Everyone is a prostitute/ Singing a song in prison/ Moral standards the wallpaper/ The wall’s a bad religion// Media TV what’s to speak/ Take my decisions/ How to find your inner self time/ On the television// No one knows what they’re for/ No one even cares/ We shout publicity hand-outs/ Nobody’s scared// The language we use is what we want/ Does it help project the false/ Subject-to-object journeys mean/ That a word loses course// We’re talking in clichés/ Betray yourself for money/ having is more than being now/ Nobody’s sorry
Subway Sect, »Nobody’s Scared« (September 1976)
25.12.76: Eine Party in Jonh Inghams viktorianischem Haus in Cambridge Gardens. In der Küche unten sitzen Mitglieder der Damned, der Clash und der Sex Pistols um einen großen Tisch herum. Die Versammlung wird von Roadent dominiert, dessen wütende Verachtung ihn zur lebendigen Verkörperung alles Anstößigen macht. Nach ungefähr der Hälfte des Abends treffen die Heartbreakers ein und setzen sich in eine Ecke in der Nähe des Telefons, wo Johnny Thunders stundenlange Gespräche in die Vereinigten Staaten führt.
Es bilden sich mehrere kleine Gruppen, die sich gegenseitig mit kaum verborgener Feindseligkeit anstarren. In der einen Ecke die Heartbreakers. In einer anderen die Clash, in einer weiteren ein paar Pistols. Die Sofas in Inghams Wohnzimmer sind wie Gefechtslinien angeordnet. Steve Walsh und ich finden einen Platz im Niemandsland in der Nähe der Bücherregale und versuchen, irgendeine Unterhaltung über Kunst hinzubekommen. Der Abend schleppt sich hin.
Ungefähr 23 Uhr: Das Zischen und Starren wird unterbrochen. Ein Franzose platzt ins Zimmer, schreit herum, weil sein Pelzmantel gestohlen wurde (er wurde tatsächlich gestohlen – von Steve Jones) und wirft ein Messer in die Tür. Die Harte-Männer-Posen der Musiker verschwinden, bis er nach draußen verfrachtet wird. Hinterher ist die Atmosphäre etwas freundlicher, sie hätte auch kaum feindseliger sein können.
Der Grundy-Skandal fügte der Karriereentwicklung der Sex Pistols mehr als nur Schaden zu: Er zerbrach die fragile Einheit der Punks, die es ein paar Monate zuvor noch gegeben hatte. Ehrgeiz trat an die Stelle von Freundschaft, und Dummheit dominierte, als die Bands Schlange standen, um die einfachen und brutalen Posen einzunehmen, die Reporter von ihnen verlangten. Nach den Boulevardschlagzeilen musste die neue Bewegung erklärt werden, aber die Erklärungen waren von den nachrichtentauglichen Skandalen gefärbt.
Bevor Postmoderne, Style Culture und Pop Einzug in der Fleet Street hielten, gab es niemanden, der Punk von innen heraus definierte. Die Berichte entsprachen den alptraumhaften Bildern, die Punk heraufbeschwor. »Punkrock-Texte sind dazu da, dem Bourgeois Angst und Schrecken einzujagen«, war im Observer zu lesen, während McLaren mit einer extravaganten Äußerung zitiert wurde: »Hier ist Englands nächste Generation, und wir werden stolz auf sie sein. Es herrscht Klassenkampf, und sie will die Gesellschaft zerstören.«
In den Jahren 1975 und 1976 hatte sich eine amorphe Szene aus Stylisten im Teenageralter, sozial Ausgestoßenen aller Altersgruppen, Geschlechter und sexueller Präferenzen um die Sex Pistols, SEX und um die anderen Bands und Läden in der King’s Road gebildet. Es war ein Milieu von hoher Komplexität, das innerhalb der zwanzig Sekunden, die Grundys Interview dauerte, auf weißen, männlichen Rock reduziert wurde, eine Bewegung mit großer Energie, Widerständigkeit und verstörenden politischen Ansichten, aber nichtsdestotrotz Rock.
»Viele Leute, die in der Szene unterwegs waren, verschwanden nach dem Grundy-Interview«, sagt Jonh Ingham. »Es wurde sehr schnell blöde, und niemand mit Klasse wollte mehr damit in Verbindung gebracht werden. Sie standen auf Klamotten und Elitäres, und sobald es Rock’n’Roll wurde, wollten sie nichts mehr davon wissen.«
»Mit Bill Grundy war für mich Schluß«, sagt Marco Pirroni. »Plötzlich gab es diese Trottel mit Hundehalsbändern, und auf ihren Hemden stand ›Punk‹ mit Kugelschreiber geschrieben. Vorher war es wie die Warhol-Szene, Filmemacher und Dichter und Künstler und Gott weiß was. Und danach gab es Sham 69, Jimmy Pursey sprang herum wie ein Idiot, und seine Band hatte lange Haare, Schlaghosen und Hawaii-Hemden.«
Diese Geschichte hat jedoch noch eine andere Seite. Alle Popbewegungen begannen als Eliten – und keine bis zu diesem Zeitpunkt war sich ihrer selbst so bewusst wie Punk –, aber es folgt immer ein Punkt, an dem die Elite die Kontrolle verliert. Dieser Punkt ist erreicht, wenn der Massenmarkt und die Massenmedien das Ruder übernehmen, ein notwendiger Prozess, wenn aus der Bewegung Pop werden soll. Im Zuge dieser Verwandlung wird ein komplexes Phänomen simplifiziert, aber sie sorgt auch für einen frischen Energieschub mit unvorhersehbaren, befreienden Ergebnissen.
Punk ist ein lebendiges Beispiel für den subkulturellen Prozess: Die Enteigneten erhielten Zugang zur Kultur, mussten aber den Preis dafür bezahlen. Popmusik ist der Schauplatz dieses Verkaufsdeals, und die Plattenfirmen sind die Auktionäre. Dabei ist die Definition der Musik wichtig, nicht nur um Punk festzulegen, sondern auch damit der Kommerz seine Schleusentore öffnet. Wie das Handelsblatt Music Week feststellte: Punk »könnte das nächste große Ding werden, auf das alle so lange gewartet haben.« In den folgenden Monaten wurde jede männliche Rockgruppe mit der erforderlichen Einstellung von den großen Plattenfirma mit Interesse gehört.
Die eigentliche musikalische Wirkung sollte sich erst ein paar Monate später zeigen. Es braucht Zeit, um einen stimmigen Sound live und erst recht im Aufnahmestudio zu entwickeln. Den unmittelbarsten Einfluss hatte Punk auf die Medien. Mark P. war einer der ersten, die die »Do It Yourself«-Ethik ausformulierten. In Sniffin‘ Glue Nummer 5 warf er den Fehdehandschuh: »Ihr Kids da draußen, die ihr SG lest, seid nicht zufrieden mit dem, was wir schreiben. Geht und macht eurer eigenes Fanzine.«
30.11.76: In der Mittagspause sitze ich auf dem Klo und bearbeite fieberhaft Papierschnipsel mit Prittstift – ich muss es jetzt machen, jetzt. »Es« ist ein Fanzine. Ich muss den Explosionen in meinem Kopf eine Stimme verleihen. Ausschnitte aus dem NME, 60er Jahre Pop-Jahrbüchern, Wilhelm Reich und ›Prostitution‹-Handzettel werden um einen langen improvisierten Artikel über Gewalt, Faschismus, Thatcher und die bevorstehende Apokalypse herum zusammengeklebt.
»In Kriegszeiten ist nur die geheime Presse frei«, schreibt Greil Marcus in einer Umformulierung von A.J. Liebling. Ende 1976 hatte Punk keinen Zugang zu den Mainstream-Medien. Fanzines nutzten die Freiheit, die sie durch diesen Ausschluss gewannen: Die Leute, die sie herstellten, konnten sagen, was immer ihnen durch den Kopf ging, ohne sich über Zensur, redaktionelle Vorgaben und Deadlines Sorgen machen zu müssen, abgesehen von dem Druck, der dadurch entstand, dass man das eigene Produkt in eine Arena einbrachte, die sich immer jeder Festlegung entzog. Das Ergebnis war eine neue Sprache.
Die interessantesten Fanzines waren verbale und visuelle Angriffe auf alles, was ihren Machern gerade einfiel. Hier stand sogar die Autorenschaft zur Disposition, da Fanzines in der Regel anonym oder unter Pseudonym von Leuten produziert wurden, die nicht vom Arbeitsamt oder von Arbeitgebern entdeckt werden wollten. Darin standen sie der untergegangenen englischen Tradition der Flugschriften näher, als man zugeben wollte.
8.12.76: Raus, um The Damned im Hope & Anchor zu sehen, unter dem Arm einige Ausgaben von London’s Outrage, brandheiß aus dem Kopierer – eine zeitaufwendige und geheime Prozedur. Die Band ist großartig, energiegeladener Quatsch mit einer Menge Humor.
Spreche mit dem netten Mann vom T.L.S. (Times Literary Supplement) – identifzierbar an seiner Kamera –, der enttäuscht ist, als er herausfindet, dass ich nicht aus der Arbeiterklasse stamme. Ich bin verwirrt, bis mir klar wird, dass er seinen Text schon in der Tasche hat.
Oben gelingt es mir, ein paar Ausgaben zu verkaufen. Es sind noch zwei andere Fanzine-Autoren mit ihren Erzeugnissen da: Adrian mit 48 Thrills und Shane mit einer Ausgabe von Bondage, auf zerfleddertem A4 Papier. Es sieht lustig aus, und da ich Zugang zu einem kostenlosen Fotokopierer habe, erkläre ich mich bereit, es zu kopieren. Die nächsten Mittagspausen verbringe ich damit, den Anwälten und einer Verletzung durch die rostigen Rasierklingen, die Shanes Meisterwerk schmücken, aus dem Weg zu gehen.
»Das ist ein Akkord«, schrieben die Macher von Sideburns, einem Stranglers-Fanzine, und bildeten im Dezember 1976 einen A, einen E und einen G-Akkord ab: »Jetzt gründet eine Band.« Brillant! Außerdem gab es More-On mit Pop-Art Bildern von Crystal Clear und Sarah Shoshubi, London’s Outrage, 48 Thrills, These Things von Arcane Vendetta, London’s Burning, das Cut-Up-Magazin von Jonh Ingham über die Clash, inspiriert von Photomontage von Dawn Ades und Ripped and Torn aus Glasgow von Tony D.
In den Fanzines verbanden sich Begeisterung und Überzeugung mit einer politischen Kritik, die heute naiv erscheint, damals aber sehr wirkungsvoll war. »Es gibt keinen öffentlichen Anstand«, schrieb Shane MacGowan in Bondage, »die Leute wissen nur, was anständig ist, wenn sie es von ITV und dem Rest der Medien und EMI erzählt bekommen.« Die gleiche Politik tauchte auch in der Musikpresse auf, als jüngere Autoren eingestellt wurden und begannen in einer Prosa zu schreiben, die so extrem war wie die Musik.
Melody Maker und Record Mirror hatten ihre eigenen Punk-Korrespondenten: Caroline Coon und Barry Cain. Sounds stellte den leidenschaftlichen Punk Jane Suck fest ein. Der NME musste die größte Korrektur vornehmen. Trotz Mick Farrens brillanter Analyse der Dekadenz in der Popkultur in der Juni-Ausgabe, die nach Bob Dylans apokalyptischer »Desolation Row« mit »Der Untergang der Titanic« überschrieben war, konnte keiner der NME-Autoren über Punk von innen berichten. Figuren wie Farren – ein »White Panther« der frühen siebziger Jahre – und Nick Kent waren genau die Vaterfiguren, die Punk töten wollte.
Im August erkannte der Herausgeber des NME Nick Logan das Problem. Er plazierte eine Anzeige, in der »zwei hippe junge Revolverhelden« gesucht wurden. Die beiden Ausgewählten passten perfekt in das Medienimage von Punk: Tony Parsons war einunzwanzig, kam aus dem East End und hatte bereits The Kids geschrieben, einen ambitionierten Roman im Stil von Richard Allen. Julie Burchill war mit siebzehn sogar noch jünger, weiblich und stammte aus der Arbeiterklasse – sehr ungewöhnlich für die Musikpresse. Sie kamen im Oktober zur Zeitung: Ihr Aufgabenbereich war Punk und das wachsende Medienressort des NME.
Kaum jemand war in der Lage, das im neuen Jahr bereits in vollem Ausmaß zu begreifen: Die Mischung aus Elitarismus und Zugänglichkeit, aus Ästhetik und sozialem Realismus, die Punk so stark gemacht hatte, war kurz davor, unter der Last von Geld, Ruhm und Hype zu zerbrechen. Keine Gruppe verkörperte diese Widersprüche besser als die Sex Pistols. Sie sollten »echt« sein, die unverfälschte Stimme der Arbeiterklasse, aber sie wurden so heftig vermarktet wie die Band Slik. Die Band wurde aus dem Sortiment des neuen Ladens in Nummer 430 eingekleidet, das nun sehr viel mehr den Ideen von Vivienne Westwood entsprach. Jetzt, da sich der Laden rentierte, konnten die Profite wieder in eine Veränderung investiert werden, welche die Kundschaft befremden sollte. »Vivienne wollte in die Haute Couture«, sagt Jordan, »sie machte richtige Outfits, die zusammenpassten. Sie wollte ein umfassendes Image für den Laden kreieren.«
»Die Innenausstattung von Seditionaries war Hightech, nur unverfälschter, spartanischer«, sagt McLaren. »Die Wandverkleidungen wurden beibehalten, aber sie wurden poliert und in die Mitte gestellt. An den Wänden hingen diese riesigen Fotografien vom zerbombten Dresden. Dann dachte ich mir was Witziges aus: ein Bild vom Piccadilly Circus. Wir hingen es verkehrt herum auf. Um diesen Bombenlook hinzubekommen, schlugen wir einfach ein Loch in die Decke.«
»David Connor baute einen wunderschönen kleinen Tisch mit einer lebendigen Ratte in einem Käfig. Vorne hatten wir Milchglas, damit Licht hereinkam. Es war ein frostiges weißes Licht, so dass man nicht reinsehen konnte. Auf das Glas schraubten wir eine Messingtafel mit der Aufschrift Seditionaries. Wir hatten einen grauen Industrieteppich. Es gab schäbige futuristische Sechziger-Jahre-Stühle in fluoreszierendem Orange. Auf dem Label stand mit schwarzer Schrift auf weißem Hintergrund das Anarchie-Symbol und ›For soldiers prostitutes dykes and punks‹. Die Bondage-Hosen, die in der Endphase von SEX entworfen worden waren, gingen zusammen mit Viviennes Spiderman-Jacke echt ab. Sie übertrug die Riemen und Reißverschlüsse, die auf der Hose waren, auf die Jacke. Vivienne hatte die wunderbare Idee, ein T-Shirt aus Musselin zu machen. Ich entwarf ein ›Destroy‹-Bild: das Hakenkreuz auf den Kopf gestellt mit dem zerbrochenen Kopf der Königin und – ganz groß – dem Wort ›Destroy‹.«
Seditionaries eröffnete kurz vor Neujahr. Durch die Ideen von Ben Kelly, der später den Hacienda Club in Manchester entwarf, wirkte das Interieur futuristisch, eine geschlossene Umgebung, in der alle Obses-sionen von McLaren und Westwood aufeinandertrafen: Sex, Adel, die Greueltaten Englands. »Die Leute hatten schreckliche Angst, in den Laden zu gehen«, sagt McLaren. »Man konnte von außen nicht reinsehen, also war man, sobald man einmal drin war, total nervös. Man fühlte sich beobachtet.«
Die Band trug natürlich die Entwürfe, aber es gab Anzeichen für einen Bruch im Image der Sex Pistols, besonders jetzt, da man von ihnen erwartete, dass sie einige der Klamotten bezahlten. Glen blieb seinen Wurzeln als Mod treu, während Steve und Paul den schlichteren Rock’n’Roll-Look der Ramones bevorzugten. Es blieb John Lydon überlassen, die Gallionsfigur für einen neuen, exklusiven Look zu sein und gleichzeitig das arbeitslose »Everykid« aus Englands Alptraum zu spielen.
Der Laden in Nummer 430 wurde autonom. Obwohl McLaren wieder zu Vivienne gezogen war, hatte er nun 24 Stunden am Tag mit den Sex Pistols zu tun. In der Zwischenzeit hatte Westwood beinahe die vollkommene Kontrolle über den Laden errungen und meistens das letzte Wort bei den Entwürfen. Als 1977 die Kleidung aus Seditionaries in den Hochglanzmagazinen auf endlosen Fotostrecken ohne jeden Verweis auf die Sex Pistols abgebildet wurde, wuchs ihr Ruf.
Der Feuersturm, mit dem die Bombardierung Dresdens 1945 endete, ist ein hochsensibles Thema, betrachtet man das Verhalten der Engländer im Zweiten Weltkrieg genauer. Fotos davon für die Inneneinrichtung des Ladens zu verwenden, deutete auf McLarens gesteigerten Ehrgeiz hin, sich mit dem Establishment anzulegen. Die Sex Pistols waren mindestens so sehr Teil dieses ehrgeizigen Plans wie Seditionaries, aber sie sollten scheitern: Menschen sind nicht so gefügig wie Inneneinrichtungen, und die Gruppe war nicht in der Lage, auf die sich blitzschnell verändernden Umstände zu reagieren.
Die Sex Pistols machten innerhalb eines halben Tages eine Verwandlung von Kultfiguren zu nationalen Sündenböcken durch. Im gleißenden Scheinwerferlicht trat ein weiterer Widerspruch zutage:
»Was bei den Pistols schief ging«, sagt Nils, »war, dass sie zu gut waren, um ihren Zweck zu erfüllen. Johns Texte waren unglaublich. Die Band prägte den Stil der Zeit, weil sie so gut war: Statt zu entmystifizieren und zu zeigen, dass es jeder machen kann, bewiesen sie genau das Gegenteil.«
Lydon war der Faktor X, den McLaren nicht kontrollieren konnte, und das ließ die Beziehungen immer angespannter werden. Innerhalb der Band war Lydon stets isoliert, aber nun wurde er durch die auf ihn konzentrierte öffentliche Aufmerksamkeit, die sein Ego wachsen ließ, noch isolierter. Es stand jetzt mehr auf dem Spiel: Der Kampf um die Kontrolle hatte begonnen.
EMI hatte sich immer noch nicht offiziell geäußert. McLaren stand während der Ferien in ständigem Kontakt zu Mobbs, der für die Gruppe war, aber die Entscheidung lag bei Leslie Hill. Mit verzweifelter Gewissenhaftigkeit holte Hill in allen Abteilungen von EMI Meinungen ein und widersetzte sich dem Druck von Leonard Wood und Sir John Read – dennoch gewannen diese die Oberhand. Eine Diskussion am Weihnachtsabend machte den Vertrag zunichte. Die Schwierigkeit bestand darin, den Leichnam zu verkleiden. Obwohl es ihm gegen den Strich ging, dem Drängeln der Presse nachzugeben, blieb Hill keine Wahl. Von seinen Vorgesetzten kamen Bedenken, dass die internationale Berichterstattung über die Sex Pistols die Geschäfte anderer EMI-Zweige in Mitleidenschaft ziehen könnte. Sir John Read erklärte Hill, dass das Erscheinen der Sex Pistols auf der ersten Seite der Los Angeles Times die Verkaufzahlen des »EMI-Scan«, in dessen Entwicklung das Unternehmen Millionen von Pfund investiert hatte, gefährden könnte. Es häuften sich die Beschwerden von Packern, anderen Managern und Künstlern, die alle auf Folgendes hinausliefen: Die Probleme, die die Sex Pistols verursachten, wogen schwerer als das Prestige, dass sie der Plattenabteilung brachten. Ihren Vertrag aufzulösen, könnte zwar dem Ruf von EMI auf dem Popmarkt schaden, aber die Pistols waren ein zu heißes Eisen, als dass EMI mit ihnen fertig werden könnte.
Direkt nach Weihnachten ließ sich eine große Geschäftigkeit beobachten. Hilfe kam aus einer unerwarteten Ecke: von dem in der Musikindustrie tätigen Geschäftsmann Miles Copeland (ein Sohn des früheren CIA-Vorsitzenden, Miles Copeland Sr.). Copelands Plattenfirma BTM war 1976 eingegangen. Als leidenschaftlicher Anhänger der freien Marktwirtschaft ließen Copeland die moralischen Attacken der Presse gegen die Sex Pistols unbeeindruckt. Sie schienen ihm die perfekte Gelegenheit, um wieder einzusteigen.
Dem Vertrag entsprechend veröffentlichte EMI in Holland jetzt »Anarchy in the UK«, wobei geplant war, die Single in einer holländischen Fernsehshow, dem Rock Circus, von der Band vorstellen zu lassen. Copeland schlug drei Live-Konzerte vor, zwei im Paradiso, dem berühmten Amsterdamer Drogenclub, und ein weiteres in Rotterdam. In der Gewissheit, dass ihre Tage bei EMI gezählt waren, bereiteten sich McLaren und die Band darauf vor, nach Holland zu fahren. Am 12. Januar war ein letztes Treffen anberaumt. McLaren sandte weiter glühende Kommuniqués an die Musikpresse, die über jedes Detail berichtete. Das einzige offizielle Statement von EMI bestand in einer Rede Sir John Reads vor den Teilhabern im Dezember.
Am 4. Januar entschied EMI das Spiel für sich, als die sichtlich verkaterte Gruppe auf dem Weg nach Holland auf dem Flughafen in Heathrow eintraf. Es war ein früher Flug und der Anblick der im Gesicht grünen Sex Pistols reichte aus. Bereits nachmittags brachte die Evening News eine weitere Story auf Seite eins. Unter der Überschrift »Widerlich!« berichtete sie von der umstrittenen Punkrock Gruppe, die »sich kotzend und spuckend ihren Weg zum Flug nach Amsterdam bahnte.«
Es reichte, den Artikel kurz zu überfliegen, um festzustellen, dass es sich offenbar um ein sehr fadenscheiniges Stück Journalismus handelte. Das Mädchen vom Check-in-Schalter, von der das wichtigste Zitat der Story stammte, »wollte ihren Namen nicht nennen.« Einem internen EMI-Memo von Hill zufolge war an der Geschichte wenig dran. Hill ging die Story zweimal mit Graham Fletcher durch, einem Vertreter von EMI, der die Sex Pistols nach Amsterdam begleitet hatte: Fletcher sagte, dass die Sex Pistols an diesem Tag nicht auf Leute gekotzt oder gespuckt hätten. Sie hatten nicht einmal den Check-in-Schalter benutzt, da sie spät dran waren. Aber das reichte nicht. Niemand liest Gegendarstellungen, nur die Schlagzeilen und die ersten Absätze einer Story werden wahrgenommen. Am gleichen Tag schickte Robert Adley, Abgeordneter für Christchurch und Lymington, einen Brief an Sir John Read, in dem er sich beschwerte, dass EMI einen »Haufen schlecht erzogenener Rüpel, die offenbar – wo auch immer sie hinkommen – Anstoß erregen, finanziere. Sicherlich kann eine Unternehmensgruppe Ihrer Größe und mit Ihrer Reputation auf das zweifelhafte Privileg verzichten, Abschaum wie die Sex Pistols zu sponsern.« Das brachte das Fass zum Überlaufen. Während die Sex Pistols am 5. Januar ziemlich verwirrt im Paradiso spielten, liefen die Telefone zwischen EMI und McLaren heiß. Am folgenden Tag verkündete EMI in einer Pressemitteilung, dass sich die Parteien »in gegenseitigem Einvernehmen darauf geeinigt haben, den Plattenvertrag zu kündigen.« Nähere Bedingungen wurden nicht mitgeteilt. Am nächsten Tag setzte sich Hill in ein Flugzeug nach Amsterdam, um die letzten Einzelheiten mit McLaren zu klären, denn laut Vertragsbedingungen war EMI rechtlich noch immer an die Gruppe gebunden. McLaren hatte dies kommen sehen, und er hatte nichts zu verlieren. In Interviews mit der Presse, die weiterhin jeden seiner Schritte verfolgte, setzte er alles auf eine Karte. Während die meisten Zeitungen kleine Berichte brachten und das zufriedenstellende – wenn auch etwas späte – »Resultat« des Skandals bekannt gaben, sandte der NME Reporter nach Holland. Als die Sex Pistols ihr letztes Konzert mit Glen Matlock im Paradiso gaben, leugnete McLaren die Kündigung des Vertrags.
»Das ist sehr nett«, sagt er. »Jemand hat hinter unserem Rücken beschlossen, den Vertrag in gegenseitigem Einvernehmen zu kündigen.« Vorgeblich ging es um die Bedingungen der Trennung, tatsächlich aber hyperventilierte McLaren mit dem Sauerstoff, den ihm die Publicity verschaffte. Trotz des gewissenhaften Verhaltens von Leslie Hill und seiner anhaltenden Unterstützung der Gruppe, stimmte McLaren gegenüber EMI der Kündigung des Vertrags zu, während er der Presse eine andere Version präsentierte.
McLaren versuchte, noch skandalösere Schlagzeilen bei der Rückkehr der Band am 8. Januar zu provozieren. »Alles, was Malcolm plante, ging in die Hose«, sagt Simon Barker, »und alles, was er nicht plante, wurde eine Schlagzeile. Er konnte nicht geplant haben, dass Steve verkatert sein würde, aber als sie zurückkehrten, sorgte er dafür, dass viele von uns sie vom Flughafen abholten. Ich, Viv, Steve, Simon und Siouxsie waren da, jedoch nur drei Leute von der Presse.«
Die Presse hatte gewonnen. Aber nachdem sie ihren eigenen Anteil an den Skandalen genauer betrachtet hatte, wurde sie vorsichtiger im Umgang mit der Gruppe. Alles was zu sehr nach Manipulation roch, fiel unter den Tisch. Ein echter Skandal jedoch war eine feine Sache, und in der nächsten Woche bekamen sie einen, als Lydon in Soho wegen Besitzes von Amphetaminen verhaftet wurde. Die folgenden Schlagzeilen bestärkten EMI darin, das ganze Durcheinander so schnell wie möglich zu beenden.
Während die Sex Pistols ins Studio gingen – das jetzt zunehmend zum sicheren Hafen wurde –, um mit Dave Goodman ein paar Demo-Tapes aufzunehmen, wurde der Trennungsdeal mit EMI besiegelt. Die Sex Pistols bekamen alles: Den Restbetrag des Garantiehonorars von 20.000 Pfund und den Großteil des 10.000 Pfund-Vorschusses von EMI Publishing, das sich gezwungen sah, der Muttergesellschaft zu folgen und den Vertrag ebenfalls aufzulösen. Gentlemanlike bis zum Schluß wünschte EMI »den Sex Pistols Erfolg bei ihrem nächsten Plattenvertrag«.
Nach dem Weggang der Sex Pistols verlor das Unternehmen für die folgenden zwei Jahre das Selbstvertrauen: »Wenn EMI am Ball geblieben wäre«, sagte Mobbs dem New Statesman später, »hätte sich EMI wieder international als erfolgreiches und progressives Unternehmen etablieren können, als Vorreiter in der Punk- und New Wave-Explosion. Stattdessen hatten sie überhaupt keinen Anteil daran.« Im zweiten Halbjahr 1978 verlor die General Record Division von EMI 14,6 Millionen Pfund.
Die künftigen Plattenaufnahmen der Sex Pistols hingegen waren gesichert. McLaren sprach bereits mit anderen Plattenfirmen, darunter Polydor und A&M. »Wenn man nach der Publicity keine Platten verkauft, dann verkauft man nie welche« war die Haltung der Musikindustrie, und es bestand kein Zweifel daran, dass die Sex Pistols bald wieder einen Plattenvertrag bekommen würden. Aber keine andere Firma war wie EMI, befand sich so nah am Zentrum des britischen Establishments und übte eine solche Faszination auf McLaren aus.
Die Sex Pistols rannten mit dem Kopf gegen die Wand des Unternehmens und landeten schließlich obenauf. Emotional und kreativ jedoch stagnierten sie: Von den sechs Songs, die in den Gooseberry Studios aufgenommen wurden, war der einzig neue ein übelgelauntes Gewüte gegen EMI. Lydon macht sich kaum die Mühe zu singen, trägt lediglich juristische Punkte vor, wobei in seiner Wut besondere moralische Autorität steckt. Hatten sie die Musikindustrie nicht schon in »Seventeen« gewarnt?
Obwohl die Sex Pistols ihr Geld bekommen hatten, war McLaren völlig überdreht. »Ich bin auf dem Weg zu Sir John Read und werde ihm ins Gesicht kotzen«, sagte er dem National Rockstar. »Ich will Genugtuung. Steckt ihn einfach mit mir und der Band in einen Raum und lasst uns allein.« Der Grundy-Skandal schuf die Sex Pistols, aber er brachte sie auch um. Sie traten auf der Stelle, waren Anführer einer Bewegung, deren Kontrolle ihnen entrissen worden war. Punk stand ebenfalls still: »Wenn man Punk nur erlaubt hätte, seinen eigenen glücklichen Weg zu gehen«, sagt Jonh Ingham, »dann wäre er 1977 langsam gewachsen, es hätte einen Schneeballeffekt gegeben, und er wäre am Ende intelligenter gewesen.«
»Die Überbleibsel eines Gefühls der Machtlosigkeit, die alle nach dem Ende der Hippiebewegung verspürten, waren diesen Kids eingeimpft«, sagt Caroline Coon. »Die Politik, mit der sie gefüttert wurden, war altmodische Anarchie. Das bedeutete die Auflösung der Punkbewegung, sie wählten eine Philosophie, die sie auslöschte. Damals aber rannte ich zu Release und sagte: ›Seht mal im Waffengesetz nach. Ich glaube, die Regierung wird die Tatsache, dass Punks Rasierklingen tragen, benutzen, um die Bewegung zu verbieten.‹ Aber schnell wurde klar, dass sie überhaupt kein Problem für die Regierung darstellten.«
Joe Strummer im Roxy, 1. Januar 1977 (© Ray Stevenson)