VON GEBURT AN ALLSEHEND UND IN ALLEN WELTEN ZU HAUSE: HEIMDALLR

Dieses Buch ist in gewisser Weise ein leidenschaftliches Manifest für die alten naturverbundenen Wege, für die Spuren schamanisch-magischer Wurzeln unserer Kultur und die teilweise fast vergessenen Schamanengottheiten, die so viel Zauber und tiefe Verbundenheit in unseren Alltag zurückbringen oder in diesem verankern können.

Wir sind uns ganz sicher, dass dir die Erde und der Schutz der Natur am Herzen liegen und du dein Möglichstes tust, um nachhaltig, ganzheitlich und achtsam mit unser aller Mitgeschöpfen umzugehen. In Yggdrasil ein Weltbild der Verbundenheit zu erkennen und in den Fruchtbarkeitsgöttern die tiefe Bedeutung eines gesunden Genährtseins auf allen Ebenen zu sehen wird bestimmt deinen inneren Boden bereitet haben, um darin nach und nach die alten Wurzeln auf deine Weise wiederzubeleben und etwas für dich Alltagstaugliches daraus erwachsen zu lassen. Lass uns dazu gemeinsam Samen in Form von weiteren magischen Mythen und vielschichtigen Wesen ausbringen, sodass du selbst schauen kannst, was daraus in deinem Leben gedeihen mag und wer oder was dich vielleicht am meisten berührt und zu dir spricht.

Lass dich daher auf den nächsten Seiten gerne vom und für den Wächter der Weltenbrücke Bifröst begeistern: Heimdallr.

Heimdallr ist in vielerlei Hinsicht eine spannende Gestalt, und es ist äußerst schade, dass er eher im Schatten der anderen Götter steht und daher heute fast vergessen ist. Dabei gibt es zu ihm unglaublich viel zu erfahren und zu erspüren.

Schon die Geschichte seiner Geburt gibt uns klare Hinweise darauf, dass er magische Kräfte hat. Im Gedicht Heimdallrgaldr (was übersetzt „Heimdallrs Zauberlied“ bedeutet und ebenfalls auf seine Zauberkunst hinweist) wird beschrieben, er sei der Sohn von neun Schwestern – und es wird allgemein angenommen, dass er Odins Sohn ist, obwohl es keine hundertprozentige Sicherheit darüber gibt. Doch gehen wir einmal davon aus, dass diese neun Schwestern neun Wellen des Meeres, vermutlich Töchter der Meeresgottheiten Aegir und Ran, sind. In manchen Nacherzählungen wurden daraus Seejungfrauen oder Meerjungfrauen, doch das liegt wohl daran, dass eine Welle zu wenig menschlich-körperlich ist, als dass man sie sich als Wesen vorstellen konnte.

Außer diesen zwei Zeilen „Von neun Müttern bin ich der Junge, von neun Schwestern bin ich der Sohn“29, die Snorri Sturluson in seinem Gylfaginning zitiert, ist nichts mehr erhalten vom Heimdallrgaldr – jedoch soll im Skaldsskaparmal (einem Teil der Prosa-Edda) noch der Hinweis auf eine Tötung Heimdallrs enthalten sein, von welcher er offensichtlich wiederauferstanden sein muss. Schon seine Zeugung geschieht somit in einer Art Zwischenwelt, ebenso sein Entstehen und außergewöhnliches Geborenwerden, denn diese neun Wellen tragen ihn irgendwann ans Ufer. So ist er auf besondere Weise von Beginn an ein Verbindungsglied zwischen dem unergründlichen weiten Ozean, aus dem alles Leben an Land ging, und dem Festland – zwischen dem Urgrund allen Seins und den neun Welten. Heimdallr ist damit Verbindung, „Weltenbrücke“ und Wächter in einem.

Er hat neun Schwestern als Mütter – wird also folglich auch neun Mal geboren (von jeder dieser Mütter ein Mal). Diese Zahl ist in der germanischen Mythologie sehr wichtig, da sie drei Mal die heilige Drei in sich trägt. Auch Odin hängt neun Tage am Weltenbaum,30 um anschließend die Runen zu empfangen. Der Weltenbaum selbst führt in neun Welten, die das nordische Universum bilden.31 Die heilige Drei enthält in sich die drei Gesichter der Großen Göttin: Jungfrau, Mutter/reife Frau, weise Alte und damit zugleich das Zyklische der Mutter Erde: Werden, Wachsen/Gedeihen/Reifen, Vergehen. In der dreifachen Drei könnte sich für unsere Vorfahren das „Allumfassende“ oder eine vollständige Ganzheit gezeigt haben, weswegen neun Welten das ganze Universum sind und besonders wichtige Momente in den Mythen immer wieder die Neun aufgreifen. Es ist ein wenig vergleichbar mit der Zahl 1.000 in anderen Mythen, die auf „unendlich viele“ oder „unzählige“ hinweist. Möglicherweise wird in Heimdallrs Fall hier bereits mythologisch angelegt, dass er in alle neun Welten hineingeboren wird, sie alle kennt und auch alles in ihnen sehen kann. Er ist also durch die neunfache Geburt in alle neun Welten allumfassend initiiert. Auch im weiteren Zusammenhang mit ihm wird dir die magische Zahl Drei oder eben Neun sehr häufig begegnen.

Er selbst ist bewandert in der Kunst des Gestaltwandels (wie auch sein Vater Odin und Loki32), was seit jeher ein Zeichen für einen Zauberkundigen oder Schamanen ist. Er nimmt stets die Gestalt eines Seehundes an und zeigt darin aus unserer Sicht ganz deutlich seine Herkunft aus den Tiefen des Meeres beziehungsweise seine Geburt durch neun Wellen. Dies allein zeichnet ihn fast schon als „Heckenreiter“ aus, der mit einem Teil seines Seins fest in Asgard, der Welt der Götter, steht und der mit einem anderen Teil im Meer mit all seinen Wogen beheimatet ist, was sein Beiname Vindhler (könnte in etwa „Wind-Meer“ bedeuten) noch unterstreicht.

Auch seine Wächterposition auf der Brücke zeigt an, dass er ein wenig außerhalb von allem steht, also am Rande des Hag, der Einfriedung, und doch gerade hier das Verbindungsglied bildet. Irgendwie zwischen den Welten und doch in alle Welten gehörend, in alle Welten zugleich blickend, wachsam und achtsam.

Heimdallr wird in sechs Gedichten der Edda erwähnt (Völuspa, Grimnismal, Lokasenna, Thrymskvida, Rigsthula, Hrafnagaldr Odins) und in der Völuspa, dem Lied der Seherin, sogar (heilige) drei Mal.

Es heißt, die Etymologie zu seinem Namen sei unklar. Sein Name lässt sich spannenderweise auch auf drei Weisen deuten. Heimr ist die Welt, hier sind sich die Fachkundigen einig. Dallr wird einerseits als „Leuchten“ übersetzt und somit trägt dieser uralte Seher den Namen „Weltenleuchten“ oder „der, der die Welt erleuchtet/beleuchtet“. Wir finden einen ähnlichen Beinamen bei der Göttin Freyja: Mardöll, die das Meer erleuchtet. Dallr heißt auch „Bogen“ und gibt so den Hinweis auf den Regenbogen bzw. die Regenbogenbrücke, womit sein Name ebenso auf seine Rolle als Wächter der Weltenbrücke hinweisen kann. Dallur hingegen bedeutet „Frucht tragender Baum“, und in Verbindung mit Heimr wäre es der Weltenbaum, worin wir die neun Geburten in jede der neun Welten hinein verorten können beziehungsweise in diesem Schamanengott den Weltenbaum selbst wiederfinden. Welche der Bedeutungen auch immer einst die „richtige“ gewesen sein mag, so steht doch außer Frage, dass er für die gesamte Welt, oder vielmehr alle Welten, eine sehr wichtige Rolle spielte und demnach auch in der heidnischen Mythologie sehr bedeutsam gewesen zu sein scheint.

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29Diese beiden Zeilen klingen im Originaltext ganz wunderbar: „Níu em ek mæðra mögr, níu em ek systra sonr.“ Gylfaginning 27

30Siehe dazu Seite 110 im Kapitel „Odin“.

31Wie auf Seite 38 im Kapitel „Ein Weltbild der Verbundenheit“ erläutert.

32Siehe Seite 132 im Kapitel „Loki“.