Die Mythen, auf die wir uns in diesem Buch beziehen, sind überwiegend im 13. Jahrhundert niedergeschrieben worden, beziehen jedoch Dichtungen und Heldenlieder ein, die zum Teil auch schon aus dem 10. Jahrhundert stammen. Die Inhalte sind aber noch weit älter und wurden mündlich tradiert, lange bevor sie in die uns heute bekannte sprachliche Form gegossen wurden.
Die Vorstellungen über die Welt, die Göttinnen und Götter, über andere Wesen wie Zwerge, Riesen und Trolle, über die geheimnisvollen Nornen und über den zyklischen Charakter der Welt stammen aus einer großen Zeitspanne, in der noch nichts schriftlich festgehalten wurde. Schon in der Eisenzeit (etwa 800 v. Chr. – etwa 500 n. Chr.) spricht etwa der römische Historiker Tacitus vom Volk der Ingaevonen, deren Name sich auf den wahrscheinlich ursprünglichen Namen des Gottes Freyr, nämlich Yng oder auch Yngvi zurückführen lässt. Die Ingaevonen waren somit das Volk Yngvis.
Auch die Runenritzungen, die in Schweden, Dänemark, Norwegen und Norddeutschland entdeckt wurden, lassen sich auf diese Zeitspanne datieren. In der Bronzezeit (etwa 2.200 – 800 v. Chr.) finden sich Spuren eines phallischen Gottes, der ebenfalls eine Form von Freyr zu sein scheint, ebenso Sonnenbzw. Radkreuze, die bis in die Wikingerzeit (etwa 750 – 1.100 n. Chr.) hinein beliebte Symbole waren. Auch kann man hier Spuren der Vorstellung eines Hieros gamos entdecken, der Heiligen Hochzeit zwischen Sonnengott und Erdgöttin, die sich ebenfalls in der späteren Beschreibung des Mythos von Freyr und Gerdr finden lassen.
Manche Inhalte lassen sich zurückführen auf die indoeuropäische Ausbreitung, die je nachdem, welcher Forschung man Glauben schenken mag, zwischen dem 4. und 3. Jahrtausend vor der Zeitenwende geschah. In diesem Zusammenhang gibt es zum Beispiel Hinweise auf einen religiös verehrten Himmelsvater/Himmelsgott, dessen rekonstruierte Spuren sich sowohl im griechischen Zeus als auch im germanischen Tyr finden lassen. Auch eine Hervorhebung der Zahl Drei und die drei verwendeten Farben Weiß, Rot und Schwarz, die wir auch später noch als Farben der dreifaltigen Göttin (in Gestalt der Jungfrau, der Mutter und der weisen Alten) vorfinden werden, sind hier entdeckt worden.
Und aus der Jungsteinzeit (etwa 10.000 – 2.200 v. Chr.) sind Axtamulette bekannt, die den in der Wikingerzeit getragenen Thorshämmern erstaunlich ähnlich sind. Auch eine Göttin, die in der Erde oder im Wasser wohnt, war den jungsteinzeitlichen Menschen bekannt – Parallelen zur germanischen Göttin Nerthus sind offenkundig, die auch Tacitus später als Terra Mater, die Mutter Erde, bezeichnet. Diese und einige weitere Beispiele lassen davon ausgehen, dass viele der Vorstellungen, die sich dann in den Mythen niedergeschlagen haben, weit älteren Ursprungs sind und sich von der Jungsteinzeit (wenn nicht sogar schon eher) bis in die Wikingerzeit in abgewandelter Form erhalten haben.
Daher wollen wir in diesem Buch auch auf eine grundlegende Besonderheit der nordischen Mythen hinweisen: ihre Verwurzelung in einem jungsteinzeitlichen Animismus und die damit einhergehende schamanische Praxis, die sich im Laufe der Zeit zwar gewandelt hat, aber zumindest in einigen Sagas deutlich zutage tritt.
Unter Animismus (vom Lateinischen anima = die Seele, der Geist) versteht man den Glauben, dass alles in dieser Welt beseelt ist. Alles Lebendige ist vom Göttlichen inspiriert, erfüllt und durchdrungen, hat Anteil am Göttlichen und ist durch und durch heilig. Diese Weltsicht beschreibt die Natur als reine Lebendigkeit und nicht etwa als etwas Dingliches oder gar Totes, als bloße Ressource.
Als beseelt gedacht wurden dabei aber nicht nur Tiere und Pflanzen, sondern auch Steine, Berge, Flüsse und Seen, ganze Landschaften und ebenso Wolken und Sterne sowie darüber hinaus Naturgeister, Göttinnen und Götter. Die Menschen der damaligen Zeit waren umgeben von einem einzigen lebendigen Wunder, und mit allem innerhalb dieses Wunders konnte man kommunizieren. Da kommt der Schamanismus oder das Schamanentum als Methode ins Spiel, die den Geist des Menschen mit dem Geist eines Bären, eines Wolfes, einer Schlange, eines Baumes oder auch einer Göttin verbinden konnte.
Mithilfe verschiedener Trancetechniken begab man sich über die alltägliche Wahrnehmung der Welt hinaus, um tiefer zu schauen, mit der Welt und allen Wesen auf einer anderen Ebene verbunden zu sein, den Rhythmus der Welt zu spüren, sich darauf einzulassen und sich selbst als Teil dieses großen grünen Wunders zu erleben.
Und da dies der Boden ist, in dem die nordische Mythologie ihre Wurzeln ausstreckte, um dann weiterzuwachsen, und sich ebenfalls deutliche schamanische Spuren sowohl in den Geschichten um Odin, Heimdallr als auch um Freyja zeigen, halten wir nach wie vor schamanische Methoden für eine adäquate Weise, in die Mysterien dieser Tradition einzutauchen und diese so, neben dem Studium der überlieferten Schriften und der historischen Forschung, auch ganz unmittelbar und individuell zu entdecken.
Diese persönliche Sichtweise ist ganz sicher nicht objektiv, und du wirst auf diesem Weg wohl auch keine neuen archäologischen Fakten zutage fördern können, aber sie kann dir helfen, dich dem anzunähern, was diese Tradition an wirklich brauchbarer Spiritualität und seelischen Wurzeln zu bieten hat. Keine spirituelle Tradition, die man ernstnehmen kann, wird von sich behaupten, absolut objektive Wahrheiten zu verkünden – es geht immer nur darum, einen Weg zu finden, der es deiner Seele erlaubt, sich voller Kraft in dieser Welt zu bewegen und dabei sowohl für dich selbst als auch für andere heilsam zu agieren. Im besten Falle für das große Ganze.
Viele kulturelle Hintergründe sind schlicht nicht überliefert, da die Vorfahren der nordeuropäischen Völker keinen Schriftkulturen angehörten oder gerade das Spirituelle und Heilige nicht niederschreiben wollten, um es lebendig zu erhalten. Daher wirst du in den meisten wissenschaftlichen Werken über die nordischen Traditionen auch meist Aussagen finden wie: „Es könnte so oder auch so gewesen sein“, „Das sieht dieser Forscher so, während ein anderer das Gegenteil behauptet“ oder auch: „Hierüber wissen wir so gut wie gar nichts“. Die heutigen Forscher konzentrieren sich oft auf die Etymologie einzelner Begriffe und auf Wahrscheinlichkeiten in Bezug darauf, was sich daraus jeweils ableiten lässt und dann vermutlich so gewesen sein könnte. Das alles ist gut und richtig, gehört sich für echte Wissenschaft so, doch einen Weg, den du gehen kannst, stellt es leider nicht dar. Um solch einen Pfad zu finden, musst du selbst tätig werden und die Mythen eigenständig darauf abklopfen, was dir etwas bedeutet und was nicht.
Dazu braucht es einen offenen Geist, der sich geduldig herantastet, alte Mythen liest und neu deutet, sie mit anderem Schwerpunkt erzählt, historische Berichte betrachtet und versucht, sich etwas Grundlegendes zu erschließen, was die Menschen damals gedacht und geglaubt haben, ohne der Versuchung zu erliegen, alles „genau wie damals“ machen zu wollen. Eine Falle der falschen Authentizität, in die man leicht tappen kann, wenn man übersieht, dass jede Religion sich über die Jahrhunderte weiterentwickelt.
Um kurz zu verdeutlichen, was wir damit meinen: Auch wenn du darüber liest, dass die Germanen Tiere, die ihnen viel bedeuteten, ihren Gottheiten opferten, wirst du wohl kaum in Betracht ziehen, deine Lieblingskatze im nächsten Moor zu versenken und dabei Freyja zu huldigen. Stattdessen wirst du die Essenz dieser Beobachtungen ergründen wollen: dass den germanischen Stämmen Tiere so wertvoll erschienen, dass sie den höchsten Gottheiten dargeboten wurden, um ihnen zu danken. Und dann wirst du vielleicht darüber nachdenken, wie du das heute umsetzen kannst, und bei jedem Waldspaziergang ein paar Haselnüsse dabeihaben, um diese im Wald niederzulegen und dem Göttlichen dafür zu danken, dass es alles erhält und alle versorgt. Du machst also nicht genau das, was früher gemacht wurde, sondern überträgst die Essenz auf das Heute, indem du über das Gehörte meditierst oder dich vielleicht auch auf eine schamanische Reise begibst, um Inspiration für deinen ureigenen Weg zu bekommen.
Bis heute aus Schriften Erhaltenes und durch Forschung gewonnene Erkenntnisse erweiterst du also durch „spirituelle Mythenforschung“, die dein Erleben innerhalb der Anderswelt im Kontext mit den Überlieferungen miteinbezieht.
Schamanismus war und ist immer ein Weg der Erfahrung. Mit solchen Reisen, die von der Basis alten Wissens aus starten und sich dann ganz frei auf neuen Wegen entfalten, stärkst du dein geistiges Feld und erspürst ganzheitlich, was dich trägt und dir Kraft gibt.
Die geführten Reisen, die du am Ende dieses Buches als Download-Möglichkeit findest, sind erste Schritte in diese vielleicht noch unbekannte Welt und Gelegenheiten, mit Trancezuständen zu experimentieren.
Trance und Ekstase sind hilfreiche Schlüssel, um sich mit offenem Geist all dem zu nähern und in Hingabe zu erleben, was ist. Der Begriff „Ekstase“ stammt vom griechischen Wort ékstasis und bedeutet wörtlich „aus sich herausgetreten sein“, was oft als Verzückung, „außer sich sein“ oder höchste Hingabe umschrieben wird. In dieser höchsten Hingabe geht es stets darum, sich einzulassen, sich führen zu lassen, sich anzuvertrauen, sich frei fließen zu lassen.
Aus schamanischer Sicht ist es wichtig, aus sich heraustreten zu können, damit wir anders mit der Welt in Kontakt treten können. Sowohl mit der Welt, in der wir leben, die uns umgibt, als auch mit der reichen Innenwelt, die wir alle haben, und mit den Anderswelten, in denen wir so herausgelöst aus uns selbst (sprich herausgelöst aus unserem Ego) unterwegs sein können. Aus dem veränderten Kontakt heraus reagieren und agieren wir anders in der Welt, und durch das Eintauchen in andere Bereiche der Wirklichkeit erhalten wir insgesamt ein ganzheitlicheres Bild.
Wie gesagt: Viele wahrhaftige Quellen zur spirituellen Praxis gibt es in diesem nordischen Bereich nicht, vor allem keine lebendig sprudelnden. Anders als in anderen Traditionen – beispielsweise der des tibetischen Buddhismus – gibt es keine lückenlose Abfolge der Weitergabe von Lehrer zu Schüler, keine zurückverfolgbare Linie der mündlichen Überlieferung. Diese Kette gab es vielleicht einmal, aber dann ist sie sowohl von den Römern als auch später durch die Christianisierung unterbrochen worden und kann auch nicht mehr „repariert“ werden. Hält man sich daher ausschließlich an die historischen Texte, so greift man auf eher sparsame Fakten zurück, die erst sehr lange nach der Blütezeit dieser Kulturen aufgeschrieben wurden und dies oft von Menschen mit einem ganz anderen Weltbild3. Sie entstammen also dem Hörensagen (im besten Falle eigener Beobachtung, jedoch auch dies von Menschen mit einem anderen spirituellen und auch moralischen Weltbild/Hintergrund), sind vermutlich verwässert über die Zeit, ungenau und teils widersprüchlich.
Du kannst deine Zeit damit verbringen, immer mehr zu lesen und zu vergleichen, was dieser bekannte Forscher sagt oder jener namhafte Runenexperte, und immer weiter Texte prüfen – so wirst du zu einem Experten auf dem Gebiet der Entschlüsselung historischer Texte und archäologischer Funde werden.
Oder du stellst dieser Herangehensweise (die keinesfalls schlecht ist) auch empirische Methoden an die Seite und legst das schamanische Weltbild als einen Erfahrungsweg zugrunde, ohne alles gleich mit dem Etikett von „Richtig“ oder „Falsch“ zu belegen. Auf diese Weise wirst du zu einem Forscher in wahrhaft eigener Sache und entdeckst vielleicht die Mythen als etwas, das wirklich zu dir (zu dir ganz persönlich!) sprechen kann.
In den Sagas finden sich einige Hinweise zu Praktiken, die man nach heutigem Verständnis als schamanisch bezeichnen würde. (Einige davon werden wir dir in diesem Buch als Übungen vorstellen.) Dazu zählen Trancerituale, initiiert durch Rhythmen oder durch das Singen alter Zauberlieder, Ekstasetechniken mit pflanzlichen Substanzen, Hellsichtigkeit, Wahrsagen, Divination aus den äußeren Zeichen, Praktiken mit klar benannten Tieren oder Pflanzen, Utiseta („draußen sitzen“), um mit der Natur beziehungsweise den Ahnen Kontakt aufzunehmen und Visionen zu empfangen, und vieles mehr.
Es ist an dir, Erfahrungen zu machen, zu spüren und dich in diese Geschichten und ihre Bedeutungen hineinzuversenken, um genau jene Ebenen zu erfassen.4
Wenn wir uns davon lösen können, uns ausschließlich von den rudimentären Quellen leiten zu lassen, die nicht einmal voll durchdrungen sind und auch gar nicht aus der Feder damaliger Heiden stammen, und uns für weitere Zugänge öffnen, können wir ganz andere Eindrücke zusammentragen und beginnen möglicherweise, unser spirituelles Kulturerbe wiederzuerlangen. Spiritualität wurde seit jeher erfahren und nicht „nur“ gelesen – sie beseelte, berührte, be-geisterte. Wenn wir die verlorenen Bindeglieder wiederfinden wollen, so können wir den Versuch wagen, die alten Schriften als letzte glühende Kohlen zu sehen, die kurz vor dem Erlöschen sind und einst zu einem großen Feuer gehörten. Wir können unseren Lebensatem, unseren Spirit, hinzugeben, um sie hier und jetzt wieder vorsichtig anzufachen, bis wieder eine lebendige Flamme hervortritt, und uns dann schlussendlich um dieses Feuer versammeln, um die alten Geschichten neu zu erzählen.
Es ist ein wenig, als würden wir wertvolles altes Metall einschmelzen und etwas Neues daraus gießen oder schmieden. Einiges wird aus der gleichen Materie sein, doch die Form darf sich neu finden.
„Die Asen einen sich auf dem Idafelde,
Über den Weltumspanner zu sprechen, den großen,
Uralter Sprüche sind sie da eingedenk,
Von Fimbultyr gefundner Runen.
Da werden sich wieder die wundersamen
Goldnen Tafeln im Grase finden,
Die in Urzeiten die Asen hatten,
Der Fürst der Götter und Fiölnirs Geschlecht.“5
Diese goldenen Tafeln kannst du heute wiederfinden, sie in den Feuern deiner Seele einschmelzen und ihnen eine Form geben, die lebendig sein wird und gleichzeitig dich lebendig macht. Du kannst die alten Schriften studieren, die Mythen auf neue Weise erzählen und ihnen auf schamanischen Reisen nachgehen … und alles ineinandergreifen lassen, sodass die alten Geschichten mit der darin versteckten archetypischen Kraft und alterslosen Weisheit wieder zugänglich werden. Du kannst auf vielen verschiedenen Ebenen auspacken, was so lange verborgen war und die mythologische Überlieferung von einem Museumsstück in etwas Atmendes, Gegenwärtiges verwandeln.
3Der Isländer Snorri Sturluson, der die uns heute bekannten Texte der Edda gesammelt hat, war beispielsweise Christ und nicht etwa bekennender Heide.
4Wir sind in unseren Kursen immer wieder erstaunt, wie zunächst subjektives persönliches Erleben im Rahmen eines gemeinsamen experimentellen Erforschens (insbesondere ohne vorher die alten Schriften gemeinsam gelesen zu haben, also „unwissend“) Qualitäten zutage fördert, die viele Teilnehmende sehr ähnlich wahrnehmen. Es lassen sich Erfahrungen zusammentragen und gemeinsam auswerten – wobei es sich bei diesen Auswertungen manchmal nicht mehr oder weniger um Vermutungen handelt als bei den unterschiedlichen Theorien von Historikern zu solch spirituellen oder religiösen Vorstellungen.
5Völuspa 58 und 59 (Hier gleich zu Beginn ein wichtiger Hinweis: Seltsamerweise sind in verschiedenen Ausgaben der Edda die einzelnen Verse unterschiedlich durchnummeriert. Da wir mehrere Ausgaben der Edda benutzt haben, um jeweils die Übersetzung zu wählen, die am besten in den Kontext unserer Argumentation passt, möchten wir dich bitten, etwas großzügig zu sein, wenn du die von uns angegebenen Stellen nachschlägst. Es kann sein, dass der von uns angeführte Vers in deiner Ausgabe der Edda auf die Zahlen bezogen etwas früher oder später auftaucht.)