VON ZAUNREITERINNEN UND BRÜCKENWÄCHTERN

Als die Menschen begannen, ihre Gehöfte einzufrieden und in sesshaften, ortsgebundenen Gemeinschaften zu leben, in der jede und jeder genau das beitrug, was seinem oder ihrem Talent entsprach, begannen auch die Umzäunungen. Solche Gelände wurden „Hag“ genannt, und diese Einfriedung bestand häufig aus lebendigen Hecken (gern auch solche mit Dornen, bis heute im „Hagedorn“ namentlich enthalten), um einen gewissen Schutz zu bieten und das eigene Gebiet klar zu umgrenzen. Der Stamm wurde vor Übergriffen anderer, feindlich gesinnter Stämme bewahrt, und das Vieh war vor den wilden Tieren des Waldes geschützt. Alles jenseits dieser Hecke war ein wilder, ungezähmter und oft gefährlicher Bereich, alles innerhalb der Hecke galt als sicher. Doch in jeder Gemeinschaft gab es auch Menschen, die „am Rande“ agierten oder im sogenannten Zwischenbereich. Im althochdeutschen Wort „Hagazussa“ für Hexe ist diese Dualität von innen und außen enthalten: Hexen sind die Zaunreiterinnen, die auf der Hecke (dem Zaun) sitzen und mit einem Bein absolut fest verwurzelt im Hier und Jetzt, im Geordneten und durch die Hecke eingezäunten Bereich (also im Hag) und mit dem anderen Bein im wilden, ungezähmten Bereich jenseits der Hecke stehen. In diesem Bereich, der ungezügelt und frei einfach wild wächst und gedeiht, könnte man auch eher sagen, „fliegt“ sie mit dem anderen Bein. Denn dies ist ein nicht durch Hecken eingefriedeter oder irgendwie urbar gemachter Bereich, sondern ein ganz und gar ursprünglich gewachsener Raum, in dem die Natur die Geschicke lenkt.

Diese Hecken oder Zäune sind Grenzbereiche, und die Heckenreiterin darauf hat eine Art Vermittlerrolle inne, da sie sich in beiden Bereichen auskennt, in diesen wandelt und immer wieder hin- und herwechseln kann.

Das Bild erinnert sehr stark an die weltweiten Beschreibungen von Schamaninnen, Medizinmännern, Heilkundigen, Zauberern und Priesterinnen, oder welche Begriffe man in der jeweiligen Kultur auch immer dafür geprägt hat. Menschen, die Brücken bauen zwischen dieser Welt und anderen Welten, seien es Jenseitsbereiche, Andersweltbereiche, zwischen Tieren oder Pflanzen und Menschen (also zwischen den Arten), zwischen den Kulturen/Stämmen, zwischen sogenannten Krankheitsgeistern und Menschen oder Tieren, zwischen Menschen und deren Seelen, zwischen allem, was bekannt und mehr oder weniger unbekannt ist. Immer ging es um die Vermittlung zwischen unterschiedlichen Bereichen und dabei letztlich um das Erlangen oder Erhalten von Harmonie. Man könnte heute gut und gerne sagen, dass ein Kenning25 für schamanisch Praktizierende ebenfalls „Brückenbauer“ beziehungsweise „Brückenbauerin“ ist. Schamanisch Reisende gehen über Brücken, erforschen und lernen in anderen Welten jenseits der Hecke, kehren zurück über diese Brücken und berichten den Menschen, die innerhalb der Einfriedung warten, davon. Durch diese Berichte bauen sie häufig wiederum Brücken zwischen den „Welten“, und dies ist sehr vielfältig gemeint, da es außer dem oben Genannten auch ganz schlicht die Vermittlung zwischen den Menschen untereinander beinhalten kann. Brücken bauen oder Brücken zu bewahren ist seit jeher ein verbindendes Element und steht in Zusammenhang mit der Harmonie.

In den verschiedensten Kulturen weltweit finden wir Mythen zu und Bilder von Flüssen, die diese Welt der Lebenden vom Reich der Verstorbenen trennen, und teilweise kommt dabei ein Fährmann vor, der die Wesen von einer Welt in die andere bringt. (In diesem Falle den „Zaunreiter“, der auf der Wassergrenze lebt und an jedes der beiden Ufer gelangen kann.) Manchmal wird auch ein Urmeer oder ein riesiger See, über dem mystische Nebel hängen, beschrieben. In der nordischen

Mythologie findet sich die Gjallarbru, die Brücke, die ins Reich der Toten führt. In einigen Zusammenhängen wird diese Grenze passiert, und wir gehen in diesem Buch auch an verschiedenen Stellen darauf ein, was dies aus unserer Sicht bedeutet.

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25Mit „Kenning“ ist eine poetische Umschreibung gemeint. Der Plural lautet Kenningar. Mehr dazu findest du in Teil III im Kapitel zu Odin, ab S. 110.