchester die drittgrößte Stadt Englands ist und als das Tor zum Norden und Nordwesten gilt. Das Konzert war schlecht besucht, aber wieder einmal waren unter den ca. siebzig Gästen Künstler und Medienleute – Peter Hook und Bernard Sumner von Joy Division / New Order, Morrissey, Tony Wilson von Factory –, die das Fundament für die musikalische Vormachtstellung legen sollten.
»Dieser erste Auftritt war ziemlich schwierig«, sagt Morrissey. »Es gab keine Anhaltspunkte. Da wir Nordengländer waren, wussten wir nicht, wie wir reagieren sollten. Das spärliche Publikum war sehr steif und nicht bereit, sich auf die Sex Pistols einzulassen. Es war eine Wohnzimmerangelegenheit. Die Sex Pistols hatten immer noch weite Ärmel, und Schlaghosen waren zu dem Zeitpunkt auch noch nicht vollkommen tabu. Ihre Jeans lagen irgendwo zwischendrin. Ich mochte sie, aber sie schienen ein ausgefuchster Sänger und drei zusammengewürfelte Musiker zu sein.«
»Zu der Zeit wusste ich noch nicht, was ein gutes Publikum ist«, sagt John Lydon, »aber wenn sich das Publikum schlecht benimmt, neigt man dazu, bessere Arbeit zu leisten.« Angetrieben durch die Ablehnung begannen die Sex Pistols, Tempo aufzubauen. »Es gab plötzlich einen Punkt, an dem mir klar wurde, wie gut sie waren«, sagt Ray Stevenson. »Das war im 100 Club: Diese Telepathie und Spannung, als John das Publikum runtermachte, Steve und Paul machten irgendetwas, und dann stiegen sie im absolut richtigen Augenblick in die nächste Nummer ein. Ich betrachtete sie als Amateure, man muss sich nur mal diese Rabauken aus Finsbury Park ohne Schulausbildung vorstellen, es war phänomenal.«
»Sie hatten so viel Spaß«, sagt Caroline Coon. »Steve hat mir erzählt, dass er Gitarre spielen wollte wie Jimi Hendrix. Chris Spedding gab ihnen das Selbstvertrauen, das sie vorher nicht hatten: Nachdem er ihr erstes Demotape produziert hatte, sagte er, sie hätten die ausdrucksstärksten Gitarrenläufe, die er in zwei Jahrzehnten Arbeit im Rock’n’Roll gehört hätte. Steve war ein typisch unterprivilegiertes Kind, aber er war Musiker bei den Sex Pistols. Johnny war wie ein junger Rimbaud: Nachdenklich, wütend, schön. Ich glaube nicht, dass ihm jemals klar war, wie schön er war.«
Es gibt sowohl von dem Konzert in Manchester als auch von dem Auftritt im 100 Club am 29. des Monats Tonbandaufnahmen. Manchester ist einen Quantensprung vom Nashville im April entfernt, aber der Mitschnitt aus dem 100 Club ist noch etwas anderes. Hier erreichen sie einen Grad äußerster Anspannung. Sie stürzten sich in ihr Set und jagten durch fünfzehn Stücke (mehr als die Hälfte aller, die sie jemals in ihrem kurzen Leben spielen sollten.) Sie fingen mit einer Improvisation an: »Flowers of Romance«, lose basierend auf »Dynamite« von Mud, während Lydon singt und wettert. Einzelne Sätze springen aus der akustischen Straßenschlacht: »True love and peace«, »Jah Rastafari«.
Die Songs sind eine Aneinanderreihung musikalischer Manifeste. Jeder einzelne stellt eine Behauptung auf, die am Ende des Stücks nur teilweise eingelöst wird. Sie durchlaufen eine Strecke grober Akkorde von Glen, Geräusche einer Luftschlacht aus der Gitarre von Steve Jones und eine Rhythmussektion, die niemals locker lässt. Lydon wirkt magnetisierend. Er macht sich sowohl über McLaren – »immer wenn ich Geld von dir will, versteckst du dich« – als auch über seine Anhänger lustig. Direkt nach »Flowers of Romance« reißt Jones eine Seite, aber Lydon unterhält das Publikum mit einem ununterbrochenen Fluss an Schreien, Sarkasmus und Beschimpfungen, die er in einer erstaunlichen Bandbreite von Stimmen liefert.
In der intimen Umgebung des 100 Club konnte sich die Band genug entspannen, um mit ihrem Material und ihrem Auftreten zu experimentieren. Dort begannen sie, die Umgebung zu beherrschen, indem sie die Akustik eines kleinen Clubs nutzten, um mit Overload, Feedback und Verzerrung zu experimentieren. Elektrische Verstärker trugen einen Großteil dessen bei, was den frühen Rock’n’Roll so aufregend machte. Sie trieben ihr Equipment zum Äußersten – weiter noch als die frühen Who –, die Sex Pistols verzerrten ihr begrenztes Repertoire und machten daraus futuristischen Krach.
»Electricity come from other planets«, spöttelte Lou Reed in einem Song, der in diesem Sommer veröffentlicht wurde. Im Gegenzug benutzte das Publikum die Elektrizität, die beim Auftritt der Gruppe entstand, um ebenfalls einen neuen Stil zu entwickeln. Abgesehen von den gegelten, stachligen Elektroschock-Frisuren, imitierte man das »Rumrotzen« Lydons, der die Angewohnheit hatte, auf das Publikum zu spucken, und tanzte Pogo, der Sprung auf der Stelle, um bessere Sicht zu bekommen, was in überfüllten Clubs aus einer Notwendigkeit heraus entstand.
Aber gerade als die Sex Pistols Loyalität hervorriefen, legten sie es absichtlich auf Spaltung an. Es gab noch immer Väter, die getötet werden mussten, Leute die man abstoßen musste. Neue Songs wie »I Wanna Be Me« enthielten eine gehässige Attacke gegen einen »Schreibmaschinen-Gott«. Das klang verdächtig nach Nick Kent. Dem Text folgte bald ein körperlicher Angriff. »Es war eine Woche, nachdem ich die Rolling Stones in Paris gesehen hatte«, sagt Kent, »wo jemand hinter der Bühne eine Waffe gegen Mick Jagger gerichtet hatte. Es lag eine Menge Gewalt in der Luft. Ich ging zu Malcolm rüber, und zum ersten Mal war er ziemlich kühl. Ich dachte nur: ›Naja, er hat schlechte Laune‹, und verzog mich nach ganz hinten im 100 Club, wo ich auf den Auftritt der Gruppe wartete. Ich saß da, ziemlich weggetreten, weshalb meine Reaktionen auf das, was geschah, sehr langsam waren. Ich merkte, dass ein Typ jedesmal, wenn er vorbeilief, mir gegen das Schienbein trat. Beim ersten Mal schien es Ungeschick zu sein, das zweite Mal war es Absicht. Ich wusste, dass sein Name Sid war, weil sich am letzten Abend der Stones in Earl’s Court die ganze spätere Ordenshierarchie in ihren Sonntagsanzügen versammelt hatte und reinwollte, aber nicht durfte. Er trug ganz offensichtlich die alten Klamotten seines Vaters, er hatte diese Klobürstenhaare und sah wirklich finster aus. Es war ziemlich interessant, diesen Kerl mit der Richard-Hell-Frisur zu sehen. Bryan James und Chrissie zeigten mir Sid. Sie hatten ihn als Sänger ausprobiert. Er fing also an, mich zu belästigen, und dann verschwand er für eine Weile. Später bemerkte ich, dass er Lydon überallhin folgte. Wo Lydon hinging, ging er auch hin. Lydon war zu der Zeit der Don, er war der Leithammel. In der klassischen Star-Tradition ging er nicht mit den anderen dreien auf die Bühne, sondern wartete, bis sie anfingen. Ich erinnere mich, wie Malcolm, Lydon und Sid zusammenstanden und Lydon in meine Richtung zeigte. Ich erinnere mich an diesen wirklich bösartigen Blick bei allen dreien. Dann ging alles sehr schnell: Lydon ging auf die Bühne, und Sid stellte sich direkt vor mich hin. Ich tippte ihm auf die Schulter und sagte sehr höflich: ›Könntest du ein Stück zur Seite rücken?‹ Sid zog sofort seine Kette heraus. Er machte eine Bemerkung, die er für beleidigend hielt, sowas wie: ›Ich mag deine Hosen nicht.‹ Der Kerl daneben trat sofort dazu und zog ein Messer. Er versuchte tatsächlich, mir ins Gesicht zu schneiden. Jahre später fand ich heraus, dass er Wobble hieß, ein echter Speedfreak. An diesem Punkt wurde es sehr ungesund. Ich nahm die Hände hoch und rührte mich nicht. Dann tippte ihm Vicious auf die Schulter, und er verschwand augenblicklich. Es war alles geplant. Vicious hatte nun ein freistehendes Ziel und schlug mit der Fahrradkette zu.«
»Ich wurde bei ein paar Gelegenheiten gewalttätig«, sagt Wobble. »Das mit Nick Kent gehört nicht dazu. Kent war irgendein Typ, der verlangte, dass wir zur Seite gehen sollten, weil er die Band nicht sehen konnte. Ich sagte: ›Verpiß dich‹, was ziemlich normal ist. Sid war kein Schläger, aber er holte mit der Kette aus, und ich machte mit, aber wir haben bloß Quatsch gemacht. Was ich nicht wusste: Wenn man selbst den harten Mann markiert, wird jemand, der härter ist als du, kommen und nach dir suchen.«
Steve Jones und John Lydon im Lyceum, 10.Juli 1976 (© Kate Simon)
»Es war nicht schmerzhaft«, sagt Nick Kent, »aber es hat stark geblutet. Blut lief mir übers Gesicht auf die Brust. Ron Watts zog Sid von mir weg. Keiner der Typen dort, wie zum Beispiel Mick Jones, hat einen verdammten Finger gerührt. Ich wollte nur so schnell wie möglich raus – ich hatte jahrelang nichts mit Gewalt zu tun gehabt –, da kam Vivienne an und sagte: ›Oh Gott, der Typ ist ein Psychopath. Der kann sich nie wieder auf einem unserer Konzerte blicken lassen, das verspreche ich. Es ist nicht unsere Schuld, es tut uns so leid.‹ Ich sah Vivienne einen Monat später, als die Ramones spielten, und rat mal, mit wem sie da rumhing? Mit Sid! Tanzte sogar Pogo mit ihm. Sie kam zu mir und fing so an: ›Du kannst eben nicht mit Gewalt umgehen, du bist ein Schwächling.‹ Ich war total verdattert. Was sollte dieses Macho-Getue? Dann kam Lydon und sagte: ›Was erzählst du da für eine Scheiße über uns? Du willst, dass wir Auftrittsverbot bekommen, stimmt’s?‹ ›Die Leute, die dir das erzählt haben, haben dir nicht die Wahrheit erzählt‹, erwiderte ich, aber er dreht sich einfach um und sagt: ›Ich kenne die Wahrheit.‹ Ich fragte mich, was ich getan haben könnte? Es regnete Beschimpfungen. Es war wirklich wie dieses T-Shirt, wo von der einen Seite auf die andere gewechselt wird. Ich glaube, Malcolm hatte sich etwas für diesen Auftritt überlegt, damit es eine Schlägerei gab, weil das Publicity brachte. Jedenfalls hab’ ich die drei gesehen, wie sie es ausknobelten. Malcolm ist einer von diesen Leuten, die ihre Ideen auf Teufel komm raus durchziehen.«
Ein weiterer neuer Song war »New York«, eine Hasstirade gegen David JoHansen und Syl Sylvain. Lydons Text ist eine einzige Schmährede, aber sie stammt von McLaren. »Malcolm war von mir enttäuscht, als ich mit JoHansen nach Japan ging«, sagt Sylvain, »er schrieb mir einen wütenden Brief. Wenn der Song irgendetwas Schlechtes über New York sagt, dann hat das mindestens so viel mit Malcolm zu tun wie mit uns. Er war so verliebt, dass es ihn verbittert hat.«
Andererseits passte es allen, dass New York niedergemacht wurde. Im Wettrennen um die Patentrechte an Punk holte London schnell auf. Am 4. Juli gab es zum ersten Mal die Möglichkeit, »New York« live zu erleben, als die Ramones im Roundhouse spielten. »Sie hatten nie in größeren Veranstaltungsorten als in Clubs gespielt«, sagt Nick Kent, »und plötzlich standen sie auf einer viel größeren Bühne. Kulturschock. Sie schlossen sich an diesen riesigen PA-Turm an und begannen zu spielen – und die PA gab ihren Geist auf. Futsch. Es war der totale Reinfall. Dann kamen sie doch noch auf die Bühne und zogen das Konzert durch. Es war gut, aber es gab ziemlich viel Gewalt.«
Am gleichen Abend spielten die Sex Pistols im Black Swan in Sheffield mit den späteren Clash. »Es war ein Sonntag«, sagt Joe Strummer, »aber es kamen zweihundert Leute, und sie waren sehr empfänglich.« Zwei Tage später gaben The Damned im Vorprogramm der Sex Pistols im 100 Club ihr erstes Konzert. »Sie waren so bizarr«, sagt Jonh Ingham. »Sie haben nie geprobt. Sie spielten dieses Whitelight-Tempo, und nur durch Zufall fügte sich alles, zerfiel und fügte sich wieder in eins. Es war sehr merkwürdig, aber lustig.«
Am 9. Juli 1976 gaben die Sex Pistols ihr erstes Konzert auf einer großen Bühne bei einem All-Nighter im Lyceum. »Backstage waren sie versteinert vor Angst«, sagt Ingham. »Sie nahmen es sehr wichtig. Ich war nie auf die Idee gekommen, dass sie überhaupt Leute für sich gewinnen wollten. Das war der Abend, an dem John während des Singens Zigaretten auf seinem Handrücken ausdrückte. Mir hat das Angst eingejagt. Er war das manischste Wesen der Welt. Die Unberechenbarkeit war wie zu Iggys Zeiten. Er hatte bereits Brandmale an seinen Handgelenken. Das war eines dieser Spiele, die er mit Sid in Hampstead spielte. Im Lyceum machten sie musikalisch einen riesigen Schritt nach vorne. Glen war phänomenal, und Paul kriegte den Rhythmus hin. Es geschah an einem einzigen Abend. Sie waren einfach alle voll da. Plötzlich wusste man, dass das eine großartige Band war. Inzwischen meinten es alle wirklich ernst, es war klar, dass es darum ging, den Durchbruch zu schaffen und eine neue Musik-Generation entstehen zu lassen.«
Von links nach rechts: Nils Stevenson, Helen Wallington-Loyd, Paul Cook, Steve Jones, Debbi Wilson, Steve Severin, Siouxsie, John Lydon, Glen Matlock, Herbst 1976 (©Richard Young)