Genau wie es einigen anderen Söhnen und Töchtern berühmter Eltern ergeht, kennen die meisten selbstverständlich Odin – jedoch kaum jemand seinen Sohn Heimdallr und dessen enorme Fähigkeiten, die allesamt Hinweise auf einen äußerst fähigen Schamanengott unserer Kultur sind. Vielleicht ist diese Tatsache jedoch auch ein Fingerzeig darauf, dass die schamanischen Wurzeln immer weniger eine Rolle spielten und in weiten Teilen Europas33 sogar aufgrund der Gefahr für Leib und Leben versteckt werden mussten.
Wie bei jedem hervorragenden schamanischen Seher sind bei Heimdallr alle Sinne hellwach. Er schläft nie, und im Gylfaginning heißt es ganz poetisch: „er bedarf weniger Schlaf als ein Vogel“ – während dort zugleich seine Gabe zu hören mit den Worten gerühmt wird: „Er hört auch das Gras in der Erde und die Wolle auf den Schafen wachsen, mithin auch alles, was einen stärkeren Laut gibt.“34 Ist das nicht bezaubernd?! Wie kann eine Gottheit, die die Wolle auf den Schafen wachsen hört, so in Vergessenheit geraten? Müsste er nicht immer wieder neu Kinderaugen zum Leuchten und Erwachsene zum Schmunzeln bringen und daher seine Geschichte und sein Wesen nach wie vor unseren Alltag verzaubern?
Vielleicht magst du kurz innehalten und tiefer in die Bedeutung hinter diesen Worten hineinspüren und dies für dich festhalten: Was ist für dich in diesen recht poetischen Beschreibungen enthalten? („… weniger Schlaf als ein Vogel, Wolle auf Schafen wachsen hören und Gras aus der Erde heraus und alles, was lauter ist.“)
Es heißt natürlich außerdem: Er sieht absolut alles und das genauso gut bei Tage wie bei Nacht. Dies bedeutet natürlich erst einmal, dass er Einblick in alle Welten hat und jedes Geschehen mitbekommt. Im Zusammenhang mit den Fruchtbarkeitsgöttern (und seinem offenbar allgemein bekannten Interesse für das Gras und die Schafwolle) kann es darauf hinweisen, dass der Wächter Heimdallr mit sehr großer Aufmerksamkeit auch das Wachstum beschützt – und zwar von Vieh und Pflanzen gleichermaßen. Darin liegt eine naturverbundene Achtsamkeit auf die feinsten Regungen in diesen Arten.
Für uns persönlich ist in all diesen überlieferten Beschreibungen die Kunst des schamanischen Sehens35 enthalten, die stets alle Sinne umfasst und niemals nur das Sehen als Sinn der Augen bzw. die Visualisierungskraft meint. Schamanen, Seherinnen und Medizinleute aller Kulturen legten seit jeher Wert auf die feinste Wahrnehmung mit allen Sinnen, was das Riechen, Hören, Schmecken, Fühlen und Spüren miteinbezog und ebenso den sogenannten Kanal des prophetischen Wissens, der blitzartigen Eingebungen gleichkommt und sich vermutlich aus all diesen Sinnen zusammen nahezu explosionsartig ergibt. Diesen letztgenannten Sinn vergleichen wir gern mit dem Comic-Motiv der plötzlich aufblinkenden Glühbirne über dem Kopf, wenn jemandem eine Idee kommt oder ein Licht aufgeht.
Im Thrymlied, das du schon von der Geschichte um Thor und den gestohlenen Hammer kennst, wird Heimdallr als „Weißester der Asen“36 bezeichnet, was strahlende Helligkeit und Licht meinen könnte, und gleich darauf heißt es: „Er war sehr zukunftskundig, wie sonst nur die Vanen.“37 Die Vanen sind das ältere und äußerst naturverbundene Göttergeschlecht und jene, die sich in der Zauberkunst Seidr auskannten und zu den Asen brachten. Hierin zeigt sich also Heimdallrs verbindende Brückenbauerrolle zwischen den beiden Göttergeschlechtern und erhebt ihn unter allen Asen mit diesem einen Satz in die Rolle des größten Sehers neben Odin.
Heimdallr schläft niemals, ist immer mit allen Sinnen hellwach und daher genau der Richtige für seinen Posten an der Weltenbrücke Bifröst, von der aus er in alle Welten zugleich hineinschaut. Er ist der Wächter Asgards, und da Bifröst, wie bereits erwähnt, die Welt der (Asen-) Götter mit unserer Welt, Midgard, verbindet, ist er derjenige, auf den du als Erstes treffen würdest, wenn du dich aufmachen würdest, um über die Weltenbrücke zu gehen. Auf dieser Regenbogenbrücke ist Heimdallr eine zentrale Gestalt zwischen Göttern und Menschen und nahezu die personifizierte Verbindung dieser Welten oder Arten.
Falls er ein drohendes Unheil herannahen sieht, so besitzt er das Gjallarhorn (das gellende Horn), das überall in den neun Welten hörbar ist und mit dem er im späteren Verlauf der Mythologie Ragnarök, das Ende der Zeit, einläutet.
Auch wenn diese Gottheit selbst fast in Vergessenheit geraten ist, so hat sich in unserem heutigen Sprachgebrauch jedoch etwas ganz beständig bis heute erhalten. Der Weißeste der Asen trug den Beinamen Gullintanni, was „Goldzahn“ bedeutet, und wer kennt nicht das Sprichwort „Morgenstund hat Gold im Mund“?!
Heimdallr, der nie schläft, scheint sein Weltenleuchten auch über seine güldenen Zähne zu verstärken, wenn er stets schon bei Sonnenaufgang achtsam auf der Weltenbrücke steht und den Himmel in leuchtend feurige Farben taucht.
Es heißt, die ersten Deutungen, er sei der Gott der Morgenröte und sein Horn ein Hinweis auf die Mondsichel, seien inzwischen nicht mehr haltbar – doch es ist sowohl das Sprichwort erhalten geblieben als auch u. a. eine Illustration Heimdallrs des dänischen Künstlers J.T. Lundbye von 1907. Sie zeigt ganz deutlich einen Hahn auf seinem Kopf (das Tier, das den neuen Tag ankündigt), das Gjallarhorn und den Regenbogen im Hintergrund.
Spannend ist hier auch die Erzählung in den Sagas, in der ein hell leuchtender Ase mit der Göttin Nott, der Nacht, einen Sohn namens Dagr, den Tag, zeugte. Snorri Sturluson schreibt dazu, dass Dagr „hell und schön, wie die Linie seines Vaters“38 sei.
Einer seiner Kenningar oder Beinamen ist zudem „Wiederbeschaffer von Freyjas Halsschmuck“ und im gleichen Zusammenhang „Lokis Todfeind“, da er nach dem Diebstahl von Freyjas Brisingamen erbittert mit Loki kämpft, um Freyja ihren wertvollen Schmuck zurückzubringen. Der vielgesichtige Gestaltwandler Loki und der Seehund-Gestaltwandler Heimdallr kämpfen hier beide verwandelt in Seehunde gegeneinander. Im späteren Verlauf der Mythologie, nämlich zu Ragnarök, töten sich die beiden dann tatsächlich gegenseitig.
Manche Forscher sehen in Heimdallr einen Feuergott, der dem indischen Agni ähnelt, und dem britischen Autor Brian Branston zufolge steht Heimdallr für das „gute Feuer“39, das uns Wärme schenkt und nützlich ist, während Loki das unkontrollierbare, gefährliche und in Rage geratene Feuer darstellt, dass letztlich Ragnarök, das Ende der Welt, einleitet. Psychologisch können wir sämtliche überlieferte Geschichten um die beiden auch als einen Ausdruck von „zwei Seelen in einer Brust“ deuten, also als zwei unterschiedliche, auf den ersten Blick gegensätzliche Leidenschaften in uns selbst. Wenn du dem in tiefer Innenschau auf den Grund gehen willst, können diese Fragen hilfreich sein:
Vielleicht bist auch du für etwas Feuer und Flamme, brennst schier vor Begeisterung und verbrennst dich zuweilen auch mal daran?
Kennst du diese gegensätzlichen Gefühle von dir?
Welche unterschiedlichen Feuer brennen in dir?
Sind in deinem Leben Dinge vereint, die scheinbar nicht zusammenpassen?
Unser Weltenbrückenwächter gilt zwar nicht als Göttervater, jedoch als „Gott des Ursprungs“; u. a. wegen seiner neun Geburten soll er für den Beginn eines langen Lebens stehen.
Die Rigsthula (das Lied von Rig in der Edda) soll von einem Asen handeln, der einst am Strand spazieren ging und zu einem Gehöft kam. In späteren, bearbeiteten Zusätzen der Prosa-Edda wurde diese Stelle mit dem Zusatz „derjenige, der Heimdallr hieß“ ergänzt und damit Rig mit Heimdallr gleichgesetzt. Eben jener ist der Begründer des Menschengeschlechts. Er bringt den Samen aus, und es entstehen drei menschliche Stände, die jeweils in Urgroßmutter und Urgroßvater, Großmutter und Großvater und Mutter und Vater unterteilt werden und aus denen alle Menschen hervorgegangen sind. Damit wäre Heimdallr, Göttervater Odins Sohn, der Menschenvater und also Vater von uns allen.40
Kannst auch du für dich spüren, dass darin ein
Hauch Magie enthalten ist, wenn du davon ausgehst, dass alle Menschen vom größten zauberkundigen Seher abstammen?
Was heißt das für dich persönlich?
Wie fühlt sich das für dich an?
Und wie könnte dies dazu beitragen, mehr Zauber in deinen Alltag zu bringen?
Es heißt von Rig/Heimdallr, er sei auch ein Lehrer, der in allen Künsten bewandert ist und seinem Sohn das Runenwissen lehrt – die Menschen jedoch, die dazu aufnahmebereit seien, die würde er in allen Künste unterweisen.
Er gilt als ein ernsthafter Gott, der selten zu Scherzen aufgelegt ist und an sich und andere hohe Ansprüche stellt (was aus seinen Andeutungen über mögliche Schüler oder Schülerinnen sehr deutlich hervorgeht).
Der Anfang der Völuspa, das so bekannte „Lied der Seherin“ in der Edda, beginnt ebenfalls mit einem Hinweis darauf: „Gehör gebiete ich allen heiligen Geschlechtern, höheren und niedrigeren, Heimdalls Nachkommen“41 bzw. „Gehör erbitte ich von allen …“, also achtsames Zuhören von beiden Seiten war ihr wichtig.
Gemeint mit „allen“ sind hier Menschen, Götter und nach einigen Auslegungen von Fachleuten auch Riesen (denn die neun Mütter Heimdallrs gelten teilweise als Riesinnen aufgrund eines Berichts im Hyndlalied – und Riesen meinen immer auch Urkräfte der Natur).
Wenn du all das nun in seiner Essenz verdichtest, erhältst du eine spannende Mischung aus dieser vielschichtigen Gestalt des Heimdallr: hochsensibel, Künstlerseele, großer Seher und bereit, all sein Wissen und Können auch zu teilen. Ein uralter Schamanengott, der in alle Welten hineinsieht, der alles wahrnimmt, alles hört, der Natur lauscht und absolute Achtsamkeit verkörpert. Der Sohn von neun Wellen bzw. Urkräften, Wächter der Weltenbrücke Bifröst und (in manchen überlieferten Geschichten) Stammvater der Menschheit.
Sich mit ihm zu verbinden kann uns Menschen helfen, ebenfalls sehend und zielsicher zwischen den Welten zu wandeln und auf die geheimnisvollen Lieder der Erde zu hören, sie in uns erklingen zu lassen und uns von ihnen auf den Pfad führen zu lassen, der uns entspricht und auf dem wir all unsere Talente leben können.
Wenn unsere Ahnen in den Mythen das verpackt haben, was sie über das Leben „wussten“, und in der nordischen Mythologie der größte Seher und Brückenhüter das Geschlecht der Menschen begründete … Was heißt das im Hier und Heute für uns alle?
Was bedeutet es für dich in Bezug auf die Menschheit?
Vielleicht kannst du darin erkennen, dass alle Menschen potenziell mit einer großen Intuition und Visionskraft gesegnet sind. Vielleicht kannst du entdecken, dass alle Menschen die Fähigkeit haben, wahrhaft zu sehen, und dass ihr Eindruck von der Welt und vom ihr zugrundeliegenden Heiligen durchaus bedenkenswert ist. Und das ist nur ein kleiner Teil dessen, was diese Geschichten dir aufzeigen können.
Wir werden dich in den folgenden Kapiteln noch weiter auf diese spannende Reise in die Urkraft des Nordens und die damit verbundenen spirituellen Wurzeln mitnehmen. In den letzten Jahren, in denen wir immer tiefer in all diese Zusammenhänge eingetaucht sind, die sich zwischen den großen Sagen Europas auftun, erkennen wir auch immer deutlicher all das wieder, was uns der schamanische Weg bisher (ganz praktisch und als gelebtes Weltbild) gelehrt hat, und es führt uns doch jedes Mal noch weiter darüber hinaus. Wir erfreuen uns an den so zugänglichen europäischen Schamanengöttern und ihren Helferlein – und an all dem, was uns das heute sein kann. Für so viele Facetten dieses inneren Reichtums brennen immer wieder Kerzen hier in unserem Zuhause, die uns daran erinnern, diese Leidenschaft weiterhin hell und warm lodern zu lassen und aus vollem Herzen an all jene weiterzugeben, die sich gerufen fühlen, und es für sie ganz praktisch erfahrbar zu machen.
33Die sogenannten „Hexenverfolgungen“ im Mittelalter sind bekannt. Weniger bekannt ist, dass unter anderem die spirituellen Traditionen der Sami in Lappland zu Beginn des 17. Jahrhunderts verboten wurden, deren ovale Zaubertrommeln verbrannt und an Schamanen „Exempel statuiert“ wurden. Lange Zeit (noch bis in die 1950er-Jahre hinein!) war es ihnen verboten, zu joiken (traditioneller Gesang der Samen) oder Trommeln zu besitzen.
34Gylfaginning 27. Vgl. dazu auch Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Mythologie, Band 1, S. 213
35Mehr dazu findest du im Buch „Wer wachsen will, braucht starke Wurzeln“ von Jennie Appel.
36Thrymlied 15
37Ebd.
38Vafthrudismal 24 und Gylvaginning 10
39Vgl. Brian Branston: Gods of the North, S. 137 ff.
40Diese Geschichte weicht zwar von denen im Kapitel „Feuer und Eis – Die Schöpfung aus Gegensätzen“ geschilderten Schöpfungsgeschichten ab, doch gibt es in vielen Kulturen nebeneinander bestehende Schöpfungsmythen, die dann jeweils verschiedene Aspekte betonen.
41Völuspa 1