Eine zugige Hütte, in der ein prasselndes Herdfeuer brennt, ein eiserner Topf, in dem ein Eintopf vor sich hin köchelt, Menschen, die auf Holzbänken, Schemeln oder auf dem Boden sitzen und Geschichten von erschlagenen Riesen, sich verwandelnden Göttern und gestohlenen Zauberhämmern lauschen. Ein Dasein, in dem es um die Rhythmen der Natur geht, um die Fruchtbarkeit des Viehs und der Felder, um den Respekt vor den Kräften des Waldes, des Meeres und der Berge. Tage, die von der Mühsal auf dem Acker bestimmt sind, und Nächte, in denen die Geheimnisse der Dunkelheit ums Haus schleichen.
So ungefähr kannst du dir die Lebenswelt derjenigen Menschen vorstellen, für die vor tausend oder zweitausend Jahren die Mythen, von denen in diesem Buch die Rede ist, tatsächlich lebendig waren. Menschen, für die die Mythen die Fragen nach der eigenen Herkunft und der Ordnung des Kosmos beantworteten und auch ihren Alltag bestimmten. Für sie waren die Göttinnen und Götter Lebensrealitäten, mit denen sie immer wieder in Riten, Zeremonien und im persönlichen Erleben in direkten Kontakt traten. Wahrscheinlich stellt sich deine Welt für dich völlig anders dar. Soziale und geistesgeschichtliche Entwicklungen sowie technologische Fortschritte haben deinen „Kampf ums Überleben“ auf ganz andere Dinge verlagert und möglicherweise den Fokus von den großen Fragen des Daseins auf die schnellen Antworten der Konsumgesellschaft verschoben. (Wir alle leben in dieser Gesellschaft – und nicht von ihr verschlungen zu werden ist eine wirkliche Kunst!) Ebenso wirst du wahrscheinlich die Göttinnen und Götter, die in diesem Buch auftauchen, nicht als real existierende Entitäten ansehen können, denn wer glaubt heutzutage beispielsweise noch, dass ein rotbärtiger Gott, der in einem von Ziegenböcken gezogenen Wagen über den Himmel rast, mit seinem Zauberhammer das Gewitter erzeugt? Aufklärung und Säkularisierung haben uns solche Ideen gründlich ausgetrieben, was auf der Ebene des intellektuellen Weltverständnisses eine gute Sache ist. Doch leider ist auch die symbolische Ebene dieser Geschichten über Bord gegangen, sodass uns ein großer Teil des seelischen Einfühlungsvermögens in die Welt ebenfalls abhandengekommen ist, das sich ursprünglich in diesen Erzählungen finden ließ. Wenn Mythen lediglich als Museumsstücke betrachtet werden, wenn sie nicht mehr neu erzählt werden und man nicht mehr mit ihnen in Beziehung tritt, dann bleibt von ihnen nicht mehr übrig als das: verstaubte Dinge, die in irgendwelchen Vitrinen vor sich hin modern und die keinerlei Bezug zum Leben haben.
Der größte Unterschied zwischen unserer heutigen Welt und dem obigen Szenario ist die Tatsache, dass die Mythen für die Menschen alter Zeiten mit Bedeutung aufgeladen und mit Leben gefüllt waren, während sie heute für die meisten bestenfalls ein vernachlässigtes Dasein im Bücherregal fristen. Doch Mythen wollen erzählt werden – und jede Erzählung ist zugleich eine neue Interpretation, da jeder Erzähler und jede Erzählerin die eigene Persönlichkeit mit in die Geschichte einbringt, andere Schwerpunkte setzt und auch die Charaktere des Mythos anders interpretiert. Wenn wir in der Jurte mit den Teilnehmern und Teilnehmerinnen unserer Kurse beisammensitzen und aus der Erinnerung alte Mythen erzählen, so ist unsere Wortwahl jedes Mal eine andere. An einem Tag herrscht dabei eine ernste, fast andächtige Atmosphäre, an einem anderen Tag ist dieser Kreis eher von Ironie geprägt und es wird viel gelacht. Und dadurch werden die Mythen lebendig, da sie zu den Menschen sprechen, die in diesem Augenblick zuhören. Es kommen genau die Geschichten zum Vorschein, die jetzt gebraucht werden. Und ganz gleich, ob gestaunt oder gelacht wird (meistens ist es beides), berührt die tiefere Sinnebene der Mythen etwas in den Menschen und eine ganz besondere Kraft wird spürbar. Eine Kraft, die den Kern unserer Existenz berührt, da alle mythologischen Geschichten vor allem wesentlich Menschliches und damit Zeitloses berichten.
Daher ist es völlig egal, ob du die Göttinnen und Götter als wirklich existierende Wesenheiten begreifst oder sie als Protagonisten spiritueller Lehrgeschichten oder auch als archetypische Charaktere ansiehst, die Bewegungen der menschlichen Seele widerspiegeln. Wie auch immer du das sehen magst, der wirkliche Wert der Mythen wird dadurch keineswegs geschmälert. Wichtig ist nur, dass du in den Mythen mehr als bloße Geschichten siehst. Mehr als Unterhaltung, mehr als Zeitvertreib.
Denn wenn die Mythen vielleicht auch nicht als Quelle dafür dienen können, definitive Aussagen über die Realität von Göttinnen und Göttern zu machen, so erzählen sie doch auf jeden Fall sehr viel Treffendes über die Realität des Menschseins!
Mythen und Heldensagen schicken dich auf eine Reise in dein Inneres. Sie stellen dir Fragen über deine Werte, lassen dich über Tugenden nachdenken, führen dich in Versuchung, dem Zorn und der Gewalt in deinem Innersten nachzugeben, zeigen dir Alternativen, bemühen sich, Ordnung ins Chaos zu bringen, lassen dich der Vergänglichkeit begegnen, der Gier und der Demut … und überlassen alles Weitere dir. Sie nehmen deine Gedanken und Gefühle ernst, indem sie keine vorgefertigten Antworten liefern, sondern nur erzählen. Sie ermutigen dich, deiner eigenen Kraft gewahr zu werden, deine eigenen Entscheidungen zu treffen und mutig auf dem Weg voranzuschreiten, der sich unter deinen Füßen entfaltet. Sie fragen, woran du wirklich glaubst und was dir tatsächlich wichtig ist. (Sie fragen nicht danach, was du glauben möchtest, was du denkst und was dir wichtig sein sollte!) Mythen erzählen von einer Möglichkeit deines Ursprungs und vielen Möglichkeiten deines Weges. Sie berichten von einem Woher und von vielen Wohins und ebenso von den unzähligen Wundern, die dazwischen geschehen können.
Womöglich ist nichts davon als Fakten brauchbar. Wir glauben zum Beispiel nicht wirklich, dass der Mensch von den Göttern aus zwei Stücken Holz gemacht wurde, wie die nordischen Mythen berichten. Aber alles im Mythos ist insofern wahr, als dass es transformative Kraft hat. Und so sind die genannten Holzstücke vielleicht keine Fakten, aber der Akt, von den Göttern Geist, Atem und Leben eingehaucht zu bekommen, damit Anteil am Großen Geheimnis zu haben und somit im tiefsten Sinne heilig zu sein wie alles Leben … das ist wahr und transformiert Menschen, verwandelt sie zu achtsameren, liebevolleren Wesen, die sich bewusst sind, diese Welt mit unzähligen anderen Arten heiligen Lebens teilen zu dürfen. Auf diese Weise können auch die auf den ersten Blick absurd wirkenden Geschichten einen transformativen Funken Wahrheit in sich tragen und dein Verhältnis zu dir selbst, zur Welt und ihren Wesen sowie zum Göttlichen heilsam wandeln.
Spannenderweise stellen Mythen keine moralischen Forderungen – und gerade in den nordischen Mythen geht es oftmals erschreckend unmoralisch zu. Sie formulieren auch keine festgelegte Aufgabe, die angeblich jeder Mensch hat, sondern lassen dir die Wahl, welchen Pfad du einschlagen möchtest. Du wirst im Mythos von Heldentaten und ebenso von Verrat hören, wirst dich vielleicht manchmal fragen, wer hier als gut und wer als böse zu bezeichnen sei, und dann möglicherweise feststellen, dass im Mythos wie im richtigen Leben eher Graustufen existieren als streng voneinander getrenntes Schwarz und Weiß. Gewalt und Krieg, Opfer und Verlust, Geburt, Tod und Wiedergeburt, Freude und Schmerz, Trost, Mitgefühl und wirklich dumme Streiche, die Heldenreise und der unverbesserliche Depp … all das taucht im Mythos unkommentiert nebeneinander auf. Und wie im richtigen Leben musst du auch hier deinen Weg hindurch selbst finden.
Oftmals widersprechen sich die Mythen innerhalb einer Tradition sogar. Die eine Geschichte berichtet es so, die andere erzählt eine andere Variante, was daran liegen mag, dass das Unerklärliche, das Geheimnis des Lebens, das Wirken des Göttlichen in der Welt nicht einfach zu erklären und schon gar nicht zu definieren ist. Da ist eine dunkle Tiefe, vor der du, wir und alle anderen Menschen stehen, … und diese dunkle Tiefe verbindet dich mit den Menschen, die dir vorausgingen. Ihre Fragen an das Leben sind trotz aller Unterschiede in der Lebenspraxis deinen Fragen nicht unähnlich. Wie sie kannst du versuchen, den Mythen zu lauschen und dann dein eigenes Leben zur Antwort zu gestalten. Wir sind uns sehr sicher, dass diese Vorgehensweise auf Dauer befriedigender sein wird, als die weitverbreitete Methode, vorgefertigten Antworten zu folgen. Wenn du nur eins aus diesem Buch mitnimmst, dann lass es bitte Folgendes sein: Der Mythos ist immer zeitlos, er spricht immer vom Jetzt, vom Heute … und vor allem spricht er zu dir und in gewisser Weise von dir!