This is ’77, nearly heaven, it’s black, white and pink, just think there’s more to come, hum hum hum hum it’s so obvious. Well it’s alright just listen, can’t wait for ’78, God those r.p.m., can’t wait for them, don’t just watch, hours happen, get in there kid – and snap them.
Wire, »It’s So Obvious« (1977)
Im Herbst bot der schräge, oft rohe Sound von Bands wie Subway Sect, The Fall oder den Slits Möglichkeiten, die anderswo bereits verbaut waren. Auch wenn die, die noch vom Adrenalinausstoß überwältigt waren, es nicht merkten, war die Definition von Punk bereits überholt und darauf angelegt, im stilistischen und sozialen Konservatismus zu münden, ob in Form des Ur-Punk der Sham 69, des sozial-realistischen Rock von Tom Robinson oder des New Wave von The Jam, den Stranglers oder den Boomtown Rats. All das war innerhalb eines Jahres geschehen. Die Sozialrealisten hatten bereits gezeigt, dass politisches Engagement eine Sicherheit verlieh, die einer gespaltenen Psyche eine lebensfähige Alternative bieten konnte. Es gab noch eine andere Lösung, eine entfremdete Synthetik, die in zwei Hits jenes Herbstes angeboten wurde – Donna Summers »I Feel Love« und »Magic Fly« von Space.
Wenn Punk Ende 1977 aus dem Gleis geriet, dann brachte der »Trans-Europe Express« von Kraftwerk den Zug mit einem metallischen Kreischen zum Stillstand. »From station to station / Back to Dusseldorf City / Meet Iggy Pop / and David Bowie«, sangen sie und imitierten die emotionslose, präzise Sprechweise von Robotern. Dies war der verborgene Soundtrack von 1977. Während Punk tobte, hatte sich David Bowie von England und Amerika verabschiedet und sich in Berlin niedergelassen. beeinflusst von Kraftwerk und Neu produzierte er vier LPs in einem Jahr: seine eigenen – »Low« und »Heroes« – und die von Iggy Pop – »The Idiot« und »Lust for Life«. Als Iggy im März 1977 sein erstes Konzert seit dem King’s Cross-Debakel von 1972 in Aylesbury gab, war Bowie die anonyme, aber auffällige Gestalt an den Keyboards. Das Konzert ging daneben: das herumrotzende Publikum war gekommen, um Blut und Psychosen zu sehen, während sich Iggy damals auf einem Gesundheitstrip befand und in Selbstdisziplin übte. Er lieferte eine distanzierte Bestandsaufnahme seines früheren Nihilismus: keine schneidenden, allgegenwärtigen Punkrhythmen mehr, sondern ein repetitiver, gemessener Groove und einfache Geräusche. Von »Death Trip« zu »Lust for Life« hatte es nur fünf Jahre gedauert, aber es war eine lange Reise.
Gerade als sich Punk völlig ausgebrannt auf seine Todesfahrt begab, bei der viele auf der Strecke blieben, übte Iggys sardonischer Optimismus großen emotionalen Einfluss aus. Diese beiden Platten, seine erfolgreichsten in England, sandten eine musikalische Botschaft aus, die Punk zum Verstummen brachte. Iggy sprach von einer neuen urbanen Psychogeographie: »I am the passenger / I stay under glass«, sang er.
»I see the bright and hollow sky / Over the city’s ripped backside.« Ein Projekt von Punk war die Auflösung der Grenzen zwischen Kunst und Alltagsleben: Lewisham markierte dessen Scheitern. Als ihnen dies bewusst wurde, wandten sich viele dem »Alltagsleben« zu, um sich über die Politik und Soziologie von Punk klar zu werden, andere konzentrierten sich auf »Kunst«, um deren Auswirkungen auf Emotionen und Wahrnehmung zu erkunden. Für letztere war Brian Eno das Vorbild.
Als Gründungsmitglied von Roxy Music hatte Eno hinsichtlich Avantgardekunst die gleichen Karten gemischt wie Punk, sie aber in völlig anderer Reihenfolge aufgedeckt. Als Punk präsent war, hielt er absichtlich Distanz: »In der geschlossenen Umgebung, in der Kunstwerke geschaffen und betrachtet werden«, schreibt Rick Poynor in More Blank than Frank, »können Künstler und ihr Publikum mit Ideen, Haltungen und Verhaltensweisen experimentieren, die im wahren Leben verheerende Folgen hätten.« Enos öffentlicher Charakter war ernst, intellektuell, unnahbar.
1976 machte Eno synthetische, entropisch instrumentelle Musik. David Bowie benutzte diesen Ansatz für »Low« und »Heroes«. Aufgenommen in einem zerfallenen Tanzsaal direkt an der Berliner Mauer, bestanden beide Alben aus zwei konträren Seiten. Die erste enthielt schräge, aber konventionelle Songs, die zweite synthetische, instrumentelle Stimmungen. Die Songs auf »Low« waren abrupt, beinahe autistisch, aber die Instrumentalstücke waren entpersonalisiert und ausgesprochen distanziert. Nur im Titelsong von »Heroes«, ein Stück über die Berliner Mauer, ließ sich so etwas wie Menschlichkeit heraushören. Beide Platten von 1977 hatten riesigen Einfluss auf das Auseinanderfallen der Szene in jene, die die Notwendigkeit sahen, politisch aktiv zu werden, und jene, die aus der Welt heraustreten, den Wirrwarr im eigenen Kopf ordnen wollten, gleich ob in einer abgeschotteten musikalischen Umgebung oder bei sich selbst. Beide Ansätze verliefen jetzt absolut getrennt voneinander.
»Ich war völlig unpolitisch«, sagt Howard Devoto, dessen neue Gruppe Magazine die Sensation des Herbstes war. Einer ihrer ersten und stärksten Songs war »Shot By Both Sides«, in dem Devoto die klassische Außenseiterposition neu formuliert, die ein wichtiger Teil des frühen Punk gewesen war und die jetzt in der Notwendigkeit, sich für eine Seite zu entscheiden, verlorenging. »Daher kam übrigens der Titel. Ein Freund sagte zu mir: ›Du wirst noch von beiden Seiten erschossen werden.‹«
Magazine gaben ihr Debüt Ende Oktober mit einem kurzen, unangekündigten Set am letzten Abend des Electric Circus. Devoto hatte einen solchen Ruf, dass sie innerhalb weniger Tage einen Vertrag bei Virgin Records unterschrieben. Magazine (Devoto gefiel die Doppeldeutigkeit des Wortes – Knarren und Medien) waren ganz entschieden Post-Punk: extravagant und musikalisch. Die Tempi waren langsamer als im Punk, und um seine Nervosität zu kompensieren, nahm Devoto ein eisiges Bühnenverhalten und einen künstlichen Gesangsstil an. Er ähnelte Eno sogar bis aufs kurzgeschnittene, schüttere Haar.
»Orthodoxie hatte Einzug gehalten«, sagt Bruce Gilbert von Wire, ein geduldiger Mann, dessen erste LP »Pink Flag« Enos Einfluss zeigte. »Die Offenheit war verschwunden. Es ging darum, das eigene Outfit und die Fotos richtig hinzubekommen. Die politische Haltung war formalisiert worden und mit ihr die Wahrnehmung. Nachdem wir als ›grau und faszinierend‹ beschrieben worden waren, war es mit der Phantasie der Leute vorbei. Wir galten als Beispiele für Industrial, Ice Warriors, New Psychedelia.«
Die neue Stimmung war entrückt, aber dennoch auf Konfrontation angelegt, und ebenso kühl wie alles im Punk, der jetzt als das neue Establishment betrachtet wurde. »Das Studio von Throbbing Gristle befand sich in einer Fabrik neben den London Fields in Hackney«, sagt Genesis P-Orridge, »wo früher viele Pest-Opfer begraben wurden. Hinter den Betonmauern im Keller lagen tausende Leichen, also gaben wir dem Studio den Spitznamen Death Factory. Aber wir sahen die Death Factory immer auch als Metapher für die Industriegesellschaft. Als wir die Bänder fertig produziert hatten, gingen wir raus in die Martello Street. Es fuhr gerade ein Zug vorbei, um die Ecke plärrte ein Transistorradio, in einem Sägewerk wurde Holz gesägt, und ein Hund bellte. Ich sagte: ›Wir haben nichts erfunden. Wir haben nur festgehalten, was die ganze Zeit da ist.‹ Dann schlug ich vor, Muzak für Fabriken zu machen, indem wir echten Fabriklärm rhythmisch bearbeiteten, statt zu versuchen, ihn in widerlicher Popmusik zu ertränken. Im Oktober beschlossen wir, unser Album selbst herauszugeben. Wir liehen uns Geld und stellten 785 Exemplare her. Meiner Einschätzung nach würde es drei Jahre dauern, bis sie verkauft wären, da es sehr weit von dem entfernt war, was angesagt war. Es war sehr nihilistisch und sarkastisch. Ich trug ein T-Shirt, auf dem stand: ›Rock’n’Roll ist was für Arschlecker‹. Aber plötzlich waren die Platten alle weg. Throbbing Gristle existierte. Wir hatten nicht daran gedacht, Teil des Musikgeschäfts zu werden, wir waren ein Kommentar zur Kultur, Heuchelei und Doppel-Moral.«
26.11.77: Irgendwo in dem Ganzen steckt die »New Musick«. Eher ein Gewebe. Erhabenheit. Nukleare Alpträume. Gedankenschlaf. Wie geht das? »Die absolute Zerstörung aller Werte an die man geglaubt hat, der totale Verlust seiner Stellung in der Welt, hat das Vereinigte Königreich in einen psychotischen Zustand versetzt. Beleg dafür ist die vollkommene Unfähigkeit, der Realität ins Gesicht zu sehen.« Oh. Jetzt bin ich geblendet und kann wirklich sehen...
Ende des Jahres versuchte Sounds diese verschiedenen Vorstellungen in einem zweiteiligen Artikel mit dem Titel »New Musick« zusammenzubringen. Das Verfahren jeder Musikzeitschrift: man nehme einige disparate Phänomene, werfe sie zusammen und denke sich einen Namen für den neuen Trend aus. Dennoch wurden einige zutreffende Verbindungen hergestellt mit Artikeln über Elektronik (Eno, Kraftwerk, Throbbing Gristle, Pere Ubu, etc.), Post-Punk (Siouxsie), Dub (King Tubby etc.) und Disco. In dieser diffusen Mischung lag die Zukunft.
Punk als einheitliche Bewegung war tot, aber er hatte genügend Verbindungen geknüpft, um die nächsten zehn Jahre Pop zu durchdringen. »Obwohl er bis Ende des Jahres ausgelaufen war«, sagt Roger Armstrong, »bildete er den Ausgangspunkt für die große Mehrheit. Als Punk am Anfang zum Zuge kam, wurden nicht viele Platten verkauft, aber man hatte viele Teenager gewonnen. Bei Kids wird der Geschmack in einer sehr kurzen Zeitspanne ausgeprägt. Die Sinne für das, was vor sich geht, sind äußerst scharf ausgeprägt, wenn man dreizehn ist. Man beobachtet von außen, und kann es kaum abwarten, selbst dabei zu sein und etwas zu machen.«
»Never Mind the Bollocks« war das einzig neue Album in den Top Five, das nicht im Fernsehen beworben wurde, was allerdings nicht an Virgin, sondern am Fernsehen lag. Virgin hatten 40.000 Pfund für Radio- und TV-Werbung eingeplant, aber die Werbung wurde von den Fernseh- und Radioverbänden abgelehnt. Wie ein Sprecher sagte: »Es ist nicht die Werbung, sondern das Produkt selbst, gegen das wir Einwände erheben.«
Virgin und Glitterbest mussten andere Wege beschreiten. »Wir pflasterten die Fenster der Virginläden damit zu«, erzählt John Varnom.
»In Notting Hill Gate bestand das Sortiment des Ladens praktisch ausschließlich aus ›Never Mind the Bollocks‹. Es war überall. Dann wurde es verboten.« In der zweiten Novemberwoche besuchte Zivilpolizei die Londoner Zweigstellen von Virgin und Small Wonder Records und die Läden wurden davon in Kenntnis gesetzt, dass sie mit einer Strafanzeige wegen des Indecent Advertisements Act von 1899 zu rechnen hatten. In Nottingham klapperte die Polizei auf Anweisung des Chief Constable alle Plattenläden ab, die das Album ausstellten, beschlagnahmten die Schaufensterdekoration und alle Plattenhüllen. Als der Manager des Virginladens, Chris Searle, die Dekoration erneuerte, wurde er am 9. November verhaftet. Richard Branson war 1970 schon einmal wegen eines Flugblatts mit diesem Gesetz in Konflikt geraten. Er bat den Anwalt, der ihn damals vertreten hatte, John Mortimer, ihn am 24. November erneut zu verteidigen.
Zur Gerichtsverhandlung in Nottingham erschien auch John Lydon. Wie bei vielen Auseinandersetzungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart wurde auch diese Verhandlung von einem steinalten Gesetz bestimmt. Die formale Höflichkeit der Sprache verdeckte einen Kampf, der so erbittert war wie alle Kämpfe, in die die Sex Pistols in jenem Jahr verwickelt waren. Es stand nicht nur der Titel des Albums zur Verhandlung. Die Staatsanwaltschaft musste belegen, dass gedrucktes Material »anstößiger Natur« dem öffentlichen Blick ausgesetzt wurde. Der Fall drehte sich hauptsächlich um das Wort »bollocks« (= Hoden, Unsinn, Eier etc.), aber der Staatsanwalt, vielleicht in der Hoffnung, seinen dünnen Fall mit Ressentiments aufpeppen zu können, dehnte die Angelegenheit auf das Poster und die Kombination der Worte »bollocks« und »Sex Pistols« aus. Eine Million Menschen würden laut Polizeiaussagen durch das Album »belästigt«.
Mortimer berief James Kingsley in den Zeugenstand, Englisch-Professor an der Nottingham University, der die Geschichte von »bollocks« als eines guten, anständigen angelsächsischen Wortes geltend machte, das in schriftlichen Aufzeichnungen bis ins Jahr 1000 zurückverfolgbar sei. Er zitierte Eric Partridges Standardwerk Dictionary of Slang und sagte: »Ich verstehe den Titel in der Bedeutung von: ›Kümmert euch nicht um den Unsinn, hier sind die Sex Pistols.‹ Man fragt sich, warum ein Wort, dem schon im Mittelalter und in der Übersetzung der Bibel bis hin zu Dylan Thomas und George Orwell Reverenz erwiesen wurde, plötzlich kriminell sein soll, nur weil es sich auf einer Plattenhülle der Sex Pistols befindet. Die Anklage wurde offensichtlich deshalb erhoben, weil es die Sex Pistols waren und nicht Donald Duck oder Kathleen Ferrier.«
»So sehr meine Kollegen und ich«, bestätigte der Vorsitzende des Gerichts die sozialen Implikationen des Falls, »von ganzem Herzen die vulgären Auswürfe niedrigster Instinkte missbilligen ... müssen wir widerstrebend feststellen, dass Sie in allen Anklagepunkten unschuldig sind.« Das Wesen des Falls offenbarte sich am nächsten Tag in den Schlagzeilen der überregionalen Presse. Die Sun, eine bei Polizisten sehr beliebte Zeitung, hatte schon seit dem Erscheinen des Albums gegen »Bollocks« gewettert. »Erschreckend«, tobte sie auf der Titelseite des 25. November. »Das gibt Johnny Rotten und seinen unflätigen Sex Pistols Gelegenheit, der Welt den Stinkefinger zu zeigen.«
Der gewonnene Prozess jedoch konnte die Spannungen innerhalb der Gruppe, Virgin und Glitterbest nicht verdecken. Selbst die Verhandlung war peinlich, da die Sex Pistols vom liberalen Konsens profitiert hatten, den sie verachteten. »Der ›Bollocks‹-Fall verdrehte das, worum es ging«, sagt Tiberi. »Den Fall zu gewinnen war nicht das, was die Gruppe wollte.«
In diesem Stadium interessierte sich McLaren kaum noch für die Sex Pistols oder deren Musik, sondern war von dem Versuch besessen, den Film zu retten. »Jesus Christus, wenn die Leute die Platte wegen der Musik gekauft hätten, dann wäre die Sache längst gestorben«, erzählte McLaren der Presse in jenem November. Er traf auf das Regisseur/ Autoren-Team Jonathan Kaplan und Danny Opatoshu, Ex-Studenten von Martin Scorsese, die Empfehlungen von Roger Corman in der Tasche hatten. Am 5. November begannen sie mit der Arbeit und schrieben ein Treatment. »John mochte sie«, sagt Julien Temple. »Jonathan Kaplan schwebte eine Art Punk-Woodstock, das mitten im Winter in einer sozialen Wohnsiedlung stattfinden sollte vor. Eine großartige Idee, aber Malcolm mochte sie aus irgendeinem Grund nicht.« Das Treatment orientierte sich am Meyer-Film – die Sex Pistols gegen die Musikindustrie – und wurde am 22. November eingereicht.
McLaren konnte die beiden nicht ausstehen und nahm das Projekt nicht ernst. Obwohl die Sex Pistols dem Treatment zustimmten, war Michael White nicht bereit, es zu unterstützen, woraufhin McLaren Kaplan und Opatoshu rauswarf – es gab keine schriftlichen Vereinbarungen. Als die Band von Kaplans Abreise erfuhr, weigerte sie sich, mit einem anderen Regisseur zu arbeiten. McLaren war wieder ganz am Anfang, während Kaplan aus seiner Idee »Over The Edge« machte, einen der ersten »brat-pack«-Filme.
Noch schlimmer wog für McLaren, dass einer der beiden zu viel mit Sid Vicious zu tun gehabt hatte. Mit Nancy zusammen eingesperrt, wurde Sid unkontrollierbar. Anfang Dezember machte das Paar Schlagzeilen auf der Titelseite der Sun, weil sie aus einem Hotelzimmer Kleinholz gemacht hatten. Vicious hatte das Gefühl, in einer unmöglichen Situation zu stecken: Er war das neueste Mitglied einer Gruppe, die er hasste und zugleich für die beste Band der Welt hielt, dabei war sie so inaktiv, dass er nicht sicher war, ob sie überhaupt noch existierte.
Glitterbest hatte schon lange entschieden, was das Problem war, und bereits versucht, es auf eigenwillige Weise zu lösen. »Es war vollkommener Wahnsinn«, erzählt Sophie Richmond. »Es gab die Idee, Nancy ohne Rückflugticket in ein Flugzeug nach Amerika zu setzen. Wir kamen aber nicht mal bis Heathrow. Sie hatte schreckliche Angst, ohne Drogen in ein Flugzeug zu steigen. Es endete damit, dass ich und Nancy auf der Straße standen und stritten. Dann rief ich im Büro an und sagte, dass ich es nicht schaffen würde. Malcolm und Boogie kamen und hatten auch nicht mehr Erfolg als ich.«
»Sie trugen alle diese hellblauen Regenmäntel aus dem Laden«, sagt Roadent, »die Glitterbest-Uniform. Als Nancy Malcolm und Boogie kommen sah, rannte sie die Straße runter: die drei folgten ihr und holten sie ein. Ich blieb bei den Autos: die Türen weit geöffnet. Aus einer Entfernung von 200 Metern sah ich die vier, wie sie sich gegenseitig anschrien: in ihren Mänteln sahen sie aus wie eine Mafia-Gang.« Wenn die Absicht gewesen war, Sid von seiner Drogenquelle abzuschneiden, dann hatte die versuchte Entführung den gegenteiligen Effekt: sie schweißte Sid und Nancy nur noch fester zusammen und pflanzte in Sids Gehirn einen unerschütterlichen Hass gegen McLaren.
Glitterbest bekämpfte das Symptom, nicht seine Wurzeln.
»Sid war der Archetyp von ›Hope I die before I get old‹«, sagt Roadent. »Er hat es darauf angelegt. Er hatte eine Menge Witz und Humor, aber es ging einfach bergab mit ihm. Er wurde griesgrämig und bitter, und das lag nur daran, dass er mit Drogen zu tun hatte. Malcolm hatte nichts damit zu tun. Der Mann hat sein eigenes Leben. Wenn ihm Malcolm Heroin verkauft hätte, könnte man vielleicht sagen, dass es seine Schuld war, aber Sid hat schon immer Drogen gemocht, dann machte ihn Nancy mit Heroin bekannt und er mochte es. Malcolm hat versucht, ihm zu helfen, viele Male.«
McLarens Hang zum Chaos trug bittere Früchte. Sid Vicious war immer der Verwundbarste bei den bizarren Experimenten in angewandter Sozialwissenschaft, die in SEX durchgeführt wurden. Wie Frankenstein drohte er, außer Kontrolle zu geraten. McLaren war das nicht egal, aber er hasste es, Verantwortung zu tragen. Er verspürte echte Zuneigung zu Sid Vicious, aber seine eigenen Unzulänglichkeiten machten ihn hilflos. Am Ende schlug McLaren den konventionellen Kurs ein, brachte die Band dazu, wieder zu spielen, um so zu tun, als existierten sie noch immer. In Eile arrangierte Cowbell eine am 5. Dezember beginnende zehntägige Tour durch kleine Clubs in Holland.
»Wir mussten die Band wieder aktivieren, um Sid von den Dealern fern zu halten«, sagt Roadent. »Also fuhren wir nach Holland, aber dort gibt es haufenweise Drogen. Wir wechselten uns ab, blieben die ganze Nacht mit Sid wach und versuchten, ihn vom Heroin fernzuhalten.«
Sid war nicht das einzige Problem. Die Gruppe hatte immer behauptet, sich gegenseitig zu hassen: jetzt kam die Wahrheit hinter dem Scherz zum Vorschein. »Paul und ich waren zusammen aufgewachsen«, sagt Steve Jones. »Sid war in Ordnung, er war immer witzig. Ihm war alles egal. John war derjenige, der Ärger machte. Er war manchmal ein bisschen dumm und trieb es mit seinem Trip zu weit. Auch mit uns, der Band.«
»Sid vermasselte einiges auf der Bühne, während John die Sache viel ernster nahm«, sagt Roadent. »Steve und Paul hatten sie immer ernst genommen. Sie waren die Arbeiter. John entwickelte eine echte Antipathie gegenüber Sid. Er wollte die Welt verändern. Dazu fühlte er sich berufen. Ich glaube nicht, dass das von Anfang an so war. Da war es ein Scherz, aber ihm gefiel die Macht, die er bekommen hatte.« Wegen des gescheiterten Filmprojekts versuchten Glitterbest und Cowbell, eine Tour zusammenzustellen, um Kapital aus dem weltweiten Interesse zu schlagen. Holland sollte nur der Anfang sein: Ende Dezember sollte es weiter nach Amerika gehen, von dort nach Finnland, Schweden, Deutschland, Frankreich, Jugoslawien und Spanien, bevor sie im März nach England zurückkehrten, um notfalls in einem Zirkuszelt zu spielen. Es gab sogar die Idee, nach Russland zu fahren. Die Pläne blieben im Chaos stecken. McLarens Hervorkehren seiner machiavellistischen Eigenschaften verdunkelt im nachhinein die ungeheuren Vorurteile, die sich gegen die Gruppe richteten. Aus Angst vor »ungünstiger Publicity wegen des bekanntermaßen schlechten Rufs der Sex Pistols«, wie es ein Veranstalter formulierte, lehnten es die angefragten Gemeinden und Freizeitunternehmer ab, Konzerte zu veranstalten. Eine »Never Mind the Bans«-Tour wurde nach der Rückkehr der Band aus Holland rasch in den Städten organisiert, die den Sex Pistols gestatteten, unter ihrem Namen aufzutreten. Jamie Reid verwendete die Ablehnungsbriefe für das Poster, ebenso die Daten der acht bestätigten Konzerte und die Petitionen, die von Fans organisiert worden waren, um die örtlichen Gemeinderäte unter Druck zu setzen. Nach der Tour sollte die Gruppe nach Amerika fliegen, um am 30. Dezember in Pittsburgh aufzutreten. Nichts davon verlief wie erwartet. Die Holland-Tour war schon miserabel gewesen, aber der erste Abend der englischen Tour war schlimmer. Die Sex Pistols sollten in der Sporthalle der Brunel University in Uxbridge spielen, der erste Londoner Auftritt der Sex Pistols seit April. Für viele sah es so aus, als wären sie zugrunde gegangen und als Zombies wieder auferstanden.
»Als sie spielten, tobte der ganze Saal. Es gab eine Menge Gewalt im Publikum«, sagt Dennis Morris, »und sie richtete sich gegen die Band.«
»Es war ein Fiasko«, sagt John Lydon. »Wir standen in dieser großen Halle, die aus allen Nähten platzte. Eigentlich wusste niemand, warum er gekommen war, am wenigsten wir. Ich war sehr verwirrt wegen der Popularität, die wir besaßen. Ich dachte: ›Das ist schrecklich, so sollte es nicht sein.‹ Wir wussten nicht, wie wir uns über die ersten zwanzig Reihen hinaus Gehör verschaffen sollten.«
John Lydon, Steve Jones, Sid Vicious, Paul Cook als Charakterdarsteller, Holland, Dezember 1977 (© Syndication International)
Von den acht Terminen fielen Wolverhampton, Birkenhead, Bristol und Rochdale wegen Krankheit aus oder wurden auf Druck der Polizei von den Gemeinderäten abgesagt. Die übrigen Konzerte wie das im Links Pavillon in Cromer am 24. Dezember waren gekennzeichnet von einer Atmosphäre, in der sich Erleichterung, Erschöpfung und vorübergehende Ausgelassenheit mischten. Die Partystimmung hielt bis zum ersten Weihnachtsfeiertag an, als die Gruppe im Invanhoes Club in Huddersfield spielte. Als Zugabe zum Abendkonzert gaben die Sex Pistols – Ausgestoßene vor Ausgestoßenen – eine Nachmittagsparty für 500 Kinder unter vierzehn Jahren, für die Söhne und Töchter streikender Feuerwehrleute und entlassener Arbeiter. Ein seltener Moment der Solidarität, wobei die Sex Pistols enormen Eindruck bei der örtlichen Gemeinde hinterließen.
Fern von London war Lydon entspannter und in der Lage, sich über sich selbst lustig zu machen. Während der Kindervorstellung sprang er mit dem Kopf voran in einen Kuchen und inszenierte eine Tortenschlacht. Sid Vicious sang »Chinese Rocks« und »Born to Lose« von den Heartbreakers: Er war weniger glücklich über das Publikum. »Er kam einfach nicht mit ihnen klar«, sagt Jamie Reid, »seine Persönlichkeit funktionierte nicht bei Kindern, die ihn für einen Trottel hielten.« In den Jahresrückblicken der gesamten Fleet Street und der Musikpresse, für deren Auflagensteigerung sie so viel getan hatten, wurden die Sex Pistols erwähnt. Vogue präsentierte John Lydon als »Erfolgsmann des Jahres«, während der Investors Chronicle die Gruppe als »Jungunternehmer des Jahres« auf dem Cover abbildete: »Sie haben die Geschäftsprinzipien mit Sicherheit verstanden. Insgesamt 115.000 Pfund erhielten sie von den Firmen EMI und A&M Records.«
1977 war ein Jahr des Grauens: Grunwick, Mogadischu, Stammheim, Lewisham. Das Jubiläum erschien darin wie ein jämmerlicher Fetzen Festschmuck, der mitten in dieser apokalyptischen Szenen hängengeblieben war. Die Sex Pistols waren ein Symbol für dieses Jahr: Johnny Rottens Gesicht war ein archetypisches Bild, das immer wieder neben Fotos von Margaret Thatcher, dem Polizisten in Lewisham und der brennenden 747 abgebildet, oder wie auf dem Cover von Dennis Brownes Datsun, neben L.R. Hubbard, Gudrun Ensslin und Elisabeth II. gesetzt wurde.
Am 29. Dezember wurden sie in einen weiteren Skandal auf den Titelseiten verwickelt. An dem Tag, an dem sie nach Amerika fliegen sollten, weigerte sich die US-Botschaft, ihnen Visa zu erteilen. Der Grund: die Vorstrafen, die zwar zahlreich, aber unbedeutend waren. Steve Jones war dreizehn Mal wegen Diebstahl, Einbruch und Hausfriedensbruch, Paul Cook wegen Diebstahl und Sid Vicious wegen Handgreiflichkeiten verurteilt worden. Am schwerwiegendsten aus amerikanischer Sicht war John Lydons Amphetaminmissbrauch. Der Anwalt der Warner Brothers, Ted Jaffe, wurde eingeschaltet. Zwei Tage später erhielten die Sex Pistols die Einreiseerlaubnis vom State Department, aber nur unter der Bedingung, dass Warner mit einer Million Dollar für die Gruppe bürgte. Die Verzögerung bedeutete jedoch, dass ein Teil der nördlichen Tour ins Wasser fiel. Sie flogen direkt nach Atlanta in Georgia, dem Heimatstaat von Präsident Carter. Es sollte die größte Probe werden, auf die die Sex Pistols gestellt wurden, und alle Beteiligten blickten ihr mit gemischten Gefühlen entgegen. »Alle wussten, dass sich etwas Schreckliches zusammenbraute«, sagt Jamie Reid. »Malcolm wollte nicht mitkommen, aber Sophie sagte ihm, dass er sich der Verantwortung stellen müsse.«
»John hatte ein Problem mit Malcolm und dem Rest der Gruppe«, sagt Julien Temple, »aber als ich ihn vor der Abreise sah, dachte er noch immer, er würde Amerika erobern.«
Aus einem Kalender der Weirdos, Los Angeles, 1978 (© Jon Savage Archiv)