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Juans Plan, sich aus der Zitadelle zu befreien, basierte darauf, dass das Schiff sank, denn dies war der einzige Weg, die Belüftungsklappe in der Decke zehn Meter über ihnen zu erreichen. Der Raum müsste sich mit Wasser füllen, wenn das Schiff unterging. Das Wasser würde sie mit steigendem Niveau nach oben tragen, bis sie die Klappe öffnen könnten. Die Feuerschutztüren auf der Hauptebene der Zitadelle waren ebenfalls nicht wasserdicht, daher konnte man wohl davon ausgehen, dass dort das Wasser am ehesten in den Schutzraum eindringen würde.

Das Problem war das Stahlseil, das die Dachklappe der Zitadelle an der Innenwand eines kurzen Schachts unterhalb der Öffnung sicherte. Es war zwei Zentimeter dick und fest mit einem Ringbolzen verbunden, der an die Schachtinnenwand geschweißt war. Der Ringbolzen befand sich auf halber Deckenhöhe und daher außer Reichweite für alle Benutzer der Zitadelle. Die einzige Kletterhilfe waren die Vorratsregale, aber diese standen auf der anderen Seite des Raums und waren dort mit massiven Schrauben unverrückbar auf dem Boden fixiert.

Juan wollte gar nicht erst versuchen, das Seil von dem Ringbolzen zu lösen. Es würde viel zu lange dauern, während sie im Wasser trieben, das den Schutzraum füllte. Er hatte vor, den Ring aufzusprengen.

Er, Eddie und Raven hatten ihre schweren Körperpanzer abgelegt und sich von ihren Waffen getrennt, sogar von MacDs Armbrust.

»Das wird er mir niemals verzeihen«, sagte Raven.

»Ich kaufe ihm eine bessere«, sagte Juan.

Das Einzige, was er nicht aus der Hand geben wollte, war der Nylonsack mit den Antidot-Ampullen. Diesen hatte er sich über die Schulter gehängt.

Dass das Schiff bereits sank, konnte Juan deutlich spüren. Sie alle hatten eine schiefe Körperhaltung angenommen, um die Neigung des Decks auszugleichen, und die Pistolen auf dem Deck rutschten auch schon langsam in den vorderen Teil des Raums.

Er bückte sich, krempelte sein Hosenbein hoch und entblößte seine Beinprothese. Er öffnete das Geheimfach, in dem sich sein Keramikmesser und seine .45 ACP Colt Defender Pistole befanden. Beides beließ er an Ort und Stelle und holte stattdessen ein Päckchen, kleiner als ein Kartenspiel, heraus und schloss dann das Geheimfach in seinem Unterschenkel.

Das Päckchen enthielt einen Würfel C-4-Plastiksprengstoff und einen ferngesteuerten Zünder. Die graue Knetmasse konnte in jede Form gepresst werden. Juan hatte diese Ladung nicht an der Feuerschutztür eingesetzt, weil die Explosion nur ein Loch in die Tür gesprengt, sie aber nicht geöffnet hätte.

Die Platten der Tür ächzten und verformten sich, bis das Wasser durch die Dichtungen im Türrahmen sickerte, von dem zunehmendem äußeren Druck in die Zitadelle gepresst, bis es zu einem ansehnlich schäumenden Wasserstrahl anschwoll.

Der Wasserspiegel stieg mit einem Tempo, das Juan unter anderen Umständen als alarmierend empfunden hätte. In diesem Fall aber war es für ihn eine wahre Qual, mit ansehen zu müssen, wie langsam sich der Raum mit Hafenwasser füllte.

Schließlich verloren sie den Boden unter den Füßen und mussten sich Wasser tretend fortbewegen, während der eindringende Ozean nach und nach die Regalfächer leer spülte. Pakete und Plastiksäcke voller Lebensmittel, Getränkedosen und Wasserflaschen trieben durch den Raum.

Dann erlosch die Beleuchtung, und im Raum wurde es still. Das eindringende Wasser hatte den Hilfsgenerator durch einen Kurzschluss lahmgelegt.

Die batteriegespeisten Notlampen flammten auf und erzeugten in dem stählernen Raum eine geisterhafte Stimmung.

Der Wasserspiegel stieg jetzt deutlich schneller. Juan würde nicht allzu viel Zeit haben, um die C-4-Ladung an geeigneter Stelle anzubringen. Sobald sich der Ringbolzen in seiner Reichweite befand, pappte er die Kunststoffmasse auf die Kabelhalterung und verformte den Klumpen, bis er den Stahlring vollständig umhüllte. Zum Schluss brauchte er nur noch den winzigen Zünder hineinzudrücken.

»Achtung jetzt«, sagte er zu Eddie und Raven, die sich Wasser tretend auf der gegenüberliegenden Seite des Schutzraums an die Stahlwand pressten.

Juan schwamm zu ihnen hinüber und zählte.

»Drei … zwei … eins.«

Alle drei holten tief Luft und tauchten unter, während Juan den kleinen Sender hochreckte. Er drückte auf den Auslöseknopf, und ein lauter Knall hallte durch die Stahlkammer.

Er hob den Kopf aus dem Wasser und sah, dass das andere Ende des durchtrennten Drahtseils ins Wasser herabhing.

»Das ist unser Stichwort«, sagte Juan.

Sie schwammen hinüber und ergriffen das Seil, zogen sich daran hoch, während das Wasser weiterhin in den Schutzraum strömte. Die Wasseroberfläche verschob sich, und der Bug der Centaurus sank weiter ab.

Als der Abstand zwischen Wasseroberfläche und Zitadellendecke nur noch einen Meter betrug, tauchte Juan auf und streckte sich nach dem Griff der Lüftungsklappe. Er rüttelte daran, aber der Griff rührte sich nicht.

Die Klappe war verriegelt.

***

Als Sylvia die Kommandobrücke betrat, war Eric das Erste, was sie in dem schwach erleuchteten Raum sah. Mit wachen, aufmerksamen Augen blickte er ihr entgegen. Sie ging zu ihm hinüber und strich ihm mit den Fingern sanft durchs Haar. Er verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln.

Mit dem Mund erzeugte er Klickgeräusche, und Sylvia identifizierte sie sofort als Morse-Code.

Schön, dich zu sehen.

Sie lächelte ihn an, obgleich er von ihr nicht mehr erfassen konnte als ihre Augen hinter den Brillengläsern der Gasmaske.

Headset .

Sylvia hatte ihr Headset vollkommen vergessen, nachdem sie es abgenommen hatte, um es durch die Gasmaske zu ersetzen. Sie entfernte sich kurz, weil sie es holen wollte, blieb unterwegs aber stehen, um Linc zu versichern, dass sie ihn und Eric irgendwie von dem sinkenden Schiff herunterholen würde. Angesichts der Tatsache, dass Linc doppelt so viel wog wie sie, hatte sie jedoch nicht die geringste Idee, wie sie ihr Versprechen einhalten sollte.

Für das Headset über der Gasmaske suchte sie eine möglichst günstige Position und redete so laut, dass ihre durch den Zwillingsfilter gedämpfte Stimme einigermaßen zu verstehen war.

»Hallo, hier spricht Sylvia. Ist da draußen irgendjemand?«

Ein paar Sekunden Stille weckten in ihr den Verdacht, dass Kopfhörer und Mikrofon nicht mehr funktionierten.

»Hier ist Max. Ihr Bruder ist sehr erleichtert, Sie zu hören. Wo sind Sie?«

»Auf der Kommandobrücke der Centaurus .« Sie kehrte zu Eric zurück und blickte aufs Oberdeck hinaus. Wasser bedeckte mittlerweile die vordere Hälfte des Schiffes und strömte nun mit der Wucht der Niagarafälle in den ersten offenen Frachtraum.

»Sie müssen sofort das Schiff verlassen. Bis Mitternacht dauert es keine zwei Minuten mehr. Können Sie den Startvorgang stoppen oder unterbrechen?«

»Nichts von beidem«, antwortete Sylvia.

»Wo ist Polk?«

»Gelähmt. Aber er hatte den Schlüssel nicht, und in seinem Telefon gibt es keine App, um die Raketen zu steuern. Ich habe auf dem Weg hierher nachgeschaut und nichts dergleichen gefunden.«

»Dann schnell runter von dem Schiff«, sagte Max.

»Ich kann die beiden nicht aus der Kommandobrücke herausschaffen.«

»Ich kümmere mich darum, dass Ihnen jemand zu Hilfe kommt.«

»Warnen Sie die Leute, bloß nicht die Kommandobrücke zu betreten. Die Luft könnte noch immer Reste des Gases enthalten.«

Sie fasste Eric unter den Schultern und hob ihn hoch. Für einen schlanken Mann seiner Statur war er schwerer, als sie erwartet hatte. Linc auf diese Art und Weise zu bewegen, wäre ein Ding der Unmöglichkeit für sie.

Während sie Eric auf den Boden der Kommandobrücke legte, um ihn besser in den Griff zu bekommen, hörte sie, wie Max Hanley Hilfe für sie anforderte.

»Juan, kommen! Melde dich, Juan! Wo bist du?«