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Wären die Scharen hysterischer Gäste Raven nicht im Weg gewesen, hätte sie Sinduk erschossen, ehe er die Crazy Eights erreichte. Der Terroristenanführer und sein Komplize kamen nur langsam voran, da sie ständig in Panik geratenen Touristen ausweichen mussten, womit sie Raven Gelegenheit gaben, erheblich an Boden gutzumachen, während sie nahezu ungehindert die Gasse benutzen konnte, die hinter ihnen entstand.

Auf halber Höhe der Treppe des Rutschbahnturms blickten die Familien der Senatoren über das Geländer, um nachzusehen, was den Tumult am Fuß des Turms verursachte. Raven befürchtete, dass sie umkehrten, die Treppe herunterkamen und dann auf Sinduk trafen. Sie versuchte, Munõz, Schmidt und ihren beiden Teenagern durch heftiges Winken klarzumachen, dass sie ihren Weg nach oben fortsetzen sollten.

Sie schauten aber gar nicht zu ihr hin, und das war auch gar nicht so wichtig. Denn Sinduk nahm sie ins Visier und bepflasterte die Treppe mit einem Kugelregen, der allerdings viel zu tief einschlug, um sie zu treffen. Die Amerikaner schrien und benutzten den Super-Pass-Teil der Treppe, um nach oben zu gelangen.

Sinduk und der andere Mann erreichten die Treppe und rannten hinter ihnen her. Scharen von Parkbesuchern strömten auf der Haupttreppe abwärts an ihnen vorbei. Glücklicherweise war Sinduk so versessen darauf, sein Ziel zu erreichen, dass er sie ignorierte, obgleich sie ihm praktisch freiwillig vor die Mündung liefen.

Raven erreichte die Treppe nur Sekunden später und stürmte sie, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf. Auf den Absätzen zwischen den gegenläufigen Treppenabschnitten klafften Lücken, durch die sie Sinduk, der einen Vorsprung von zwei Stockwerken hatte, immer wieder sehen konnte. Sie blieb stehen, nahm ihr Gewehr von der Schulter und legte an, als er und sein Komplize die Richtung wechselten. Dann hatte sie Sinduk im Visier und feuerte.

Die Kugeln trafen jedoch nicht, weil der andere Terrorist in ihre Flugbahn geriet. Der Mann sackte lautlos zusammen.

Sinduk richtete seine Waffe über das Geländer nach unten und beharkte die Treppe mit einem Kugelhagel. Die Projektile prallten als Querschläger von der Stahlkonstruktion ab, aber Raven konnte noch rechtzeitig in Deckung gehen und einen Treffer vermeiden.

Als das gedämpfte Stakkato der K7 verstummte, lehnte sie sich zurück und sah, dass Sinduk den Aufstieg fortsetzte, aber darauf achtete, dass er kein Ziel mehr bot. Raven nahm die Verfolgung wieder auf.

Als sie im sechsten Stockwerk über den toten Terroristen hinwegstieg, entdeckte sie Blutstropfen auf den Stufen, die weiter nach oben führten. Eine ihrer Kugeln musste Sinduk also doch getroffen haben. Daher bestand noch immer die Chance, ihn aufzuhalten und aus dem Verkehr zu ziehen.

Bis zum achten Stockwerk hatte sie deutlich zu ihm aufgeholt. Zwei Treppen über ihrem Kopf hatte er zu humpeln begonnen. Soweit sie erkennen konnte, war die Ursache eine stark blutende Oberschenkelwunde. Er drängte sich gewaltsam an den verängstigten Besuchern des Rutschbahnturms vorbei, um den Einlass einer der acht Wasserrutschen zu erreichen und sich vor dem von unten auf ihn gerichteten automatischen Feuer in Sicherheit zu bringen.

Raven beschleunigte ihren Schritt, um näher an Sinduk heranzukommen, während er abgelenkt war. Sie war noch immer einen Treppenabschnitt von ihm entfernt, als er die Einstiegsplattform an der Spitze des Turms betrat.

Als Raven den letzten Treppenabschnitt erreichte, sah sie, dass Sinduk stehen geblieben war und seine Opfer in Schach hielt. Das Parkpersonal war längst verschwunden, und die wenigen Gäste, die sich noch auf dem Turm befanden, hatten es eilig, sich in eine der acht Röhren zu stürzen, durch die Ströme von Wasser in die Tiefe rauschten. Oliver Munõz schirmte seine Tochter Elena ab, während Emily Schmidt ihren Sohn Kyle mit hektischen Bewegungen zur nächsten Wasserrutsche schob.

Die Familien der Senatoren waren nur noch wenige Schritte von ihm entfernt.

Raven durfte auf keinen Fall das Risiko eingehen, bei so vielen unschuldigen Opfern in ihrem Schussfeld ihre Waffe abzufeuern.

In Sinduks anderer Hand befand sich sein Smartphone. Er tippte mehrmals darauf und ließ es dann auf den Boden fallen.

»Nieder mit Amerika!«, rief er auf Englisch und hob die Maschinenpistole.

In diesem Moment warf sich Raven mit der Schulter voraus mit ihrem gesamten Gewicht gegen seinen Rücken. Sie stürzten beide zu Boden. Sinduk ließ seine Waffe fallen, und sie rutschte über die Plattform und verschwand mit einem metallischen Klappern in einer der Wasserrutschen.

Er stürzte sich auf Raven und versuchte, ihr die Waffe zu entreißen. Munõz machte einen Schritt auf sie zu – vielleicht, um ihr zu helfen –, aber Raven dachte, dass er damit nur sein eigenes Leben in Gefahr brachte.

»Gehen Sie!«, rief sie. »Verschwinden Sie von hier!«

Während sich zwischen Raven und Sinduk ein verbissener Ringkampf entspann, stieß Munõz Elena und Kyle in eine Röhre, dann folgte Emily Schmidt und schließlich Munõz selbst.

Sinduk raste vor Wut, als er sah, dass seine Opfer flüchteten. Er wand Raven die Maschinenpistole aus der Hand und beförderte sie mit einem Fußtritt außer Reichweite, ehe er Raven mit dem Ellbogen am Kinn erwischte. Raven rollte sich weg und schüttelte den Kopf, um die betäubende Wirkung des schweren Treffers zu verringern.

Beide kämpften sich auf die Füße, er mit seinem heftig blutenden Bein und sie mit einem geschwollenen Unterkiefer. Sie starrten einander an, die Waffe auf dem Boden der Plattform zwischen ihnen.

»Wer bist du?«, schnaubte Sinduk auf Arabisch.

»Eine Wächterin über Sitte und Anstand«, antwortete Raven und zog den Keramikdolch aus der Scheide, die sie in einem Knoten ihres Sarongs versteckt hatte.

Sie konnte erkennen, wie es in seinem Kopf arbeitete. Wenn er sich mit seinem lädierten Oberschenkel nach der Waffe bückte, könnte sie ihn ausschalten, ehe er wieder hochkam. Aber er brauchte die Waffe unbedingt, um seine Aufgabe abzuschließen.

Er grinste sie höhnisch an. »Du weißt es noch nicht, aber du hast längst verloren.«

Anstatt den Versuch zu machen, die Maschinenpistole an sich zu bringen, holte er mit dem Bein aus und beförderte sie mit einem Fußtritt in die Wasserrutsche, die die Schmidts und Munõz und sein Sohn benutzt hatten. Noch in der Bewegung folgte er der K7 selbst. Raven zögerte nicht und hechtete ebenfalls in die Öffnung der Röhre.

Die glatte Rutschbahn beschrieb mehrere Kurven und Korkenzieherwindungen. Das transparente Material der Röhre filterte die Sonnenstrahlen und erzeugte einen diffusen grünen Lichtschein.

Sinduk befand sich nur wenige Zentimeter vor ihr. Er streckte sich nach der Maschinenpistole, die durch das Wasser glitt und sich außerhalb seiner Reichweite befand.

Als das Gefälle der Röhre kurz vor ihrer Mündung abnahm, konnte Sinduk den Griff der Waffe fassen und sie zu sich heranziehen. Er drehte sich schlangengleich auf den Rücken und richtete die K7 auf seine Verfolgerin. Raven konnte nichts tun, um der Kugel auszuweichen.

Das brauchte sie aber auch nicht. Während Sinduk nämlich abdrückte, rutschte er aus dem Rohr ins Freie und tauchte in das Wasserbecken an seinem Ende. Kugeln spritzten harmlos in die Luft, bis Sinduk unter die Wasseroberfläche sank.

Raven schlug ebenfalls auf der Wasserfläche auf, das Messer wie einen Speer in der Hand haltend. Es drang in Sinduks Brust ein, und er starrte sie mit großen Augen wortlos an, während aus dem Einstich eine dichte Wolke Blut im Wasser aufwallte. Das Leben sickerte aus seinen Augen, und die Maschinenpistole entglitt seiner Hand.

Raven zog das Messer heraus und verbarg es mitsamt der Scheide wieder in ihrem Sarong, ehe sie die Schusswaffe vom Grund des Beckens auffischte. Als sie aus dem Wasser auftauchte, stellte sie fest, dass es nur einen Meter tief war. Sie sah sich um und entdeckte Emily Schmidt und Oliver Munõz, die gerade mit ihren Kindern aus dem Pool stiegen – soweit sie erkennen konnte unversehrt.

Raven hingegen wusste, dass sie noch nicht vollständig außer Gefahr waren. Sinduk hatte gesagt, sie habe längst verloren. Damit musste er sich auf etwas bezogen haben, das er ihr gegenüber im Kleinbus auch schon erwähnt hatte.

Der Anführer der Terroristen hatte offenbar einen Reserveplan in der Hinterhand.