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Marwood Island, Queensland

Als sie die Marauder in ihren Heimathafen lenkte, empfand Jin sowohl Freude als auch Erleichterung, dass sie wieder zu der Basis zurückkehren konnte, die Lu als Operationsbasis für den Trimaran ausgewählt hatte. Nicht nur wäre sie jetzt in der Lage, die Reparaturarbeiten an der Plasmakanone, die auf See begonnen hatten, abzuschließen. Vielmehr würde sie auch ihren Mann sehen, der am Vortag mit ihrem Gefangenen eingetroffen war.

Nicht weit der Whitsunday Islands und vor der Central Coast von Queensland gelegen, hatte Marwood während des Zweiten Weltkriegs eine Marinebasis beherbergt, die Lu wieder aufbaute, nachdem er die Insel erworben hatte. Die Insel war wie ein Mickey-Mouse-Kopf geformt, mit einem runden Hafen dort, wo der Mund sein sollte, und einer engen Zufahrt zum Ozean in der Kinnregion.

Lage und Umgebung waren wegen der ganzjährigen Schönwetterphasen und der gewöhnlich durch das Great Barrier Reef geschützten ruhigen See geradezu ideal. Obgleich die Insel größtenteils von hügeliger Landschaft bedeckt war, reichte der Platz auf Mickeys linker Wange, wo sich zwischen höheren Bergen die restaurierte Start- und Landebahn erstreckte. Das eine Ende reichte bis zum Meer, das andere grenzte an den Hafen. Einige Betonbauten neben Mickeys Nase enthielten die Wohnquartiere und Serviceeinrichtungen der Basis. Die Ohren waren Bergspitzen, die mit Eukalyptusbäumen und Neuguinea-Araukarien, einer für diese Region typischen Baumart, bewachsen waren.

Die Gulfstream wurde am Ende der Rollbahn verkeilt, und Helfer auf ATV s transportierten technisches Gerät zum Hafenkai, um die Reparaturarbeiten an dem Trimaran abzuschließen.

Nachdem Jin den Trimaran sicher vertäut hatte, erkundigte sie sich, wo sie Polk finden könne. Ihr wurde empfohlen, ihr Glück im Hauptgebäude zu versuchen.

Er saß in seinem Büro am Schreibtisch, mit dem Rücken zu ihr und einen Laptop vor sich, dessen Bildschirm er konzentriert betrachtete. Sie lehnte sich an den Türpfosten.

»Bist du so beschäftigt, dass du deine Ehefrau nach ihrer triumphalen Rückkehr nicht begrüßen kannst?«

Er wandte sich um, lächelte bei ihrem Anblick, sprang auf und kam zu ihr, um sie zu küssen.

»Ich wollte nur nachsehen, was die Wettervorhersage für Sydney morgen Nacht bereithält. Warm und trocken. Ideal für unsere Operation.«

»Ist Rathman in Position?«

»Die Centaurus läuft morgen planmäßig ein.«

»Ich hoffe, dass du diesmal ein paar Enervum-Gas-Granaten eingepackt hast, nur für alle Fälle. Sie haben die Granaten bei ihrem Fabrikpersonal in Nhulunbuy getestet, und sie haben sich als relativ wirkungsvoll erwiesen.«

»Auf Christmas Island wären sie recht praktisch gewesen«, gab Polk zu. »Ich habe einige ins Flugzeug laden lassen. Was denkst du, wie Lus Pläne aussehen, um die Australier dazu zu bringen, innerhalb kürzester Zeit eine Million Chinesen ins Land zu holen?«

»Wahrscheinlich hat er Vorkehrungen getroffen, dass an weiteren wichtigen Stellen entsprechend auf die Meldungen von dem Attentat reagiert wird. Aber das ist nicht unser Problem.«

»Ich würde nur gern wissen, inwieweit sich die Attentate auf Lus Finanzstatus ausgewirkt haben.«

»Sehen wir mal nach.«

Sie hatten sich beide das Passwort gemerkt, aber die Kontonummer war so lang, dass Polk sie aus der Notepad-App in sein Telefon kopieren musste. Er gab die Info in die Online-Plattform der CryptoKonten-Verwaltung ein.

»Der Kontostand beläuft sich auf 980 Millionen Dollar«, las Polk vom Bildschirm ab.

»Dieser Wert könnte nach dem Gasangriff erheblich steigen«, sagte Jin. »Nach terroristischen Anschlägen ziehen zahlreiche Anleger ihre Gelder aus den Aktienmärkten ab und suchen sich andere Anlagemöglichkeiten.«

»Und wenn nicht, können wir mit dem Gegenmittel in der Gulfstream noch einen draufsetzen.«

»Dieser MacD. Hast du irgendetwas Substanzielles über ihn in Erfahrung gebracht?«

»Ich konnte eruieren, dass er tatsächlich US Army Ranger war.«

»Ich möchte mit ihm reden, bevor wir seinen Chairman anrufen.«

»Er sitzt unten im Luftschutzbunker. Ich lasse ihn heraufbringen.« Polk gab zwei Männern einen entsprechenden Befehl.

»Wann brichst du nach Sydney auf?«, fragte Jin.

»In ein paar Stunden«, antwortete Polk. »Ich wünschte, wir würden diesen Trip gemeinsam machen.«

»Ich auch, aber ich muss erst diese Reparaturen abschließen, wenn ich um Mitternacht starten will. Ich möchte rechtzeitig im Hafen von Sydney sein, um mir das Feuerwerk anzusehen.«

Der Plan sah vor, dass Polk sich auf den Weg machte, zunächst um die Vorbereitungen auf der Centaurus abzuschließen. Nachdem das Gas freigesetzt wäre, würde er auf die Marauder umsteigen.

»Was ist mit dem Antidot?«, fragte Jin.

»Ich weiß nicht so recht, ob man der Geschichte dieses Burschen Glauben schenken kann. Vielleicht wäre es besser, das Kontingent zu teilen. Ich nehme eine Hälfte auf die Centaurus mit, und wir deponieren die andere Hälfte auf der Marauder

»Klingt vernünftig.«

Jin wandte sich zur Tür um, als ein auffallend gutaussehender Mann mit einem blutigen Wundverband an der Schulter in den Raum geführt wurde. Sie nickte den beiden Wächtern zu, die ihn daraufhin unsanft in einen Sessel drückten.

»Sie müssen MacD sein«, bemerkte sie.

»Der unvergleichliche.«

»Ihr Boss hat versucht, mich anzurufen.«

»Ich habe Ihrem Mann bereits erklärt, dass er an einem Geschäft mit Ihnen interessiert ist.«

»Um uns in Ruhe zu lassen?«

MacD schüttelte den Kopf. »Wir sind keine Gangster, die Schutzgelder erpressen. Der Chairman unterhält weltweite Kontakte. Er kann Ihnen ganze Märkte erschließen.«

»Märkte für was?«

MacD zuckte die Achseln. »Plasmawaffen, Enervum-Gas, das Antidot, über das Sie verfügen. Was immer Sie verkaufen wollen.«

»Darüber reden wir noch.«

Sie holte ihr Satellitentelefon hervor.

»Sie haben ihre Nummer blockiert, als ich vor zwei Tagen mit der diensthabenden Kapitänin Linda gesprochen habe. Wie erreiche ich Ihren Chairman?«

MacD nannte ihr die Telefonnummer.

»Ich schalte das Gespräch auf den Lautsprecher«, sagte Jin und sah MacD prüfend an. »Ein einziges falsches Wort ohne mein Okay, und ich töte Sie. Verstanden?«

»Sie könnten es nicht deutlicher ausdrücken«, sagte MacD.

Sie wählte die Nummer, die er ihr genannt hatte.

»Ist dort April Jin?«, meldete sich eine Stimme.

»Ja, ich bin es. Ist dort der Chairman?«

»Ich höre.«

»Ihr Mann hier, MacD, sagt, Sie könnten an einem Geschäftsangebot interessiert sein.«

»Das wäre möglich.«

»Ehe wir zur Sache kommen – ich mache keine Geschäfte mit jemandem, dessen Namen ich nicht kenne.«

»Kapitän Juan Cabrillo, Skipper der Norego

»Verraten Sie mir eins, Juan, weshalb sind Sie hinter uns her?«

»Wie kommen Sie denn darauf, dass wir hinter Ihnen her sind?«

»Warum laufen wir uns dann ständig über den Weg?«

»Sie haben etwas, an dem wir brennend interessiert sind.«

»Das Enervum?«, sagte Jin.

»Das und das Antidot. Offensichtlich sind wir an beides nicht herangekommen.«

»MacD behauptet, Sie könnten für unsere Produkte neue Märkte erschließen.«

»Sie würden auf dem Schwarzmarkt einen hohen Preis erzielen«, sagte Cabrillo. »Natürlich wäre es ziemlich kompliziert, die Kanister auszuladen, ohne unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen.«

»Das ist ein reizvoller Gedanke. Hören Sie, wir haben zwei arbeitsreiche Tage vor uns. Warum kommen wir im neuen Jahr nicht zusammen und führen konkrete Verhandlungen.«

»Und mein Mann?«

»Den behalten wir hier. Ich weiß nicht, wie wichtig er Ihnen ist und wie sehr er Ihnen fehlt, aber es kann nicht schaden, eine Geisel zu haben, um sicherzugehen, dass wir die angemessene Ware für unser Geld erhalten. Wenn Sie uns noch einmal in die Quere kommen, töten wir ihn. Bye bye.«

Sie legte auf.

»Wie ich gesagt habe«, meinte MacD grinsend.

»Freuen Sie sich nicht zu früh«, warnte Polk. »Kapitän Cabrillo muss hierherkommen und liefern, um Sie von dieser Insel zu holen.« Er gab den Wächtern ein Zeichen, MacD wieder in sein Gefängnis zurückzubringen.

»Er wird liefern, ganz sicher«, sagte MacD über die Schulter, während er hinausging. »Das garantiere ich Ihnen.«