Nach dem schnellen Rauswurf der Sex Pistols bei A&M organisierte Glitterbest ein Konzert für Tony Potter von den NBC News, der einen Dokumentarfilm über die Gruppe drehte. Wenige Leute waren sich damals bewusst, wie feindselig man den Sex Pistols gegenüber eingestellt war. McLaren suchte einen Veranstaltungsort, aber ohne die Unterstützung einer Plattenfirma stieß er auf eine Mauer der Ablehnung. Verzweifelt rief er die römisch-katholischen Priester der Notre Dame Hall an, die unter der Bedingung zustimmten, dass nicht mehr als fünfzig Leute eingelassen würden. Die Folge: Chaos.
»Man sagte mir, dass sie in drei Stunden spielen würden und dass ich ein paar Leute anrufen sollte«, sagt Simon Barker. »Das war um zirka drei Uhr, um halb vier standen ungefähr fünfhundert Leute vor Notre Dame, aber sie wollten niemanden hereinlassen. Sophie sprach mit den Priestern: Ich glaube, sie haben ungefähr 150 reingelassen. Dann mussten wir diesen ganzen Leuten gegenübertreten. Ich sagte zu Malcolm: ›Es ist deine Schuld, du findest das echt witzig, dass Leute draußen sitzen müssen, aber es ist Scheiße, sie wollen die Band spielen sehen.‹ Es war ihm gleichgültig.«
Die Atmosphäre war ebenso spektakulär wie damals bei den LWT-Aufnahmen. Das Debüt von Sid Vicious vor einem Live-Publikum war bemerkenswert: Seine Defizite als Bassist wurden durch seine Performance wettgemacht. Er wechselte sich bei den Ansagen mit Lydon ab und legte bereits die kaum kontrollierte Aggression an den Tag, die ihn von jetzt an auszeichnen sollte. Diese Rolle entsprach nicht seiner wahren Persönlichkeit: »Manche meinten, Punk bestünde aus lauter Kunststudenten aus der Mittelklasse«, sagt DJ Jay Strongman, damals selbst Kunststudent. »Aber es gab einen harten Kern von zirka dreißig zähen East-End-Typen, die immer in den neuesten Kreationen von Vivienne herumliefen. An jenem Abend kam Sid aus Notre Dame und jemand schrie: ›Ihr habt euch verkauft!‹ Er drehte sich um und sagte:
›Wer hat das gesagt?‹ Er sah, dass es die Zwillinge Michael und John waren, die Hotdogs verkauften. Da zog er sich sofort zurück. Auf der einen Seite tat er so, als wäre er ein harter Hund, auf der anderen Seite wurde er sehr kleinlaut, wenn es ernst wurde.«
Am nächsten Tag fuhr die Band nach Jersey, weil McLaren sich Sorgen wegen eines möglichen Gegenschlags machte. Kurz vor der Abfahrt gab Lydon Caroline Coon ein kurzes Interview, das auf der ersten Seite des Melody Maker in Fettbuchstaben prangte: »Eine Plattenfirma ist dazu da, Platten zu vermarkten – nicht, um Bedingungen zu diktieren.« Coon fing die Stimmung ein: »Es ist, als würde sich die Band, da sie das Establishment nicht beschimpfen kann, ohne heftige Vergeltungsmaßnahmen herauszufordern, gegen sich selbst und ihresgleichen wenden.«
McLaren war das Objekt des Misstrauens und der Frustration, die Fans und Presse gleichermaßen verspürten. Indem er sich im Zentrum des Geschehens befand und krasse Statements herausgab, vermittelte er den Eindruck, alles unter Kontrolle zu haben, aber dieser Kunstgriff führte nur dazu, dass er für alle Ereignisse verantwortlich zu sein schien, wie z.B. dafür, dass die Sex Pistols nicht live auftreten konnten. Die Sex Pistols hatten im Verlauf von sechs Monaten 125.000 Pfund erhalten. Zwar erhielten die Bandmitglieder nunmehr 40 statt 25 Pfund die Woche, aber ihren vollen Anteil sollten sie niemals zu sehen bekommen. McLaren hielt mit dem Geld die Organisation der Sex Pistols am Laufen. Lydon hatte zwar bereits Geld gefordert, aber die Gruppe war zu sehr in ihren alltäglichen Existenzkampf verstrickt, als dass sie sich Sorgen gemacht hätten. Sie bemerkten nicht, dass McLaren, während er sich um ihre unmittelbaren Interessen kümmerte, eigene Pläne entwickelte. In seinem nie fertiggestellten Oxford-Street-Film hatte McLaren ein vorläufiges Manifest für die Gruppe entworfen. Jetzt, da die Musikindustrie bis zu einem gewissen Grad von den Sex Pistols hereingelegt worden war, dehnte sich sein Ehrgeiz auf Spielfilme aus. Hier gab es eine ganze andere Industrie, mit der er spielen konnte: Hier bot sich die perfekte Möglichkeit, die Promotion für eine Band zu steuern, die so sehr in Mythos und Skandale verwickelt war, dass die traditionellen Methoden der Musikindustrie nicht mehr funktionierten. Aber genau wie Andy Wahrhol 1970 unterschätzte McLaren sowohl die Kosten für die Herstellung eines Spielfilms als auch die Härte der Filmindustrie – die Musikindustrie war im Vergleich dazu ein Kinderspiel. Ihm war ebenso sehr wie John Lydon der Erfolg als Manager einer achtzehn Monate alten Popgruppe in den Kopf gestiegen, und nun wollte er es mit zwei Medienindustrien gleichzeitig aufnehmen, mit einem kleinen Team und einer Band, die viel dringender Bestätigung als neue Horizonte brauchte.
Nach dem Rauswurf bei EMI begann McLaren Nachrichten und Aufnahmen von Auftritten der Sex Pistols für einen Kurzfilm zu sammeln. »Malcolm bat mich, die Aufnahmen von der ›Anarchy‹-Tour zu besorgen, um einen Streifen zu machen«, sagt Tiberi. »Er hatte die Idee, die Gruppe als visuelles Ereignis zu verkaufen. Wir waren uns darüber im Klaren, dass die Gruppe aufgrund ihres Auftretens bei Plattenfirmen rausfliegen würde. Film und Fernsehen war da was anderes.
›Nummer 1‹ wurde neu aufgenommen. Das waren die frühen Tage der Amateurvideotechnik. Das Grundy-Interview bekamen wir von einem Country- und Western-Promoter, den Sophie gebeten hatte, es aufzunehmen. Julien Temple kopierte das Video auf Film und schnitt die Bilder über Nacht in der Filmschule. Am nächsten Abend zeigten wir die kopierte und geschnittene Version. Es war sehr bewegender Kram, sehr propagandistisch.«
»Number 1« war deshalb brillant, weil der Fluch der Medien mit einem spöttischen Lachen beantwortet wurde. Der fünfundzwanzigminütige Kurzfilm erzählt die Geschichte der Skandale aus der Sicht der Gruppe, zusammenmontiert mit herablassenden jugendlichen Moderatoren, aufgeblasenen Talkshowgästen, heuchlerischen Akademikern und ausdrucksstarkem Filmmaterial von Bühnenauftritten. Die letzte Einstellung schwenkt von einer glitzernden Kutsche auf einen Straßenfeger, der Pferdescheiße zusammenkehrt.
Die Idee für einen Spielfilm mit dem Arbeitstitel »Rock Around the Contract« sollte zum ersten Mal nach dem Rauswurf bei EMI am 10. Februar umgesetzt werden, als John Lydon und McLaren den Drehbuchautor Peter Cook besuchten. Cook war schüchtern, aber interessiert. Als McLaren drei Tage später wegen der Verhandlungen mit A&M nach Los Angeles fuhr, nutzte er die Zeit, um bei einigen Filmunternehmen dafür zu werben. Als er zurückkehrte, wurde Gerry Goldstein eingestellt, um eine Idee zu entwickeln.
Unmittelbar anstehende Probleme drängten den Film in den Hintergrund. Der Trip der Gruppe nach Jersey geriet zur Farce. Laut McLaren wurde »Jamie losgeschickt, um sich um sie zu kümmern. Bei ihrer Ankunft ließ man sie nicht ins Hotel. Die Polizei wurde alarmiert, und es endete damit, dass sie durchsucht und ihnen eine Menge Unannehmlichkeiten bereitet wurden. Man gab ihnen vierundzwanzig Stunden, um die Insel zu verlassen. Es gelang ihnen, ein Hotel für die Nacht zu bekommen. Wo auch immer sie am nächsten Morgen hingingen, wurden sie von der Polizei belästigt. Sie gaben ein kurzes Fernsehinterview und wurden dann von ein paar ortsansässigen Gangstern kontaktiert, die sie in die ruhigeren Gefilde der Insel führten. Nach der Rückkehr war Rotten wütend. Er behauptete, dass Jamie Reid die Situation nicht im Griff gehabt hätte.«
Am nächsten Tag flogen die Sex Pistols auf Tiberis Vorschlag nach Berlin. »Rotten war damals ein frühreifer kleiner Scheißer,« sagt er.
»Man musste sich immer überlegen, was dieser kleine Scheißer tun würde. Wir übernachteten im Hotel Kempinski, aber es gab nicht viel zu tun. Wir nahmen Kontakt mit der deutschen EMI auf, mieteten einen VW und donnerten an der Mauer entlang, immer an diesen Türmen entlang. Sid war ein echter Idiot. Er hatte keinen Pass dabei. Hätte er einen gehabt, hätten wir rüber fahren können. Aber ich wollte ihn nicht zurücklassen.«
»Der Band gefiel es: Sie hatten zwar keine Bühne, auf der sie spielen konnten, aber sie hatten Spaß und rangelten mit dem Filmteam herum. Was John und Sid anging, wurde die Sache ein bisschen kopflastig, aber das passte zu Malcolm, der sie zum Proben anhielt, damit sie neue Songs spielten. Der Einzige, der sich wirklich dafür interessierte, war John. Im Hotelzimmer entdeckte er ostdeutsches Fernsehen, und es warf ihn um. Er war ein echter Oberschüler.«
Sid Vicious und John Lydon, West-Berlin, März 1977 (© John Tiberi)
In London musste McLaren einen heftigen Schlag von der Plattenfirma einstecken. »Die Sex Pistols waren mit einer neuartigen Idee gekommen. Sie müssen gar nicht notwendigerweise Platten machen, sie müssen nicht irgendwo spielen, sie mussten nur für möglichst großen Aufruhr sorgen und jede Plattenfirma damit erschrecken, dass sie die enfants terribles der Szene waren, nur darauf aus, Sachen zu zerstören. Wenn sie das ausreichend gut erledigen, dann können sie genauso viel Berühmtheit erlangen, wie sie es jemals mit einem gewöhlichen Rock’n’Roll-Konzert könnten. Nichts und niemand erreichte die Wirkung, die die Sex Pistols hatten, ohne irgendeine Platte auf dem Markt zu haben. Sie waren die größte Gruppe in England, wurden in Europa immer wichtiger und hatten einen rätselhaften Ruf in den Vereinigten Staaten. Sie verwirrten jedoch jeden in der Plattenindustrie in einem Maß, dass die Türen verschlossen blieben.«
McLaren versuchte es bei Decca, Pye, Polydor und sogar noch einmal bei EMI. Larry Parnes bot an, ein eigenes Label für die Sex Pistols zu gründen. McLaren ging es in erster Linie darum, einen möglichst hohen Vorschuss zu bekommen.
»Wie lange würde sich die Band noch mit der Tatsache abfinden, dass sie nirgends auftreten durfte? Es gab wenig, was sie tun konnte, außer Songs schreiben, eine lächerliche Aufgabe, wenn man bedenkt, dass sie keinen Ort hatte, an dem sie sie spielen konnte und erst recht keine Möglichkeit, sie aufzunehmen. Wir gingen wieder zu CBS. Diesmal waren sie bereit, uns unter Vertrag zu nehmen, aber wir hätten nicht nur das Gebäude nicht betreten dürfen und uns auf dem Soho Square treffen müssen, sondern sie wollten uns auch keinen Vorschuss zahlen, weil wir angeblich bereits genug Geld erhalten hatten. Ich dachte: ›Wir sind doch nicht im Geschäft, um Verträge für lau zu unterschreiben, auch wenn wir inzwischen 125.000 Pfund verdient hatten.‹ Was sollten wir tun?«
Im Screen on the Green wurde am 3. April ein weiterer Auftritt arrangiert. Das Kino war der einzige Ort in der Stadt – abgesehen von dem verachteten Roxy Club –, in dem sie auftreten durften. »Eine Person, die wirklich eine Medaille verdient, ist Roger Austin«, sagt Jordan. »Er war ein Wohltäter, der für seine Verdienste überhaupt keinen Dank haben wollte.« Selbst dort waren große Überredungskünste vonnöten, um Ärger mit dem aufmerksamen GLC zu vermeiden: Das Gratis-Konzert durfte nicht vor Mitternacht beginnen, und nicht jeder wurde eingelassen.
9.4.77: Man muss zugeben, dass Malcolm McLaren ein erstklassiges Medienhirn und einen perfekten Instinkt für Theater besitzt. Er kann jetzt das Unmögliche haben – der Medienhype um die Pistols ist so verworren, dass die Leute inzwischen bereit sind, alles zu glauben. Es gibt immer zwei oder drei verschiedene Erklärungen zu einem Ereignis oder Schachzug.
Nach ziemlich langer Wartezeit, sehen ungefähr 250 Leute ein Home-Movie mit einer Collage der Geschehnisse um die Pistols. Es ist verstörend, billig und widerlich: Der Anblick von Rotten, der die Leinwand ausfüllt, ist erschreckend (hier hat jemand »Privilege« gesehen). Es wird Werbung für McLarens Laden gemacht, die normalen Medien werden an der Nase herumgeführt.
Die Warterei nimmt kein Ende, Frustration und Langeweile. Eine gute Atmosphäre für die Sex Pistols. Sie sind besser geworden, obwohl das Material bekannt ist – elf Songs plus zwei Zugaben, das einzige neuere Material ist »EMI« und »God Save the Queen«. Sie sind in der Zeit stehengeblieben ... denn mittlerweile sind dem Publikum musikalische oder stilistische Überlegungen alles andere als egal. Die Pistols sind Symbole geworden, ihre Songs Hymnen, von der Kritik unerreichbar. Sie zu sehen, genügt bereits.
Die Wiederholung des Konzerts vom vorangegangenen Sommer machte den Unterschied zwischen beiden Veranstaltungen deutlich. Im Vorprogramm wurde ein Rohschnitt von Number 1 gezeigt, und die unausgeglichenen aber explosiven Slits hatten ihren dritten Auftritt. Die Sex Pistols wirkten verhalten und wurden erst lebendig, als Lydon während des letzten Songs »God Save the Queen« wie ein Prophet beide Arme ausstreckte.
Am nächsten Tag wurden die Sex Pistols laut McLaren von fünf Plattenfirmen abgelehnt. Weitere drei Tage später lag Sid Vicious mit Hepatitis im Krankenhaus. Er hatte im Screen on the Green völlig zugedröhnt gespielt und anschließend mit Keith Levene Heroin genommen. Als er ein paar Tage später auftauchte und krank aussah, kam es zu einem unangenehmen Streit zwischen ihm und McLaren. Nachdem Vicious zugegeben hatte, dass er Heroin nahm, sagte ihm McLaren, dass er Linda Ashbys Wohnung verlassen und bei seiner Mutter einziehen solle. Aber Anne Beverley hatte einen neuen Freund, und so wurde Sid für ein paar Tage bei Goldstein untergebracht.
»Als wir ihn schließlich ins Krankenhaus steckten«, sagt McLaren, »sah er extrem schlecht aus. Wir hielten die Sache so gut wie möglich unter Verschluss – es sollte nicht bekannt werden, dass die Sex Pistols Drogen nahmen. Wir konnten uns nicht leisten, den Eindruck zu erwecken, als könnten wir die Kontrolle verlieren, und deshalb mussten alle oberste Geheimhaltung schwören.«
Sids einmonatiger Krankenhausaufenthalt bewirkte, dass die Gruppe für diese Zeit aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit geriet. Gleichzeitig wurden McLarens Geschäftsmöglichkeiten eingeengt: »CBS zogen sich am 31. März zurück, aber Jean Fernandez von Barclay Records in Frankreich rief uns ständig an. Er hatte ›Anarchy in the UK‹ gehört und fand es umwerfend. Stephen Fisher sagte, dass Barclay einen fürchterlichen Ruf hätte: Sie bezahlten nichts und waren eigentlich Raubpresser. Mittlerweile rief auch Branson an: Ich versuchte, ihn los zu werden. Er bot ein Treffen an, und wir gingen hin, entschieden aber nichts. Inzwischen interessierte mich dieser irre Franzose von Barclay Records, und ich beschloss, jede Plattenfirma auf der gesamten Welt anzurufen. Die Idee bestand darin, diesmal nicht bei einer Firma in Großbritannien zu unterschreiben. Sophie schickte Telegramme an Durium in Italien, Anfragen nach Spanien und Griechenland, zu Metro Records und RCA in Deutschland, Inelco in Holland, Wizzard in Australien und Sonet in Schweden. Vereinzelt wurde Interesse signalisiert. Wir beschlossen schließlich nach all den Mühen, bei Barclay in Frankreich zu unterschreiben.«
Gleichzeitig machten McLaren und Gerry Goldstein mit dem Film weiter, suchten nach Unterstützung und Drehbuchautoren. Ihre mangelnde Erfahrung führte zu einer hektischen Reise durch die englische Filmwelt. Nach ein paar Treffen mit dem erfahrenen Produzenten Sandy Lieberson (zu dessen Verdiensten »Performance« gehörte), zog sich Peter Cook zurück. Die nächsten beiden, die gewonnen werden sollten, waren Graham Chapman und Johnny Speight, der im April einen Drehbuchentwurf schrieb. Er wurde sehr schnell als »zu dokumentarisch« abgelehnt.
Die Promotionpläne für »God Save the Queen« entwickelten sich nach der Vertragsunterzeichnung bei Virgin rasch. Werbung fürs Fernsehen wurde ebenfalls gedreht. Darin ist John Lydon kurz zu sehen, der wütend in die Kamera starrt und sagt: »Ihr habt gedacht, ihr seid uns los, aber hier sind wir wieder, auf Virgin Records.« Jamie Reid entwickelte weitere Ideen für verschiedene Poster und Plattenhüllen: Er montierte einen Union Jack in den Hintergrund des Posters mit dem Kopf der Königin und entwarf eine Singlehülle in den offiziellen Jubiläumsfarben blau und silber.
Genau zu dem Zeitpunkt, als die Gruppe isoliert war und emotionale Unterstützung gebraucht hätte, zog sich McLaren zurück. Den alltäglichen Umgang mit der Band übernahmen John Tiberi und Sophie Richmond. Sophie begann Taxi-Quittungen zu sammeln, besorgte den Bandmitglieder Wohnungen und benahm sich ganz wie eine Ersatzmutter. »Die Differenzen bildeten sich damals heraus«, sagt Tiberi.
»Johns Vorstellung von Unabhängigkeit bedeutete Unabhängigkeit von den anderen, und die bekam er, als er nach Hause zog.«
Der im Krankenhaus liegende Sid wurde von allen vernachlässigt, außer von Nancy. Sid fühlte sich einsam und verletzbar. Steve und Paul besuchten ihn nur sporadisch, sein früherer Freund John Lydon kein einziges Mal. Nur Sophie ging regelmäßig hin, aber ihre Zeit war durch die Büroarbeit beschränkt. In diesem Monat wurde Sid vollkommen abhängig von Nancy. Als er am 13. Mai das Krankenhaus verließ, waren sie unzertrennlich.
Am 8. Mai flogen McLaren, Stephen Fisher und Jamie Reid nach Paris, wo sie einen Produktionsvertrag für 26.000 Pfund unterschrieben: Dieser deckte nicht nur Frankreich, sondern auch Sansibar, die Schweiz und Algerien für einen Zeitraum von zwei Jahren ab. McLaren wehrte sich bis zum letzten Moment, die Vertragsverhandlungen mit Virgin abzuschließen, aber Fisher bestand darauf, da das Jubiläum wie ein Expresszug nahte und schließlich die Vermarktung der Single darauf abgestellt war.
»Malcolm versuchte, sie dazu zu bringen, nur eine Single zu machen«, sagt Tiberi, »aber davon wollten sie nichts hören: Sie wollten Vorteile aus der Situation schlagen und einen langfristigen Vertrag machen. Branson war ziemlich unverschämt und Malcolm war wegen des Jubiläums besorgt, aber inzwischen denke ich, dass Virgin ein Fehler war. Sie haben die Gruppe falsch verstanden. Und es scheint sehr kurzsichtig, die Band als eine zu betrachten, die sich um Termine kümmern muss.«
Virgin unterschied sich sowohl von A&M als auch von EMI. Es war eine junge unabhängige Firma, die Kopfgeburt eines einzigen Mannes, der der ganzen Firma den Stempel seiner Persönlichkeit aufdrückte. Damals gab es keine Teilhaber, keine amerikanische Muttergesellschaft, kein Management mittleren Alters und keinen Vorstand, nicht einmal einen Industriestandort. Virgin hatte nichts zu verlieren. Mit Richard Branson musste McLaren mit einem Firmenchef verhandeln, der jünger war als er und ebenso rücksichtslos. Bransons Erscheinung täuscht über seinen Charakter hinweg. McLaren verspottete ihn als »Hippie«, unterschätzte dabei aber gehörig Bransons Energie und Entschlossenheit. Trotz der langen Haare und der verworrenen Ausstrahlung hatte Branson niemals ein Hippieleben geführt. Das Erscheinungsbild und die Produkte waren mehr aus Zufall entstanden und weniger Resultat echter Vorlieben. Für Branson traten Drogen und Reisen in den Osten zugunsten eines zielstrebigen und unablässigen Unternehmenswachstums in den Hintergrund, das er mit dem feurigen Ehrgeiz eines Besessenen verfolgte.
»In der Schule wurde Richard von den anderen gehänselt«, sagt Johnny Gems, der mit Branson in Stowe war. »Das lag daran, dass er nicht besonders helle war, so wie eine Comicfigur. Aber man braucht nun mal nicht besonders viel Grips, um Geld zu machen. Er wurde geschnitten und verleugnet, und deshalb hatte er dieses unglaubliche Bedürfnis, der Welt zu zeigen, dass er ein Sieger ist, und das verlieh ihm eine dämonische Energie.«
Virgin war wie eine Familie, und mit den meisten Mitarbeitern – wie Nik Powell und Simon Draper – war Branson eng befreundet. Varnom war das schwarze Schaf, er fühlte sich seinem Boss aus der oberen Mittelklasse in einer Mischung aus Liebe und Hass verbunden. Wie Mick Brown in Bransons autorisierter Biographie schreibt: »Er bewunderte Varnoms Bildungshorizont. Darüberhinaus brachte Richard die Tatsache, dass Varnom so spitzbübisch seinen Überredungskünsten widerstand, aus der Fassung, forderte ihn aber auch heraus.« Es gab ein paar Startschwierigkeiten, z.B. eine Geldstrafe über 28.000 Pfund, die ihnen aufgebrummt wurde, als die Zollbehörde Virgin mit gefälschten Exporten erwischte, aber Virgin dehnte sich rapide aus und eröffnete Läden in Notting Hill Gate, Manchester, Newcastle und Brighton. Das Attraktive an einem Virgin-Laden bestand darin, den ganzen Tag bleiben und Dope rauchen zu können, ohne belästigt zu werden. »Es waren Hippiehöhlen,« sagt Varnom.
1972 eröffnete Virgin ein Aufnahmestudio in Shipton-on-Cherwell in der Nähe von Oxford. Eine der ersten Veröffentlichungen war Mike Oldfields »Tubular Bells«, die Platte, die Virgin groß machte. Tubular Bells verkaufte sich phänomenal gut, blieb über viereinhalb Jahre in den Charts. Der Erfolg katapultierte Virgin in die Oberliga, aber daran ließ sich nicht anknüpfen.
»Dem Label ging es lange Zeit ziemlich gut«, sagt Varnom, »dann verlor es ernsthaft Geld. Das Namensverzeichnis war riesig. Wir hatten viel deutsche Musik, wie Tangerine Dream und Faust, und ich nannte sie in einem Artikel für den Mailorder-Katalog ›Kraut Rock‹: Daraus wurde ein Genre. Dann hatten wir Hatfield and the North und Henry Cow. Ich glaube, es war ein gutes Maß an intellektuellem Snobismus dabei. 1974 kauften sie Vernon Yard, und Al Clark kam als Pressesprecher dazu.«
»Wie sich herausstellte«, sagt Al Clark, »taten sich gleichzeitig eine ganze Reihe Möglichkeiten der Erneuerung auf. An einem denkwürdigen Abend bei Richard zu Hause in Denbigh Terrace wurde klar, dass die Firma so vor sich hinplätschern würde, wenn sie nicht einen anderen Gang einlegte. Wir diskutierten über sämtliche Leute, denen wir uns nicht mehr verpflichtet fühlen oder mit denen wir weiterhin zu tun haben wollten. Es war ein sehr turbulenter Abend, bei dem eine Menge Brücken abgerissen wurden.«
Die Sex Pistols waren bereits zweimal mit Virgin in Berührung gekommen. »Im Sommer interessierte sich Richard für sie«, sagt Varnom, »aber Simon Draper meinte: ›Die Sex Pistols nehmen wir nur über meine Leiche unter Vertrag.‹ Also zog sich die Sache hin.« Im neuen Jahr hatte Leslie Hill ein Treffen zwischen McLaren und Branson arrangiert, als er sich darum bemühte, die Sex Pistols würdevoll aus EMI zu entlassen. McLaren hatte damals jedoch genug Alternativen und weigerte sich, konkret mit Branson zu verhandeln.
Im Mai 1977 war die Zeit reif. Branson wusste instinktiv, dass die Sex Pistols perfekt waren, um eine ins Schlingern geratene Firma zu verjüngen, und wenn er Erfolg hätte, worin EMI und A&M gescheitert waren, nämlich die Sex Pistols zu zähmen, dann wäre er ein gemachter Mann. McLaren jedoch mochte Branson nicht, weder seinen Stil noch seine Herkunft. »Wie Lydon McLaren ansah und dachte: ›Dir zeig ich’s‹«, sagt Bernard Rhodes, »so sah Malcolm Branson an und dachte dasselbe.«
Handschriftliche Lyrik von John Lydon (Archiv Jon Savage)
Am 12. Mai unterzeichneten die Sex Pistols – vertreten durch Glitterbest – bei Virgin Records gegen eine Garantiesumme von 15.000 Pfund. McLaren bestand darauf, dass die Summe gezahlt würde, nicht auf einmal, aber in zwölf Raten, wenn einzelne Tracks abgeliefert würden. Einen Monat später wurden weitere 50.000 Pfund Vorschuss fällig für die Rechte, Sex Pistols-Produkte in aller Welt einschließlich jener in Amerika zu veröffentlichen.
»Richard hatte sofort Probleme mit Malcom, weil Malcolm genausogerissen und schlau war wie er«, sagt Varnom. »Richard schätzte das nicht. Es gab da diese politische Linie von Malcolm und Jamie, die Firma zu verarschen, sobald sich die Gelegenheit dazu bot. Das brachte Richard von Anfang an auf die Palme, und es wurde immer schlimmer.«
»Sobald wir unterschrieben hatten«, sagt McLaren, »gab es eine unglaubliche Auseinandersetzung. Sie hatten wahnsinnige Angst, dass sie die dritte Firma sein sollten, die verschaukelt wird und weigerten sich ›Virgin Records‹ auf ›God Save the Queen‹ zu drucken: Sie wollten, dass es so aussah, als hätten sie nichts damit zu tun und würden die Platte nur vertreiben. Wir brachten sie dazu, dass sie ihren Namen auf das Label setzten.«
Am 16. Mai unterschrieb Sid Vicious den Virgin Vertrag. Wegen seines Krankenhausaufenthaltes verlief die Unterzeichnungsprozedur ohne Aufsehen, da Glitterbest kein Interesse daran hatte, die Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. Sofort kam es zu einem nächsten Streit. Man hatte entschieden »God Save the Queen« am 27. Mai mit dem Ziel zu veröffentlichen, die Platte in der Jubiläumswoche in die Top Ten zu hieven. Die Produktion der Single wurde in Auftrag gegeben, doch einen Tag nach der Unterzeichnung legten die Arbeiter in der Pressfabrik von CBS aus Protest gegen den Inhalt der Single die Arbeit nieder.
Branson geriet in Panik, und McLaren, der die Chance erblickte, aus dem Virgin-Vertrag herauszukommen, fing an, sich um Chrysalis zu bemühen. Er war noch immer alles andere als überzeugt von dem Vertrag mit Virgin, und John Lydon war das zu diesem Zeitpunkt genauso wenig. Obwohl Branson ebenso enthusiastisch wie die anderen Firmen war, schien er plötzlich verwundbar angesichts des Drucks durch die Industrie. Nach etlichen Telefonaten und nachdem es noch mehr Publicity gegeben hatte, nahm CBS die Pressungen wieder auf. Am nächsten Tag weigerte sich wieder eine andere Firma, die Druckplatten für die »God Save the Queen«-Hülle anzufertigen. Am 23. hatten Tiberi und Temple einen Termin für einen Promotionfilm, der im Marquee gedreht und in Top of the Pops gezeigt werden sollte. Die Aufnahmen waren chaotisch: Lydon benahm sich wie eine Primadonna, und Vicious war noch immer krank, dennoch konnte die wahnsinnige Atmosphäre gut eingefangen werden – das Material war elektrisierend und sehr witzig.
»God Save the Queen« hatte sich schon bei der Herstellung als unglaublich schwierig erwiesen, jetzt zeigte sich, dass die Platte mindestens genauso schwer zu promoten war. John Varnom und Jamie Reid schlugen eine große Kampagne vor, die über 5.000 Pfund kosten sollte. Dazu gehörten: 1.000 Poster für die Londoner Busse, 1.000 quadratische Poster für die Plakatierung, 6.000 Aufkleber, 3.000 Wimpel, T-Shirts, außerdem Fernseh-, Radio- und Printmedien-Werbung. Ebenfalls bereits detailliert entworfen war eine Kampagne für Einzelhändler und kleinere Ketten.
Die Kampagne in den Medien traf sofort auf erhebliche Hindernisse. Thames und LWT lehnten die Fernsehwerbung ab, und auch die Radiosender weigerten sich, die Werbespots über den Äther zu schicken. Die Single durfte per Anordnung der Sender nicht gespielt werden. Die BBC belegte sie wegen des »ungeheuerlich schlechten Geschmacks« (obwohl John Peel sie zweimal spielte) mit einem Verbot, und der IBA (International Broadcasting Association) wies alle kommerziellen Radio- und Fernsehstationen an, den Song nicht zu senden, da er gegen Absatz 4 (10) (A) des IBA-Erlasses verstieß, d.h. dem »guten Geschmack oder Anstand zuwiderlief und dazu angetan sein könnte, Kriminalität zu fördern oder anzuregen oder Unruhe hervorzurufen.«
Die Platte kam am 27. in den Verkauf, aber Woolworth, Boots und W.H. Smith nahmen sie nicht ins Sortiment. Dafür sprang die verachtete Musikpresse in die Bresche: Sie wurde von allen vier Wochenzeitungen zur »Single of the Week« erklärt, und die Sex Pistols kamen aufs Cover des Record Mirror, des Melody Maker und der Sonderausgabe »Special Gratuitous Sex Pistols Overkill Issue« des NME, die Nachrichten, Rezensionen, Klatsch, Porträts und Leserbriefe enthielt. Trotz eines erstaunlichen und beispiellosen Versuchs aller Medien, der Musikindustrie und des Einzelhandels, das Erscheinen der Platte zu verhindern, verkaufte sich »God Save the Queen« 150.000 Mal in fünf Tagen, genug, um mit ihr auf Platz 11 der Charts zu landen. Die Sex Pistols hatten sich zurückgemeldet. Mit diesem ersten echten Hit behaupteten sie sich als bedeutendste Punkband, und was noch wichtiger war, sie waren der Fokus für einen statistisch zwar kleinen, aber bedeutsamen Teil der Bevölkerung, der mit seinem Taschengeld und seinen Träumen für sie stimmte. Die Welt nahm das zur Kenntnis.
Sex Pistols-Werbung, Juni 1977 (© Caroline Coon)