Jede Kultur erzählt ihren eigenen Schöpfungsmythos, da Menschen wohl zu allen Zeiten und in allen Gegenden der Welt an ihrem Ursprung interessiert waren. Woher kommen wir? Aus welcher Quelle stammt das Leben? Wieso gibt es überhaupt irgendetwas? Diese und ähnliche Fragen haben Menschen schon immer bewegt. Auch die heutige moderne Kultur hat ihre Schöpfungsmythen, denn die Erkenntnisse der Menschen stoßen heute ebenfalls an Grenzen, hinter denen das Unbekannte liegt. Wenn heute von der Urknalltheorie die Rede ist und diese allgemein als das stimmigste Modell der Entstehung des Universums akzeptiert wird, wird damit die früheste Zeit des Universums beschrieben, nicht aber der Urknall selbst erklärt und schon gar nicht seine Ursache. Das große Warum liegt weiterhin im Dunkeln.
Und daher kursieren weiterhin alle möglichen religiös inspirierten Theorien und Konzepte neben Annahmen, dass es sich einfach um Zufall handele. Auch Ideen darüber, dass sich unser Universum aus einem anderen, bereits bestehenden Universum „ausgestülpt“ habe, existieren, verschieben jedoch die Frage nach dem Ursprung des Seins nur weiter.
All diesen Theorien gemein ist aber, dass sie nicht nur Aussagen über die Möglichkeiten unseres Ursprungs tätigen, sondern damit auch gleichzeitig über das Welt- und Menschenbild derer, die sie vertreten. Wenn jemand davon ausgeht, dass ein guter Gott diese Welt aus Liebe geschaffen hat, dann dürfte er wohl auch davon ausgehen, dass das Leben als solches gut ist und jedes Wesen eine ihm eigene Wertigkeit oder Heiligkeit besitzt. Nimmt jemand dagegen an, dass ein abgrundtief böser Dämon diese Welt als Strafkolonie für Sünder erdacht habe, wird derjenige wahrscheinlich auch meinen, dass alle hier existierenden Wesen minderwertig seien und nur das Schlimmste verdient haben.
Ebenso wird in den meisten Schöpfungsmythen deutlich, welche Dinge, Naturphänomene und Wesenheiten für die jeweilige Kultur eine wichtige Rolle spielen. Kulturen, deren Nahrungsgrundlage das Meer ist, werden möglicherweise in ihren Schöpfungsmythen von einem Urozean sprechen, aus dem alles Leben stammt. Kulturen, die hauptsächlich von der Jagd auf Paarhufer abhängig sind, werden in ihren Mythen vielleicht vom „großen Rentier“ erzählen, das alles Sein in die Welt brachte. So kannst du schon viel über die Lebensrealität eines Volkes lernen, indem du nur den Schöpfungsmythos betrachtest. Auch die nordischen Erzählungen vom Anfang der Zeit lassen erahnen, wie sich die Welt für die Menschen dieser Kulturen darstellte.
Gap var ginnunga, en gras hvergi … – „Es gab nur die gähnende Leere, noch nicht einmal Gras.“6 So beginnt die Schöpfung in der nordischen Mythologie. Ein Satz, der direkt erkennen lässt, dass hier eine Bauernkultur ihren Ursprung zu beschreiben versucht. Das Gras, die Nahrung für die Weidetiere, die die Grundlage des Lebens für diese Menschen waren, wird gleich zu Beginn erwähnt. Es gab nichts, noch nicht einmal Gras. Wo sollte unser Vieh satt werden? Wie sollten wir ohne Vieh leben können? Nichts war so, wie wir es heute kennen … nur Chaos, keine Ordnung. Da konnte nicht einmal Gras wachsen.
Ginnungagap, die gähnende Leere, ist der Anfang, ein Abgrund, in dem alles noch durcheinander ist und den man mit dem biblischen Tohuwabohu7 vergleichen kann, das laut der Genesis vor der wirklichen Schöpfung existiert. Anders aber als in der jüdisch-christlichen Tradition, in der ein Gott mit seiner geistigen Schöpferkraft und seinem machtvollen Wort die Welt ins Sein hebt, spricht die nordische Überlieferung von ganz anderen Kräften, die ebenfalls wichtig für die ganze Kultur sind: Gegensätze.
Südlich von Ginnungagap, diesem Abgrund der Formlosigkeit, liegt Muspellheim, eine Welt, die gänzlich aus Feuer besteht. Vulkane, Lavaströme, Flammen … ein einziger großer Brand. Nördlich von Ginnungagap ist Niflheim zu finden, eine Welt aus Schnee, Nebel und Eis, klirrend kalt und sturmumtost. Über den Abgrund hinweg beginnen diese beiden Welten ineinanderzufließen. Feuer und Eis ergießen sich in die formlose Leere und vermischen sich, lassen etwas Neues entstehen.
Dieser Gedanke, dass aus Gegensätzen Neues entsteht, ist vielen heidnischen Weltsichten zu eigen. Eine Creatio ex nihilo, also eine Schöpfung aus dem Nichts, wäre diesen Kulturen als viel zu abstrakt erschienen. Gerade weil sie so naturnah lebten und die Natur somit jeden Tag vor Augen hatten, erschien ihnen eine Schöpfung aus einer Vereinigung heraus viel einleuchtender. Man konnte schließlich ständig in der Natur beobachten, dass unter anderem aus der Vereinigung von weiblichen und männlichen Tieren neues Leben entstand. Oder um es anders und noch direkter auszudrücken: Kein Bär schnippt mit der Pfote und bringt so neue Bärenkinder in die Welt. Dazu ist schon ein gewisser Körperkontakt mit einem andersgeschlechtlichen Bären notwendig. Eine Einsicht, die die meisten alten Kulturen auch auf den Bereich des Göttlichen ausweiteten und daher nie eine solch verklemmte Prüderie entwickelten, wie man sie leider allzu oft in den monotheistischen Religionen vorfindet.
Aber zurück zur nordischen Mythologie: Feuer und Eis fließen zusammen, und aus diesem Miteinander wird etwas Neues geboren … Ymir, ein riesiges Urwesen, sowohl männlich als auch weiblich, entsteht. Ymir ist weder klug noch besonders inspiriert, sondern wird als Ungeheuer mit einem sehr rudimentären Bewusstsein beschrieben. Das Einzige, was dieses Urwesen will, ist etwas zu essen und Schlaf. Und die Nahrung, die so wichtig ist, bekommt Ymir von einem anderen Wesen, das auf wundersame und nicht näher beschriebene Weise zeitgleich mit ihm in der von Feuer und Eis belebten Leere von Ginnungagap entsteht: Audumla, die Urkuh. Auch hier wird wieder deutlich, welch eine Kultur sich diese Mythen erzählt hat. Nur für Bauern ist die Kuh so wichtig, dass sie auch schon in der Schöpfungsgeschichte auftaucht. Mit dieser Wichtigkeit des Viehs hängt übrigens auch die Tatsache zusammen, dass der erste Buchstabe im Runenalphabet Fehu ist, was gleichermaßen für Vieh und Fülle steht. Eine große und gesunde Viehherde ist nun einmal das, was das Leben der Menschen ermöglicht.
Audumla leckt an den salzigen Eisbrocken, die sie umgeben, und aus ihrem Euter quillen Ströme von fetter Milch, die ihrerseits Ymir ernähren, sodass dieses Urwesen sich so pudelwohl fühlt, dass es sich aus sich selbst heraus vermehrt. (Ymir ist ja sowohl Frau als auch Mann, daher scheint das kein Problem zu sein!) Aus dem Schweiß, der Ymirs Achseln entströmt, entstehen eine Frau und ein Mann, beides Riesen. Und Ymirs Füße zeugen miteinander einen weiteren Sohn, der ebenfalls ein Riese ist. Diese drei Riesen sind die Urahnen aller weiteren Riesen, die innerhalb der Mythologie immer wieder eine Rolle spielen und denen du in diesem Buch noch einige Male begegnen wirst.
Audumla leckt weiter an dem Eis, und irgendwann – wahrscheinlich nach Äonen – spürt sie Haare an ihrer Zunge. Unbeirrt leckt sie weiter … und nach und nach kommt ein weiteres Wesen zum Vorschein, das uns in der Überlieferung als Buri vorgestellt wird. Ein hübscher Kerl, der sich gleich auf die Suche nach einer Frau macht, jedoch nur Riesinnen vorfindet und so mit einer von ihnen vorliebnimmt. Aus dieser Verbindung entsteht nun Burr, der wiederum der Vater von Odin ist. Endlich ein bekannter Name! Ebenso entsteigen aus den Nebeln drei Frauen, die Nornen. Schicksalsgöttinnen, vor denen selbst die Götter größten Respekt haben. Niemand weiß, woher sie kamen, aber mit dem langsamen Entstehen der Welt, wie wir sie kennen, kommt eben auch das Schicksal ins Leben. Das eine gibt es nicht ohne das andere.
Odin hat noch zwei Brüder, deren Namen in unterschiedlichen Varianten der Überlieferung anders lauten: Mal werden sie als Vili und Ve bezeichnet, mal als Hönir und Lodur. Gemeinsam beschließen diese drei jungen Götter eines Tages, dass es an der Zeit wäre, Ymir zu beseitigen. Ein riesiges Ungeheuer, das in der Mitte Ginnungagaps den meisten Platz einnimmt, scheint ihnen aus irgendeinem Grund ein Dorn im Auge zu sein. Die jungen Götter wollen ihre Kräfte erproben, wollen schöpferisch tätig sein – und Ymir ist einfach im Weg. Mit vereinten Mitteln erschlagen sie Ymir und bilden aus den Überresten des riesigen Leibes die Welt bzw. die Welten. Das Fleisch Ymirs wird die Erde, die Knochen werden die Berge, aus den Zähnen machen Odin und seine Brüder die Steine, die Haare werden zu Bäumen und so weiter. Das Blut Ymirs wird zu den Meeren und Flüssen, wobei Letztere zuerst so eine starke Strömung haben, dass fast alle Riesen darin ertrinken. Nur ein Riese und seine Frau entkommen dieser Sintflut. Von diesem Paar stammen dann alle weiteren Riesen ab und ebenso die Trolle und viele weitere „Unwesen“, die die Mythologie im Folgenden als Gegner der Götter auftreten lässt.
Mitten in Ginnungagap entsteht nun also unsere Welt: Midgard. Und sie wird nicht aus dem Nichts geschaffen, sondern aus Material, das bereits vorhanden ist. Ein totes Ungeheuer ist die Grundlage, was vielleicht erst einmal makaber wirkt, aber auch zeigt, dass die Menschen, die diese Mythologie entwickelten, einen Einblick in die großen Kreisläufe der Natur hatten und erkannten, dass aus allem, was stirbt, etwas Neues entsteht beziehungsweise dieses Tote zur Nahrung für neues Leben wird. Odin und seine Brüder bauen die Welt, sie heben sie ins Dasein, verwandeln den Tod in neues Leben. Zuletzt haucht Odin als Mächtigster der drei Brüder seinen Lebensatem über die neu entstandene Welt und alles wird lebendig. In den Bäumen singen plötzlich Vögel, Eichhörnchen flitzen umher, die Meere werden von Fischen bevölkert, die Ebenen bringen große Tierherden hervor … und endlich … endlich gibt es auch Gras!
Die Welt ist also bereit für die Menschen, die entstehen, als Odin und seine Brüder8 einen Strandspaziergang machen und zwei angeschwemmte Holzstücke finden. Mehr aus einer Laune heraus formen die drei Brüder die ersten Menschen namens Ask und Embla. (Ask bedeutet „Esche“ und bei Embla vermutet man eine Verwandtschaft mit dem Wort „Ulme“.)
Die Götter hauchen den neuen Wesen Atem, Geist und Bewegung ein9 … und fertig ist die neue Welt, die dann als Teil eines Weltengefüges beschrieben wird, welches sich um und an einem großen Weltenbaum gruppiert – ein Weltbild grenzenloser Verbundenheit, das im nächsten Kapitel Thema sein wird.
Midgard, die Welt der Menschen, ist die Mitte, das Zentrum. Entstanden aus der Vereinigung von Gegensätzen, aus Feuer und Eis. Geformt von Göttern aus Gewalt, Tod, Schöpferwillen und Neugeburt. Eine Schöpfung aus Gegensätzen, die in unserer Welt stets spürbar sind und die auch in uns Menschen wirken. Gegensätze, die notwendig sind, um Leben zu gebären, und die daher auch respektiert und angenommen werden müssen. Die Perspektive einer naturnahen Gesellschaft, von der unsere heutige Gesellschaft und jeder einzelne Mensch viel lernen kann: Gegensätze akzeptieren, widerstrebende Kräfte in uns selbst als schöpferische Impulse betrachten; Kreisläufe und Rhythmen anerkennen; den Tod nicht ausklammern und tabuisieren, sondern ihn als Teil der Schöpfung ansehen; eine Spiritualität entdecken, die nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen bejaht, sondern auch zu den dunklen Aspekten des Lebens steht; und vor allem uns selbst als Teil der Welt begreifen – als einen integralen Teil, der nicht außerhalb oder der Natur gegenüber steht, sondern mitten in der Natur mit ihr und allem anderen in Gemeinschaft lebt.
Die bäuerliche Kultur, in der diese Mythen entstanden sind, zeigt sich, wie schon erwähnt, deutlich in der immens wichtigen Rolle der Kuh, die diese im Schöpfungsmythos einnimmt. Und auch die Bedrohungen von außen durch Eisriesen und Frostriesen, welche die Götter hassen, weil sie für die Blutsintflut gesorgt haben, in denen ihre Verwandten ertrunken sind, werden immer wieder in den Mythen aufgegriffen.10
Diese Riesen, diese Urkräfte, sind ein Bild der harten Winter, denen die Menschen des Nordens trotzen mussten. Immer wieder versuchen diese bedrohlichen Urkräfte die Oberhand zu gewinnen … Schnee fällt und bedeckt die Landschaft mit einem weißen Leichentuch, das fast alles unfruchtbar macht. Hagel zerstört die Ernten. Mit der Kälte kommt der Hunger, man kann weder etwas ernten noch aufs Meer hinausfahren, um zu fischen. Man sitzt in einer zugigen Hütte und wartet, dass die Eisriesen wieder verschwinden.
Um das Überleben zu sichern, baut man auf Fruchtbarkeit und Ordnung. Fruchtbarkeit des Viehs und der Menschen (je mehr Kühe man hat, desto mehr Fleisch und Milch hat man zur Verfügung; je mehr Nachkommen man selbst hat, desto mehr Menschen können auf dem Feld helfen) und eine göttliche Ordnung, die sowohl der Leere und dem Chaos das Leben entreißt als auch die gewaltigen Kräfte der Natur in Schach hält. Eine Ordnung, an der die Menschen gemeinsam mit allen anderen Wesen mitwirken, um die bedrohlichen Kräfte des Chaos zurückzudrängen. Das ist die Welt deiner und unserer Vorfahren hier im Norden Europas.
Und vielleicht können wir alle auch aus diesen Hinweisen etwas lernen: dass unser aller vergleichsweise bequemes Leben keine Selbstverständlichkeit ist, sondern ein Grund für Dankbarkeit; dass eine Ordnung nicht gänzlich von selbst entsteht, sondern manchmal errungen werden muss, was unser Mitwirken erfordert; dass manchmal etwas ausgehalten werden muss, ohne dass es irgendeine Beschwerdestelle gäbe, an die wir uns wenden könnten; und letztlich, dass wir im Betrachten all dieser Zusammenhänge neue Kraft und ein Bewusstsein unserer unumstößlichen Würde finden.
6Völuspa 3
71. Buch Mose 1, 2: „die Erde aber war wüst und wirr“, manchmal auch mit „formlos und leer“ übersetzt.
8In manchen Versionen dieser Geschichte sind es Odin, Vili und Ve, in anderen Odin, Hönir und Lodur, in wieder anderen Odin, Hönir und Loki, auf den wir später noch kommen.
9In der Version, in der auch Loki an dieser Schöpfung beteiligt ist, haucht dieser den Menschen die Begeisterung ein.
10Auch den Menschen können die Riesen nicht viel abgewinnen, da Menschen nun einmal eine Schöpfung der Götter sind, zu denen das Verhältnis nachhaltig gestört ist.