Am 3. Januar 1978 trafen die Sex Pistols in New York ein, wie Leute von einem anderen Stern. Fremde in einem fremden Land, befanden sie sich in einer widersprüchlichen Situation. Obwohl sie keinen großen Hit hatten, kamen sie nicht als underdogs, sondern als internationale Berühmtheiten und mit Unterstützung durch eines der wichtigsten amerikanischen Label. Für Warner Brothers waren die Sex Pistols künftige Rockstars, eine Position, die sie in England noch nicht erreicht hatten, weil dort ihre Handlungsfreiheit eingeschränkt wurde.
Die Tour war kurzfristig arrangiert worden und McLarens Verhandlungen mit Warner Brothers waren zäh gewesen. Seine Sicht auf die amerikanische Musikindustrie hatte sich in den sechs Monaten mit den New York Dolls herausgebildet, als er Außenseiter war. Damals hatte er Los Angeles und ganz besonders New York, die inzestuöse Hauptstadt der Musik- und Medienindustrie, hassen gelernt. Am liebsten hätte er diese Zentren vermieden. Die Sex Pistols sollten in den tiefsten Süden, den McLaren Anfang 1975 so romantisch gefunden hatte. Dort würden sie vor »echten Leuten« spielen und eine Situation vorfinden, die neue Auseinandersetzungen garantieren würde. Sowohl die Gruppe als auch die Presse, die über die Tour berichtete, würden so mit dem wahren Amerika – und nicht mit der Blasiertheit der Küstenstädte – konfrontiert werden.
Es war eine weltfremde und idealistische, aber auch glänzende Idee, wie sie für McLaren typisch war, aber sie konnte weder die Gruppe noch die Vertreter von Warner Brothers überzeugen. Bob Regehr wusste, wie man Rockgruppen in den Vereinigten Staaten bekannt machte, und er wusste, dass es so nicht ging. Dennoch schaffte es McLaren, Warners zu überreden und dem Plan zuzustimmen. Er bekam von ihnen Rückflugtickets, mit denen sie jeden Zielort ihrer Wahl erreichen konnten. Da die Gruppe nur ein zweiwöchiges Visum hatte, kam Warners dem Wunsch gerne nach.
McLaren unterschätzte jedoch auch die Plattenfirma: Warners waren nicht EMI oder Virgin, höfliche Spieler auf einem kleinen Markt, sondern sie hatten Einfluss auf die größte, »härteste und korrupteste Musikindustrie der Welt.« Warners hatte Zeit und eine Menge Geld investiert, damit die Sex Pistols ins Land kamen, und mit einer Bürgschaft von einer Million Dollar würden sich die Sex Pistols »verdammt noch mal benehmen«. »Warners waren sehr besorgt wegen der Bürgschaft«, sagt Tiberi. »Sie nahmen die Sache ab der Minute in die Hand, in der wir ankamen. Kaum hatten wir das Flugzeug verlassen und waren wie normale Leute durch die Einreiseschalter gegangen, hatten wir den Spürhund Noel Monk am Hals.«
»Der Typ, den Warners anschleppte«, sagt Rory Johnston, »war ein bisschen streng, aber er hatte auch einen harten Job. Wir hatten ein schwieriges Programm vor uns, tourten im Süden, die Publicity, das Problem mit Sid, der völlig außer Kontrolle geriet. Jeder hasste jeden und Malcolm, der drei Tage später eintraf, machte seine Autorität bei der Band nicht wirklich geltend.«
Am 5. Januar traten die Sex Pistols mit einem Flug nach Atlanta ihre Reise ans Ende der Nacht an. Die Tour schien von jemandem geplant worden zu sein, der keine Vorstellung von den Entfernungen in Amerika hatte. Innerhalb der nächsten neun Tage musste die Gruppe mitten im harten Winter kreuz und quer durch sechs Staaten reisen, begleitet von einem Pressezirkus aus Amerika und der Fleet Street, von verschiedenen Ortssheriffs, die durch die Skandal-Presse alarmiert worden waren.
Die erste Show in der Great South East Music Hall in Atlanta fand in einem Einkaufszentrum statt. Es war kein Konzert, sondern eine Prüfung. »Never Mind the Bollocks« blieb auf Nummer 108 der Billboard Charts stecken, aber das war die kleinste Sorge der Gruppe. Die fünfhundert Zuschauer gingen in der Horde von Journalisten, Fernsehteams und Angehörigen der Sittenpolizei von Atlanta und Memphis völlig unter. Niemand wusste, was man zu erwarten hatte, obwohl alle mit dem Schlimmsten rechneten. Und das Schlimmste trat ein, aber nicht so, wie sie es erwarteten.
Die Sex Pistols spielten miserabel. Die Gitarre von Steve Jones war verstimmt, der Rhythmus daneben und John Lydons Stimme klang ausdruckslos. »Sind wir nicht das Schlechteste, was ihr je gesehen habt?«, fragte John Lydon das Publikum. »Ihr könnt jetzt aufhören, uns anzustarren.« Die Show wurde allgemein als arge Enttäuschung empfunden, und dann verschwand auch noch Sid Vicious. »Er verschwand, ohne sich abzumelden, weil er ein Gefühl für Amerika bekommen wollte«, sagt Tiberi. »Er traf ein paar Fans, die direkt aus Ziggy Stardust zu stammen schienen. Er kam erst am Morgen wieder zurück.«
Vor der Abreise der Gruppe war Sid heroinabhängig. In Amerika vom gewohnten Nachschub abgeschnitten litt er unter Entzug und war verzweifelt. Er musste vierundzwanzig Stunden am Tag beobachtet werden, denn die Sittenpolizei wartete nur darauf, zuzuschlagen. Tiberi lehnte den Job ab: »Sid hatte sein Privatleben, es konnte nicht darum gehen, dass ich ihm den Pimmel beim Pinkeln halte und hinterher wieder wegpacke.«
Am nächsten Tag flogen die Sex Pistols nach Memphis. Unterwegs wurde das Flugzeug vom Blitz getroffen. Einige deuteten das als apokalyptisches Zeichen – die Tour entwickelte bereits ihre eigene Mythologie – und meinten, in Zukunft besser mit dem Bus zu fahren. Nachdem sie im Holiday Inn angekommen waren, verschwand Sid erneut auf der Suche nach Drogen. Als er schließlich stoned am Pool entlang spazierend gefunden wurde, bekam er die erste Abreibung von Warners Sicherheitsleuten verpasst. Und es war nicht die letzte.
»Die Sicherheitsleute ließen sich von Sid keinen Scheiß gefallen«, sagt Joe Stevens, der für den NME über die Tour berichtete. »Er war für sie ein Nichts, auch wenn sie bezahlt wurden, dass sie auf ihn aufpassten. Er versuchte, aus seiner Koje zu entkommen, aber sie stießen ihn wieder hinein. Wenn er anfing, Sachen zu klauen, verprügelten sie ihn, aber nicht so, dass er nicht mehr hätte arbeiten können. John war in einem elenden Zustand: Das erste Mal in den USA und dann in einem Bus mit Sid und diesen bewaffneten Hippies.«
Die Atmosphäre, die bereits schlecht war, wurde immer schlechter. »Die Amerika-Tour war so mit Paranoia befrachtet«, sagt Paul Cook.
»Malcolm war keine Hilfe. Er meinte nur, dass wir vorsichtig sein müssten. Manchmal waren da Polizisten mit Knarren, die am Bühnenrand standen, während wir spielten, zwei auf jeder Seite. Ich hatte das Gefühl, dass jederzeit jemand umgebracht werden könnte. Und dann war da diese blöde Filmcrew, die uns hinterherfuhr. Es gab jede Menge Irre, die nur darauf warteten, sich an einen von uns zu hängen.«
Vor allem eine Person wirkte wie die personifizierte Stimmung der Tour: der schwarz-gekleidete Herausgeber von High Times, Tom Forcade, der uneingeladen mitfuhr. Ein früherer Yippie, der sich mit einer verschwörerischen Aura umgab. »Er kam mit, um den Film ›DOA‹ zu machen«, erzählt John Holmstrom. »Er hatte mit Lech Kowalski darüber geredet, ob man nicht einen Film über die Tour drehen sollte. Eine Stunde später saßen sie in einem Hubschrauber. So ging Tom die Dinge an. Tom hatte gesehen, wie Sid Vicious am Abend vorher von den Bodyguards verprügelt wurde, also wollte er ihnen ein paar Fahrradketten besorgen, damit die Sex Pistols ihren Bodyguards entkommen könnten. Er hatte das Gefühl, mit ihnen auf einer politischen Wellenlänge zu liegen. Tom war einer der ersten Yippies, er, Abbie Hoffman und Jerry Rubin. Er stand auf MC5: High Times hatte den Namen von einem MC5-Album. Tom dachte, wenn das die neue Jugendbewegung ist, dann wollte er dazugehören. Ich bin in Memphis zur Tour gestoßen. Das FBI war angeblich da, aber ich glaube, einige hielten Forcade für das FBI. Die Pistols mochten ihn nicht. Forcade war sehr paranoid. Eine Menge übler Gerüchte gingen rum über Tom, auch dass er beim CIA war. Aber das war er nicht. Tom war kein netter Kerl, aber er hatte gute Motive.«
»Als ich in Memphis ankam«, sagt Joe Stevens, »redete die Band nicht miteinander. Jones und Cook hingen zusammen rum: sie spielten Bowling. Rotten wollte nichts mit McLaren zu tun haben. Und Sid war in der Lobby auf Cold Turkey.«
Am 7. Januar trat die Gruppe und ihr Gefolge die Reise von Memphis, Tennessee nach San Antonio in Texas an, eine Arbeiterstadt im Süden. »Es war unmöglich, ein Interview mit den Pistols zu bekommen«, sagt Holmstrom, »aber Roberta Bayley kannte Malcolm und wir aßen zusammen. Malcolm erklärte uns seine Pläne für die Tour. Ich stellte Fragen wie: ›Warum tourt ihr im Süden, warum nicht im Norden?‹ Malcolm und Tom müssen eine Menge gemeinsam haben. Er sprach davon, eine Umgebung schaffen zu wollen, in der die Philosophie der Sex Pistols gedeihen könnte. Er wusste, dass sie im Süden ein rowdyhaftes Publikum erwarten würde und dass es vielleicht ein gewalttätiges Ereignis geben könnte, durch die die Band Presse bekäme.« »Die Show in San Antonio war eine der besten Rock’n’Roll-Shows, die ich je gesehen habe«, sagt Joe Stevens. »Es gab Gewalt, gute Musik, phantastisch. Rotten war in Topform, die Jungs ließen es raus, und die Kids sind völlig durchgedreht. In England hatte ich Sid nie mit den Pistols spielen sehen, hier hatte er einen Teil der Bühne für sich, wo er herumtoben und mit Sachen werfen konnte. Rotten war es gewohnt, dass die Kameras auf ihn gerichtet waren, und kriegte nun mit, dass sie auf Sid schwenkten. Sid stahl ihm die Show.«
Die Musik der Sex Pistols war um die Gitarre und das Schlagzeug herumstrukturiert, so dass die Experimente von Sid Vicious am Bass keinen großen Unterschied machten. Die ganze Zeit über konzentrierten sich Cook und Jones auf den Job, den sie zu erledigen hatten. Die größte Veränderung fand bei den anderen beiden statt. Lydon rannte gegen eine Wand: Auf dem Filmmaterial der Tour führt er eine faszinierende klaustrophobische Pantomime auf. Merkwürdig nach innen gekehrt, scheinen diese Gesten zu schreien: »lasst mich hier raus!«
Sid war ebenfalls schon viele Male gegen eine Wand gelaufen und hatte sich auf der Suche nach Mehr immer wieder aufgerappelt. Amerika ist ein Land, das auf laute, einfache Ausdrucksformen reagiert: Cook und Jones hatten normale Namen und hielten sich raus. Rotten war verdorben und sarkastisch, schwankte zwischen Rückzug und einer aufblitzenden Selbstherrlichkeit. Übrig blieb Sid Vicious mit einem brutalen, cartoonartigen Namen, dem er entschlossen gerecht zu werden versuchte. Anders als die anderen, war er bereit, bis zum Äußersten zu gehen.
»Sie rissen sich bei den ersten beiden Shows ziemlich zusammen«, sagt John Holmstrom. »Als sie San Antonio erreicht hatten, waren eine Menge Leute von der Tour abgesprungen, und danach waren sie wieder sie selbst.« Der Veranstaltungsort war Randy’s Rodeo, eine großer Tanzsaal, der an diesem Abend ungefähr 2.200 texanische Rowdies anzog. Die Bühnendekoration war minimal: Reines weißes Licht – Scheinwerfer aufs Kriegsgebiet. Sobald die Gruppe auf die Bühne kam, wurden sie vom Publikum beworfen.
»Sie warfen mit allem, was sie in die Hände bekamen«, sagt Rory Johnston. »Hot Dogs, Popcorn, Bierdosen. Das Publikum prügelte sich untereinander, Indianer und Mexikaner prügelten sich mit den Cowboys. Eine Flasche Jack Daniels fliegt auf einen kleinen Sheriff zu, der da mit seinen Knarren steht, und trifft ihn am Kopf. Er taumelt zurück, und ich sehe, wie er nach seinen Knarren greift. Ich dachte: ›Scheiße, der erschießt jemanden!‹«
Sex Pistols, San Antonio, 8. Januar 1978 (© Joe Stevens)
Es war eine Konfrontation und das Drehbuch dazu hatte Roger Ebert für den Film »Anarchy in the UK« längst geschrieben. Lydon trug mit dem Sex Cowboys T-Shirt das seine dazu bei, und Sid schloss den Kreis: »Ihr Cowboys seid alle ein Haufen beschissener Schwuchteln!« Das Publikum tobte. Als ein junger Texaner seiner Mißbilligung physisch Ausdruck verlieh, zog ihm Vicious seinen Bass über den Schädel. Dann war die Hölle los: die Lichter gingen aus und die Show musste für mehrere Minuten unterbrochen werden.
»Es war sehr feindselig«, sagt John Holmstrom, »aber wenn man haben wollte, was Punkrock angeblich sein sollte, dann war das die ultimative Show. Der Zwischenfall mit dem Bass ereignete sich ziemlich früh. Das Publikum schien bereit zu sein, die Sex Pistols zu töten, sobald sie rauskamen. Es war einer der Orte, die Malcolm auf seiner Liste hatte, weil er hoffte, dass es einen Vorfall wie diesen geben würde. Sie warfen volle Bierdosen auf die Pistols. Sid forderte das Publikum auf, noch mehr zu werfen. Johnny bekam einen Kuchen ins Gesicht. Nach der Show konnte man vor lauter Bierdosen die Bühne nicht mehr sehen. Ich habe noch nie so eine Schweinerei gesehen, und die Pistols liebten es. Sie sprachen zum ersten Mal mit der Presse. Am nächsten Tag gab es eine tolle Schlagzeile: ›Pistols gewinnen das Duell in San Antonio‹. Genauso war es gewesen.«
Am Tag darauf ging es gleich zum nächsten Konzert im Kingfish Ballroom in Baton Rouge Louisiana. Ihre Ankunft wurde vom überregionalen Fernsehen Variety 77 angekündigt. Für Sid Vicious war San Antonio die Legitimation seiner Haltung gewesen. Er war der einzige, der den Cowboys die Stirn geboten hatte. Die Spirale, die mit seinem Tod enden würde, hatte begonnen. »Ich saß beim Soundcheck bei ihm«, erzählt Roberta Bayley. »Er sagte: ›Ich will wie Iggy Pop sein und sterben, bevor ich dreißig bin‹, und ich sagte: ›Sid, Iggy ist über dreißig, und er lebt immer noch. Da hast du was falsch verstanden.‹«
»Sid verliebte sich in sein Ego, und das war sein Ende«, sagt John Lydon. »Ich habe verzweifelt versucht, ihn von den Drogen fernzuhalten: Er war ständig drauf. Die Tour selbst war sehr sehr schlecht. Ich hatte niemand zum Reden, wurde ignoriert, saß in Hotelzimmern fest, es gab keinen Ort, wo man hingehen konnte, und nichts zu tun. Es war sehr sehr langweilig.« Jones und Cook hatten sich gegenseitig und verstanden sich mit McLaren. Lydons einziger Freund war Vicious, und je mehr sich Lydon zurückzog, desto mehr drängte sich Vicious ins Rampenlicht. Je mehr Rampenlicht Sid bekam, desto unkontrollierbarer wurde er. Lydon wiederum war damit beschäftigt, die Erwartungen der Zuschauer zu torpedieren. Er begann, das amerikanische Publikum zu verwirren, indem er sich weigerte, dem brutalen Image zu entsprechen. Aber auch wenn er nicht bereit war, der Erwartung zu entsprechen, Sid war es.
Als sie das Gegenstände schmeißende Publikum aufforderten, sich mit »Geschenken« nicht zurückzuhalten, warf das Publikum Geld. Während des Sets hatte Sid Sex mit einer Blondine, die auf die Bühne kam. Lydon und Vicious sammelten über fünfzehn Dollar ein: nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass ihre Tagesgage 25 Dollar pro Nase betrug.
Nach dem Konzert hatte Jones die Nase voll und lehnte es kategorisch ab, mit der Gruppe weiter im Bus zu fahren. »John und Sid waren immer die auffälligsten«, sagt Paul Cook, »also bekamen sie auch die meiste Aufmerksamkeit. Um sie kümmerte man sich am meisten. Wir konnten diese Vietnamveteranen nicht leiden, die als Aufpasser engagiert waren, und Sid machte alle wahnsinnig. Also reisten Steve und ich mit dem Flugzeug, sonst hätten wir zehn Stunden am Stück im Bus fahren müssen.«
Beim Soundcheck in Dallas versuchte Lydon, die Gruppe dazu zu bringen, einen neuen Song zu proben. »Wir hatten einige heftige Streits«, sagt Lydon. »Ich schrieb ›Religion‹ auf der Tour, und Malcolm sagte: ›Oh nein, das ist schlecht fürs Image, das kann man nicht machen.‹ Ich wollte weg von dem Dreiakkorde-Rock’n’Roll hin zu etwas Raffinierterem. Aber die anderen wollten, was Malcolm wollte. Er machte auf, ›Eeey, wir sind doch alle Kumpel, und der ist der Außenseiter.‹«
Sid Vicious und Glenn Allison, Atlanta, 9. Januar 1978 (© Bob Gruen)
Im Longhorn Ballroom in Dallas (eine ehemalige Oben-ohne-Bar, die früher dem Mörder von Lee Harvey Oswald, Jack Ruby gehörte hatte) ging Sid mit der Botschaft »Gimme A Fix« auf die Bühne, die er mit Magicmarker auf seine nackte Brust gekritzelt hatte. Während des Auftritts rissen ihm drei Basssaiten. Seine Mätzchen dominierten jetzt die Gruppe. Mit dem Vorsatz, Chaos zu stiften, waren Punks sogar aus Los Angeles gekommen: Als eine von ihnen, Helen Killer, Vicious mit dem Kopf gegen die Nase schlug, ließ er das Blut quasi als Kriegsbemalung einfach über Gesicht und Brust laufen. Als es getrocknet war, zerbrach er eine Bierflasche und schnitt sich die Brust auf. »Während dieses Theaters spielte er natürlich nicht viel«, sagt Gruen. »Also rief die Band, ›Hey Sid!‹, aber es half nichts. Als sich die Zeit zwischen den Nummern minutenlang hinzog, zischte Lydon verächtlich: ›Guckt euch das an: ein lebender Zirkus.‹«
»Das ganze war einfach bizarr«, sagt Bayley. »Sie hatten keinen Schutz. Ich glaube nicht, dass außer John einer von ihnen intellektuell in der Lage war, die Sache so zu betrachten wie Malcolm. Malcolm interessierte sich einen Scheißdreck für sie. Er hatte sie abgeschrieben. Sie verursachten nicht den Skandal, den er gewollt hatte. Die Medien schrieben immer noch diese spöttelnden ›Punkrock kommt in die Stadt‹-Artikel. Amerika ist ein großes Land, und es ist nicht einfach, dort Eindruck zu schinden.«
Am 11. Januar traf sich die Gruppe in Tulsa zum vorletzten Termin der Tour. Tulsa liegt mitten in den amerikanischen Badlands, eine hoch religiöse, trockene (alkoholfreie) Stadt am südlichen Rand der Great Plains. Cain’s Ballroom war der perfekte Ort für den Nihilismus der Sex Pistols: ein zerfallener Tanzsaal mit 600 Sitzplätzen, die Wände behangen mit vergilbten Porträts von Country-Typen wie Hank Williams, Tex Ritter und Bob Wills. Die Gruppe ging um 23 Uhr auf die Bühne. Sie spielten ohne größere Krawalle, aber trotz der Begeisterung des Publikums schwebte über dem Konzert ein Hauch von Lynchjustiz. Ein Baptisten-Pfarrer hatte vor dem Eingang Stimmung gemacht: »In jedem von uns steckt ein Johnny Rotten. Er muss nicht befreit, sondern gekreuzigt werden.«
Nach dem Konzert sah sich die Gruppe drei Tage lang kaum: ihr nächster Auftritt war in San Francisco. Als die Leute, die mit McLaren reisten, am 13. Januar im MiYako Hotel in San Francisco eincheckten, hatten sie bereits Hausverbot bei der Holiday-Inn Hotelkette und die American Airlines wollte sie auch nicht mehr mitfliegen lassen. An diesem Tag erhielten sie die Nachricht, dass sie in Finnland, wo sie am 18. Januar in der Worker’s Hall in Helsinki hätten spielen sollen, unerwünscht waren.
Sid Vicious und Helen Killer, Dallas, 10. Januar 1978 (© Bob Gruen)
Die Vereinbarungen für den Besuch der Sex Pistols in Finnland waren ohne großen Wirbel im Dezember getroffen worden. Am 3. Januar erschien im Helsingin Sanomat ein sehr feindseliger Artikel, in dem empört darauf hingewiesen wurde, dass jedes Bandmitglied wegen Drogenbesitzes und Schlägereien vor Gericht gestanden hatte, dass sie sich Sicherheitsnadeln in die Wangen bohrten, dass ihr wichtigstes Instrument ein mechanischer Verzerrer sei, der einen Sound produziere, der wie hingerotzt klinge, und dass den finnischen Kindern Geld für den »Sound krächzender Krähen« Geld abgeknöpft werden würde.
Wie in Großbritannien stachelte die Boulevardpresse zur landesweiten Entrüstung auf. Jugendorganisationen aus dem gesamten politischen Spektrum versuchten, gegen die Sex Pistols mobil zu machen. Am 5. Januar befand sich die Arbeitserlaubnis der Sex Pistols in der Schwebe. Je mehr in der Presse stand, desto unbeliebter wurden die Sex Pistols bei der Bevölkerung. Schließlich wurde das Konzert abgesagt. Daran entzündete sich eine heftige, landesweite Debatte über Diskriminierung, aber da war es zu spät, um die Tour noch zu retten.
Am 19. Januar sollten die Sex Pistols in Stockholm sein. Dadurch entstand plötzlich eine Lücke von fünf Tagen. »Warners hatten sich verpflichtet, die Gruppe zu einem Zielort ihrer Wahl zu bringen«, sagt Joe Stevens, »daher mussten sie es auch bezahlen, als McLaren den Geistesblitz hatte und meinte: ›Warum fliegen wir nicht nach Rio?‹ McLaren hatte eine schlimme Erkältung. Also sprach ich mit Biggs in Rio: Wir organisierten ein Hotel, in dem die Gruppe in der Lobby spielen konnte.«
Ronnie Biggs hatte nur einen kleineren Part bei dem berüchtigten großen Postraub im August 1963 gespielt, war aber nach einer Reihe von Eskapaden zum Volkshelden geworden. Im November 1974 wurde er verhaftet und entging nur knapp seiner Auslieferung an das Vereinigte Königreich. »Er ist ein ganz gewöhnlicher Typ aus Südlondon, der in etwas reingeraten ist und die ganze Publicity bekam«, sagt Paul Cook, »weil er davongekommen ist. Er stand im Scheinwerferlicht und die Briten lieben solche Leute.« Lydon nicht.
Der 13. Januar wurde mit Vorbereitungen des Konzerts im Winterland verbracht, einer riesigen röhrenförmigen Scheune, geführt von Bill Graham, dem legendären Unternehmer, der den Kopf behielt, während 1967 alle um ihn herum den Kopf verloren, und der jetzt die Live-Musik in San Francisco vollständig in seiner Hand hatte. Er hasste Velvet Underground und konnte Malcolm McLaren nicht leiden. Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Sie stritten sich über alle möglichen Aspekte der ausverkauften Show. Graham setzte sich durch: Es sollten zunächst Filme über die führenden Punkbands der Bay Area gezeigt werden, bis die Sex Pistols um Mitternacht die Bühne betreten würden, wobei der Zeitpunkt mit dem örtlichen Radiosender K-SAN FM abgestimmt war, der die Show live übertragen wollte.
Sid Vicious und John Lydon kamen am 14. Januar frühzeitig in San Francisco an. Nach einem Ausflug in einen Sexshop, wo beide Lederkleidung und Nieten-Zubehör kauften, gaben sie K-SAN ein Interview. Im Vergleich zu dem knallharten Interview, das Cook und Jones am Tag vorher gegeben hatten, waren die beiden Busreisenden zurückhaltend, und besonders Lydon meinte es ernst. »Ich mag Rock Musik nicht, und ich weiß nicht, warum ich überhaupt noch mitmache«, sagte er. »Ich will einfach nur alles zerstören.«
Keiner von beiden checkte mit den anderen im MiYako-Hotel ein. Für die Bodyguards war der Job erledigt. Sid Vicious zog mit ein paar Punkmädchen aus der Stadt los. »Warner Brothers wussten, dass es der letzte Gig war, und ließen ihn gewähren«, sagt Joe Stevens, »sie ließen Sid einfach mit diesen Mädchen nach Haight Ashbury gehen. Sid war während des Auftritts völlig hinüber: Es war der erste Mal, dass er bei einem Auftritt auf Heroin war.« Lydon hatte inzwischen genügend Zeit zum Nachdenken gehabt. »Sid und John kamen zum Soundcheck«, sagt Tiberi. »Ich glaube nicht, dass sie da schon ein anderes Hotel gebucht hatten. Es war der größte Gig, den sie je gespielt hatten. Mr Warner Brothers, Bob Regehr, kam vorbei und redete mit Malcolm, eine enge Rock’n’Roll-Beziehung. Wo sich Rotten aufhielt war kein Thema. Niemand kümmerte sich darum.«
Bis San Francisco war die Tour ein ziemlich großer Erfolg. Es hatte keine Verhaftungen und keine Toten gegeben. Obwohl das Album in den Billboard Charts abfiel, waren die Erwartungen noch immer hoch:
»Wir waren ursprünglich für einen Saal mit 500 Plätzen gebucht gewesen«, erzählt Paul Cook, »aber wegen der ganzen Publicity wurde das Winterland für fünftausend Leute organisiert. Uns war das fremd, weil wir noch nie in einem so großen Raum gespielt hatten.« Es war der große Test, nicht nur für die Sex Pistols, sondern für die ganze Punkbewegung.
»Es war merkwürdig«, sagt Legs McNeil. »Ich hing gerade mit den Ramones in L.A. rum und beobachtete während der Sex Pistols-Tour, wie sich immer mehr Kids die Köpfe schoren. Das Publikum hat sich über Nacht verändert. Die Kids hatten es aus dem Fernsehen, wo Telly Savalas bei irgendeiner Preisverleihungsshow alle fünf Minuten auf ›die phantastischen Sex Pistols‹ hinwies. Mit ›Rocket to Russia‹ sah es bei den Ramones so aus, als würden sie richtig abgehen, aber dann kamen die Sex Pistols und haben die Ramones ruiniert.«
»Wir wussten, dass Lydon versuchen würde, sich über San Francisco lustig zu machen«, sagt Vale, »dass er die Stadt im übertragenen Sinne, wenn nicht sogar buchstäblich bespucken würde. Wir wussten, dass er nicht gekommen war, um Süßholz zu raspeln, sondern um zu zerstören. Das Winterland war das Setting für dieses Psychodrama, ein riesiger höhlenartiger Saal, eine ehemalige Eishalle, das genaue Gegenteil der Intimität von Punk, wie wir sie kannten. In San Francisco hatte es nur ein Jahr lang Punk gegeben, und das in einem übersichtlichen, sehr persönlichen Rahmen. Das war eine vollkommen andere, entfremdete Situation, genau das also, was die Sex Pistols kritisierten: ein Spektakel. Ich weiß nicht, ob man Erwartungen abwehren kann, indem man sich als Band auf eine Bühne drei Meter über das Publikum stellt, mit Saalordnern, bulligen Gestalten, die angeheuert wurden, um Leute davon abzuhalten, die Bühne zu entern. Bislang konnte jeder jederzeit auf die Bühne. Im Winterland jedoch herrschte eine Polizeistaats-Atmosphäre.«
Der Abend wurde von den Nuns und den Avengers eröffnet. Dann wurde der Film »Sex Pistols Number 1« gezeigt. Als schließlich die Sex Pistols dran waren, hatten Erwartungen und Frustration den Siedepunkt erreicht. Die Sex Pistols betraten die Bühne, sahen ihre Zukunft und hassten sie.
»Was die Sache in Amerika wirklich an den Arsch gebracht hat, war, dass sie uns wie Rockstars behandelten«, sagt Steve Jones. »Sie kennen nichts anderes. Sie behandeln jeden, der rüberkommt auf die gleiche Weise. Im Winterland hatte ich eine Erkältung, Sid spielte nicht einen einzigen Ton, und die meiste Zeit war er nicht mal angeschlossen. Ich und Paul wollten einfach nur spielen. Ich schaltete mich immer wieder aus, links, rechts und in der Mitte rissen Saiten. Und diese ganzen Leute dachten: ›Es ist großartig: was geht hier vor?‹«
»Man konnte überhaupt nichts erkennen«, sagt Vale. »Sie hatten eine schreckliche PA aufgebaut, die dem Konzert überhaupt nicht angemessen war. Der Sound wurde offensichtlich von Technikern dritter Wahl, die Musiker verachteten, gemacht. Für mich klang Lydon wie jemand, der irgendwas mit englischem Akzent schreit, was übrigens für Amerikaner schwer zu verstehen ist. Im Saal befanden sich hauptsächlich Hippies, ein paar hundert Punks standen vorne. Alle, die ich kannte, waren enttäuscht. Die Pistols kamen rüber, aber sie waren schon passé. Es gab natürlich ein paar Hardcore-Punks, deren Einstellung war: ›Wow, unsere Idole sind hier!‹ Aber wir hatten die ganzen Songs gehört und die Interviews gelesen, und es war genau so, wie ich dachte: Ein Zombieauftritt, Leute, die bereits tot waren, waren kurzfristig wiederbelebt worden. Sie waren medienübersättigt, sie hatten keine Botschaft mehr.«
»I just speed: that’s all I need.« Als Basisaussage hatte das den Sex Pistols gute Dienste geleistet. Ihr kollektives Tempo hatte sie trotz der Medien in die Lage versetzt, am Leben zu bleiben. Im Winterland, wo Lydon, wie Greil Marcus schrieb, »sich an seinem Mikrofonständer (festklammerte), als sei er in einem Windkanal gefangen«, drohten die Böen der Erwartung und der Medienpräsenz die Gruppe von der Bühne zu fegen. Cook und Jones spielten um ihr Leben. Jones muss das ganze Gewicht tragen. Vicious befindet sich nicht im Rhythmus, sondern auf einem anderen Planeten. Während ihnen der Sturm um die Ohren braust, kann man hören, wie Lydon das Vertrauen sowohl in die eigene Person als auch in seinen Auftritt verliert.
Die Gruppe verlässt die Bühne, aber das Publikum verlangt eine Zugabe. Die Sex Pistols kommen zurück und spielen »No Fun«. Lydon hat eine Entscheidung getroffen, aber es ist ihm noch nicht bewusst.
Das letzte Gruppenfoto, nach dem Winterland-Konzert, 14. Januar 1978 (© Joe Stevens)
»This is no fun«, sagt er an. Das ist keine Ankündigung eines Songs, sondern ein Statement in eigener Sache. Nach ein paar Strophen verliert Lydon die Stimme. Sie klingt unglaublich tief und gealtert. Er versucht noch, die physische Grenze zu überwinden und sich hinauszukatapulieren, aber es nützt nichts. Er hört plötzlich auf: »Oh Scheiße, warum soll ich überhaupt weitermachen?« Cook und Jones hören nicht auf und halten den Riff. Lydon muss weitermachen. Während der verbleibenden Minuten spricht Lydon nicht zum Publikum, sondern zu sich selbst: »There’s no fun in being alone / this is no fun / It is no fun at all.« Er sitzt auf der Bühne und starrt ausdruckslos in die Menge: Es gibt keinen Auftritt mehr, kein Publikum, keine Sex Pistols.
»Die Show im Winterland war die schlechteste Rock’n’Roll-Show, die ich je gesehen habe«, sagt Legs McNeil. »Der Sound war schrecklich, der Saal war zu groß, niemand hatte Spaß auf der Tour, alle waren vollkommen niedergeschlagen. Man kann den Sex Pistols nicht vorwerfen, dass Malcolm seinen Job getan hat, aber sie haben Punk zerstört. Die Ramones umgab eine mystische Atmosphäre. Sie waren viel smarter, das war nicht ihr Stil. Sie hassten die Sex Pistols. Ich ging Backstage und beobachtete sie. Sid saß da und fragte: ›Wer fickt mich heute abend?‹ Ich war wirklich neidisch, dass sie Sid Beachtung schenkten, aber er war natürlich der Star. Wirklich wunderschöne Teenager ... und Sid sah nicht aus, als wüsste er überhaupt, wie man sie auszieht! Dann waren da Paul und Steve, die fragten: ›Wer hat den Dosenöffner?‹ und dabei aussahen, als hätten sie in einer Tankstelle arbeiten und den Rest ihres Lebens glücklich sein können. Und Annie Leibowitz war da, um ein Foto zu machen. Der Rolling Stone plante eine Story über Punk! Johnny Rotten hatte sich aufs Klo zurückgezogen und benahm sich wie ein Arschloch.«
»Wir konnten nur eine Person Backstage lassen«, sagt John Holmstrom. »Ich habe Legs geschickt, was mir im nachhinein leid tut, weil er wieder zurückkam und sagte: ›Das ist ja vielleicht eine Scheiße da hinten.‹ Niemand kroch ihm in den Arsch und die Sex Pistols schnappten sich die ganzen Mädchen. Hinterher trafen wir Malcolm. Er fing an, darüber zu reden, die Gruppe aufzulösen und dass alles anders war, als er es sich vorgestellt hatte. Er hatte das Interesse verloren, er hatte das Gefühl, sie seien einfach wie Led Zeppelin geworden, eine Gruppe mit einem unkritischen Publikum.«
Irgendwann an diesem langen Tag hatte Lydon seine Entscheidung getroffen. Der offizielle Grund war der Ausflug nach Rio, zu dem er nicht befragt worden war, und den er entschieden ablehnte. »Die Tatsache, dass Rotten nicht mitmachen wollte, war nur noch ein weiterer Grund für McLaren«, sagt Stevens. »Er hatte genug. Er wollte nicht mehr Manager sein. Rotten schnappt sich auf der Party ein Mädchen, nimmt sie mit nach San José ins Hotel und ruft am nächsten Tag an. Ich sage ihm, dass wir tags darauf früh um sieben Uhr mit der Pan Am nach Rio fliegen. Steve, Sophie, ich und Cook fuhren mit dem Taxi zum Flughafen. Wir haben Sid nicht gesehen, wir haben Rotten nicht gesehen, aber wir sahen den Flieger abdüsen. Wir wussten, irgendetwas Fürchterliches würde passieren.«
»Das Problem war, dass wir danach in Schweden touren sollten«, sagt Paul Cook, »und niemand hatte Lust dazu. Es wurde einfach zuviel. Wir wussten nicht, wie lange wir noch so weitermachen konnten. Wir hätten absagen und uns ein paar Monate ausruhen sollen. Das war aber unmöglich. Dann nahm Sid eine Überdosis. Wir hätten unmöglich mit ihm in diesem Zustand touren können.«
»Es war in der Gegend von Haight und Asbury in einem besetzten Haus«, sagt Tiberi. »Er lag auf einer Matratze und lief blau an. Ich hob ihn auf und lief mit ihm herum. Wir fuhren ihn zu einem alternativen Arzt in Marin County, der ihn akupunktierte. Das war am Morgen. Als ich wieder ins Hotel kam, war Rotten eingetroffen, und als ich wieder zum Arzt fuhr, um Sid abzuholen, sah er aus, als wäre er nie bei den Sex Pistols gewesen. Plötzlich lastete das ganze Gewicht auf ihm.«
In der Nacht zuvor waren Johnston und Tiberi nach San José gefahren, um ihn zu überreden, mit nach Rio zu fahren. Lydon behauptete, niemals gefragt worden zu sein. Um fünf Uhr an jenem Morgen rief Sid Lydon an. Seine Botschaft war »unzusammenhängend«, aber schlicht genug: die Gruppe widerte ihn an, und ganz besonders sein alter Freund.
»Malcolm ließ zu, dass sich Rotten in diesem kritischen Moment völlig allein gelassen fühlte«, sagt Rory Johnston. »Das wäre nicht nötig gewesen. Obwohl Rotten ihn nicht ausstehen konnte, hätte er vorbeikommen können. Er fühlte sich einfach im Stich gelassen und Malcolm arrangierte Rottens Entlassung. Jones und Cook sollten ihm mitteilen, dass er gefeuert sei. Auch wenn Sid nicht in der Lage war, weiterzumachen, hätte er wenigstens die anderen zusammenhalten sollen. Aber das einzige, wofür sich Malcolm interessierte, war der Film, Brasilien und Ronnie Biggs.«
Das einzige, was Lydon tun konnte, war, Cook und Jones zu überreden, sich auf seine Seite zu schlagen. »Hier trat Johnny Rotten zum ersten Mal als erwachsener Mann auf«, sagt Stevens. »Er steht kurz davor, aus der Gruppe rauszufliegen. Er ist Jahre davon entfernt, ein eigenes Scheckheft zu bekommen, aber er brachte alleine etwas zustande. Es ist das erste Mal, dass er in den Staaten die Kontrolle übernahm. Er tauchte im MiYako auf. McLaren war völlig zerschlagen und hatte seine ganze Energie verloren.«
Lydon nahm ein Zimmer, bevor er Steve und Paul gegenübertrat.
»John wollte weitermachen«, sagt Steve Jones. »Er sagte: ›lasst uns McLaren loswerden.‹ Aber ich hatte die Nase voll von der Band und sagte: ›Ich verpiss mich lieber mit McLaren nach Brasilien und stelle was mit Biggsy an.‹ Ich wollte einfach nur weg. Für mich war die Entscheidung gefallen und Paul zog mit. Nach der Tour redeten wir nicht mehr miteinander. Vorher gab es eine Menge Sticheleien in der Band. Es war schrecklich. Dabei hat es mal Spaß gemacht.«
»Die drei redeten miteinander«, sagt Stevens. »Steve sagte: ›Das war eine blöde Sache, John, du solltest mit nach Rio kommen. Das wäre ein echt guter Schachzug.‹ Cook stimmte zu. Ich ging mit ihnen zusammen in McLarens Zimmer und da kam es dann zum Bruch. Sie saßen herum, bestellten ein paar Bier und merkten, dass McLaren nichts mehr mit der Band zu tun haben wollte. Also sagte Steve:
›Verdammt, ich verpiss mich.‹ John sagte zu Malcolm: ›Du hast mich immer reingelegt, du hast mich reingelegt, seitdem du mich das erste Mal getroffen hast, du hast mich reingelegt mit den Leuten, die mich verprügelt haben, du hast der Presse Lügen über mich erzählt, und jetzt willst du, dass ich stundenlang mit Sid Vicious in einem Flugzeug sitze. Du redest nicht mit irgendeinem Idioten.‹ McLaren antwortete:
›Du bist wie Rod Stewart. Wir brauchen dich nicht, hau ab und besorg dir Kokain.‹ Das war’s. Ziemlich bitter.«
»Malcolm konnte mich nicht kontrollieren«, sagt John Lydon, »und das hat ihn geärgert. Während der Tour hat er die ganze Zeit Ränke geschmiedet und intrigiert. Ich redete nicht mit Steve und Paul, sie redeten nicht mit mir. Ich war genauso schlimm wie sie, versteh’ mich nicht falsch. Ich hab auch meine Fehler, ziemlich gravierende sogar. Aber was ich am Ende der Winterland-Show gesagt habe, habe ich auch so gemeint – »Ever get the feeling you’ve been cheated?« Hattet ihr nicht das Gefühl, verarscht worden zu sein? –, weil ich mich betrogen fühlte. Ich wusste, es konnte so nicht weitergehen. Es schien einfach keine Möglichkeit mehr zu geben, das alles zusammenzubringen, nie mehr.«
Nach diesen kurzen, aber endgültigen Gesprächen, gingen die Sex Pistols am Morgen des 17. Januar getrennte Wege. Cook, Jones und McLaren fuhren nach Los Angeles, bevor sie weiter nach Rio flogen. John Lydon sollte mit Joe Stevens nach New York fliegen, während Sophie Richmond den schwachen Sid aus Marin County abholen und nach Los Angeles bringen sollte. McLaren war nicht zu erreichen, und sie verbrachte eine grauenvolle Nacht, in der sie jede Bewegung Sids beobachtete, bevor Tiberi am nächsten Tag eintraf.
»Rotten hatte den besten Job verloren, den er je hatte«, sagt Joe Stevens. »Er war noch nie in New York gewesen, und sie hatten ihm kein Geld dagelassen. Kaum dass er in New York ankam, rief ihn Forcade an: ›Ich kann mich sofort darum kümmern.‹ Er müsste nur eine Genehmigung für den Film unterschreiben. Rotten hatte dreißig Dollar in der Tasche. Forcade bot ihm fünfzehntausend Dollar für die Unterzeichnung des Dokuments an: ›Auf gar keinen verdammten Fall‹, sagte John. So schlau war er. Er fühlte sich beschissen. Ich riet ihm: ›John, du bist ein Warner Brothers-Künstler. Ruf an und lass dir Geld schicken. Du könntest mir die fünfzig Dollar zurückzahlen, die du mir schuldest, und dann könnten wir ausgehen und uns zudröhnen.‹ Er sagte: ›Na klar.‹ Wir riefen Warners an und blitzten ab. Sie wollten nichts mehr mit Rotten zu tun haben.«
Am 18. Januar, als Lydon in New York ankam, gab er als erstes die Auflösung der Gruppe in einem Interview mit der New York Post bekannt: »Ich habe die Nase voll von der Arbeit mit den Sex Pistols.« Als der Artikel am nächsten Tag erschien, hatte ein anderer Sex Pistol ebenfalls die Nase voll, und zwar vom Leben.
»Wir gingen zu einem Arzt, der Methadon verschrieb, dann stiegen wir in ein Flugzeug nach New York«, sagt Tiberi. »Ein billiger Whisky und Sid wurde ohnmächtig. Er muss noch was anderes genommen haben, jedenfalls wachte er einfach nicht mehr auf.«
Drei Tage nach seiner letzten Überdosis fiel Vicious ins Koma. Sein Zustand war so schlecht, dass er bei seiner Ankunft in New York sofort ins Jamaica Krankenhaus in unmittelbarer Nähe des Flughafen gebracht wurde, wo man ihn unter Beobachtung stellte. In den nächsten zwei Tagen tobte ein Wirbelsturm und machte es unmöglich, nach New York rein oder aus New York raus zu kommen. Von den Sex Pistols, die es in alle Winde verschlagen hatte, war er derjenige, der vollkommen allein war.
»Sie haben wirklich Scheiße gebaut«, sagt Roberta Bayley. »Sich aufzulösen war eine gute Idee, auch wenn sie es nicht aus den Gründen getan haben, die wir uns wünschten, aber es war das Beste, was sie tun konnten. Es wäre schrecklich geworden, wenn sie weitergemacht hätten. Sie trennten sich zu einem guten Zeitpunkt. Sogar bei den Beatles war es das gleiche. Manchmal ist es das Beste, wenn sich eine Gruppe auflöst, egal, wie sehr man sie mag.«
»Wenn in New York etwas passiert, interessiert das niemanden in Amerika«, sagt Holmstrom. »Amerika hasst New York. Amerika liebt England, jedenfalls war das mal so. Jimi Hendrix musste nach England gehen, bevor er es in Amerika zu etwas bringen konnte. Als die Sex Pistols kamen, tourten und sich auflösten, war das das offizielle Ende von Punkrock, weil sie in der Wahrnehmung der Amerikaner die einzige Punk-Rock-Gruppe der Welt waren.«
John Lydon mit den Morgenzeitungen, Im Büro von Glitterbest, 2. Dezember 1976 (© Ray Stevenson)