Wir halten es für eine wunderbare Möglichkeit, die Bruchstücke aus archäologischen Funden, Überlieferungen, Mythen und Sagen zu nutzen, um unsere spirituellen Wurzeln zu erahnen. Da du innerhalb des nordischen Pantheons Heimdallr als einen Seher unserer Kultur kennengelernt hast und in ihm die Botschaft steckt, dass wir möglicherweise alle diese Seherfähigkeiten haben, möchten wir dich hier ein wenig mehr in die Magie der Seelenflüge mitnehmen.
Während wir uns sowohl visionär mit schamanischen Methoden beschäftigen als auch in Fachbüchern recherchieren und uns austauschen, spüren wir es immer wieder ganz deutlich: Die alteuropäische Urspiritualität wurde zwar immer wieder unterdrückt und man versuchte sie zuweilen auch ganz auszulöschen, doch letztlich existierte sie weiter. Unter anderem ist sie, trotz all dem, was in Vergessenheit geraten ist, ganz tief in den Menschen noch lebendig. Eine leise Sehnsucht, die dann und wann am Herzen nagt. Vielleicht spürst auch du dies immer wieder einmal und atmest auf, wenn solche „Puzzleteile“ ineinanderfallen.
Die Fäden wurden vor langer Zeit gewebt und mögen in Vergessenheit geraten sein, doch wir können sie wieder neu aufnehmen – und ja, auch etwas ganz Neues, Eigenes daraus stricken. Um bei dem ganz pragmatischen Beispiel zu bleiben: Wir können uns anschauen, woraus die Fäden gesponnen wurden, und erkennen, dass diese (wie bereits erwähnt) größtenteils nur rekonstruiert oder doch zumindest eingefärbt wurden – was wir dann jedoch mit den Fäden, mit der Wolle machen, das ist uns überlassen.
Wir, die Autoren, weben diese Fäden gerade während des Schreibens in unsere neuen Bücher und auch in die Seminare hinein. So viel Urkraft, die wieder erinnert werden mag …! Und wir sind uns ganz sicher, dass auch in dir eine ganz lebendige Kraft ist, eine Facette unserer wundervollen Natur, die sich voll und ganz in dieser Welt entfalten mag. Daher möchten wir dich ermutigen, deine ureigenen Fäden zu spinnen und dein ganzes Sein in die Welt hineinzuweben. Wenn wir dich dabei, so wie beispielsweise mit diesem Buch, ein Stück des Weges begleiten und inspirieren dürfen, freuen wir uns darüber sehr.
In unserer Arbeit tragen wir altes Wissen zusammen, Geschriebenes, durch Kunst Überliefertes, Geschichten und Mythen der Ahnen, Weisheit, die gut versteckt und nicht aufgeschrieben wurde, und wir vereinen es mit dem, was wir auch auf unseren visionären Suchen zusammentragen, was uns auf einem Seelenflug finden will.
Verknüpft mit Samen der Inspiration, die wir so lange in uns tragen, bis sie keimen, reifen, wachsen und erblühen … wenn die Magie und Kraft reif sind, sich zu entfalten.
Manche Erkenntnisse bilden sich und manche Weisheit verankert sich, wenn wir Menschen tanzen, singen, weben und wirken und in hingebungsvoller Ekstase unsere ureigene Sicht sich mit all dem verbinden lassen. Nur in direkter Erfahrung lässt sich den Stimmen von Ahnen, Geistern und Gottheiten lauschen und Urkraft atmen.
Mit dem Feuer der Ekstase zu wirken erweitert die Sicht auf die Welt und das Bewusstsein, und zugleich kann dieses Feuer den Rücken stärken, aufrichten und nach uralter Tradition „aus einem Guss“ formen und damit den inneren Kern unverletzbar, unzerbrechlich bewahren.42 Bitte mache hier deine eigenen Erfahrungen und schau, ob es etwas mit dem von uns Geteilten gemeinsam hat.
Unsere kulturellen Wurzeln waren nie abgeschnitten – sie waren im wahrsten Sinne verborgen unter Schutt und Asche. Sie mögen lange Zeit verborgen gewesen sein, doch sie gingen nicht gänzlich verloren. Hüter der Schwellen und Pforten, Zaunreiterinnen und Stabträgerinnen bewahrten die Schlüssel zu den Zugängen der Anderswelt, zu unendlichen Bewusstseinsebenen, zu direkter Wahrnehmung der (Nat)Urkraft.
Wie nimmst du all deine Ebenen aus Körper, Geist, Seele und Energie wahr?
Wie bringst du sie in dir in Einklang?
Wie wird dein Wissen, deine Weisheit im Körper verankert und wie drücken diese sich aus?
Was ist für dich ein Schlüssel zu deiner Urkraft?
Kannst du wahrnehmen, wenn du dich auf einer Schwelle beziehungsweise „zwischen den Welten“ befindest?
Wenn ja: Wie fühlt es sich an?
Manche Menschen erleben die Anderswelt als eine reale Welt, die neben der unseren existiert und in die wir durch ein erweitertes Bewusstsein hineinreisen können. Andere nehmen diese schamanischen Reisen eher als Innenweltreisen wahr, die einen Aspekt ihrer eigenen Psyche widerspiegeln. Möglicherweise greifen wir Menschen darin ganz natürlich auf ein Urwissen zu, klinken uns ins morphogenetische Feld ein oder treffen wirklich unsere Ahnen und Ahninnen – vielleicht sogar Gottheiten. Was ist deine Wahrheit dazu?
Mit erweitertem Bewusstsein, ekstatischer Trance und einer tief empfundenen schamanischen Reise geht ein gewisser Kontrollverlust einher. Daher lautet einer der geflügelten Sätze in unseren schamanischen Ausbildungsgruppen: „Schamanismus ist pure Hingabe.“ Es ist eine Hingabe an den Fluss des Lebens, an die Begebenheiten, die darin geschehen, an die Spirits und deren Rat, an das eigene Bauchgefühl, die untrügliche innere Stimme, an die Klienten und ihre Themen (sofern man mit Klienten arbeitet), an das, was ist. Dies gilt auch im Hier und Jetzt, in dieser Welt, zum Beispiel auf einer Medizinwanderung, wenn wir die „winkenden“ Blätter als Richtungsanzeiger werten und unseren Weg ändern oder den Flug der Vögel miteinbeziehen und nicht gerade in Trance versunken sind.
Ab dem Moment des Erschaffens eines heiligen Raumes entfaltet sich aus unserer Sicht die schamanische Reise, und alles, was darin geschieht, ist Teil des Rituals, der Antwort auf die Frage, die man gestellt hat, der Botschaft, die sich in dem Moment entfalten will – ob dies nun aus unseren eigenen Innenwelten oder den uns umgebenden Anderswelten stammen mag. Jede schamanische Reise lädt dich daher ein, Kontrolle loszulassen, dich hinzugeben, den Botschaften zu lauschen, die Bilder zu betrachten, die Körperempfindungen und Emotionen in eine Sprache zu übersetzen, die dann ebenfalls eine Botschaft bildet. Bitte beantworte dir die oben gestellte Frage nach deiner ureigenen Wahrheit zu all dem, das sich hier zeigt – und ob es für dich dein Unbewusstes ist, dein höheres Selbst oder Krafttiere und Gottheiten als Wesen, die mit dir kommunizieren, oder anderes: Finde deinen Weg, die wertvollen Botschaften ins Alltagsleben zu überführen und für dich zu handeln. Gehe deinen ganz eigenen Weg und bilde inmitten der durchbrochenen spirituellen Linien deine Linie. Sei ein Anfang für etwas ganz Neues. Wir sind uns ganz sicher, dass die Göttinnen und Götter dir dabei zulächeln werden, deine innere Stimme sich freut, angehört zu werden, und die Krafttiere jubeln.
Vielleicht geht es dir wie einigen anderen Menschen, mit denen wir uns in den letzten Jahren ausgetauscht haben und gemeinsam nach dem Schatz in unseren Wäldern schauten. Einige berichteten uns, dass sie mit den nordischen Göttern so ihre Probleme hätten, keinen wirklichen Zugang finden und vielleicht auch einfach zu christlich geprägt seien. Wie ist das für dich? Kannst auch du dich eher von den farbenprächtigen Göttern und Göttinnen des Hinduismus begeistern lassen oder von den phonetisch so tiefen Klängen der nordamerikanischen Spiritnamen, den bunten Wesen Südamerikas? Es gäbe da so vieles aufzuzählen, doch möglicherweise kannst du mit solchen Wesenheiten grundsätzlich nicht viel anfangen. Wir haben immer wieder feststellen dürfen, wie viele Ähnlichkeiten zwischen den Göttern und Göttinnen sowie den Wesenheiten der Mythologien weltweit bestehen. Aus den eigenen Erfahrungen in einigen Kulturen, den Gesprächen mit indigenen Lehrerinnen und mit Ethnologen sowie dem tiefen Austausch im Miteinander spüren wir sehr stark, dass all diese Mythologien und spirituellen Weltbilder untrennbar mit den Landschaften und dortigen Witterungsbedingungen zusammenhängen, all den (auch darüber hinausgehenden) Bedingungen und Gegebenheiten vor Ort. Ausnahmslos alle dieser unglaublich geschätzten indigenen Lehrerinnen und Lehrer haben uns immer wieder gesagt, wie viel Reichtum und Beseeltheit genau hier zu finden sei, und sie ermutigen die Menschen immer wieder, genau dort zu „suchen“, wo sie leben. Häufig wird eine klare Verbindung zwischen deiner Lebenskraft und einem Fluss und Berg in der Nähe deines Geburtsortes gesehen und von den schützenden Spirits deiner Heimatregion gesprochen. Je tiefer man in die einzelnen Weltbilder und Beschreibungen eintaucht, desto mehr Ähnlichkeiten innerhalb des Kerns tauchen auf, und je mehr man dann dahinterblickt, desto klarer wird erkennbar: Es sind zeitlose Urkräfte der gesamten Natur, also auch unsere Urkräfte, und diese zeigen sich überall in unterschiedlichem Gewand.
Vielleicht gelingt es dir, aus all diesen unterschiedlichen Gewändern den puren, nackten Kern herauszuschälen und letztlich bei jedem Spaziergang wahrzunehmen, wie die gesamte Natur zu dir spricht, dir die größte Lehrmeisterin sein kann und sich ebenso in dir wiederfindet: als deine innere Stimme, dein Bauchgefühl, deine Intuition, deine feinen Sinne und so vieles mehr. Unsere Ahnen, die über eine lange Zeit hinweg nichts in Schriftform festgehalten haben, nutzten Geschichten, um all das auszudrücken, was sie über das Menschsein in all seinen Facetten und mit all seinen so herausfordernden Widrigkeiten und Fallstricken verstanden haben. Im Laufe der Zeit wurden diese Weisheiten auf verschiedene Weise personifiziert, damit sie den Menschen leichter zugänglich und durch ein Gesicht, einen Charakter und ein Gewand auch leichter vorstellbar sein sollten. Doch wie alles wandelt sich auch dieses Gewand mit der Zeit ebenso wie deine Vorstellungskraft. Wenn du dich mit einer Gottheit nicht anfreunden kannst oder sie „so gar nicht an dich geht“, laden wir dich ein, hinter diese äußeren Erscheinungen zu blicken und die Urkraft darin zu finden. Immer wieder wirst du in diesem Buch zwischen all den Mythen von uns diese Einladung finden: Verbinde dich mit der Natur – um dich herum und in dir. Denn darin ist so viel Weisheit und Urkraft vorhanden.
Bei all dem, was da im innersten Kern gleich ist und sich nahezu überall finden lässt, gibt es auch die ganz und gar ursprünglichen Besonderheiten, die sich aus der direkt umgebenden Natur ergeben. Gerade hier haben sich die immer beliebter werdenden Jahreskreisfeste in genau der Form entwickelt, in der sie nun rekonstruiert und vor allem wiederbelebt werden. Der Verlauf der Jahreszeiten und was diese im Einzelnen mit sich brachten, war existenziell. In diesem heiligen Jahreskreisrad findet sich der ganze Zyklus des Menschseins ebenfalls wieder, sodass es sogar in direkten Bezug zum weiblichen Menstruationszyklus gesetzt wird. Und natürlich gilt es weiterhin als Abbild für einen Lebenszyklus den Kreislauf vom Samen, der im Dunklen herankeimt, über das Wachsen und Erblühen bis hin zum Sterben und dem Wieder-in-die-Erde-Eingehen. Diese Feste und die damit verbundenen Mythen, Gottheiten und gesellschaftlichen Aktivitäten haben sich nicht dort entwickelt, wo immer Sommer war oder beständige Kälte, – das meinen wir, wenn wir sagen, dass sich die spirituellen Weltbilder auch aus den geografischen Besonderheiten speisen – und die jeweiligen Kulturen haben ihre wertvollen Feste zu eben jenen Ereignissen in der Natur, die für sie existenziell waren. Es gehört zu den Urbedürfnissen des Menschen, sich mit den Naturkreisläufen zu verbinden. Wohl, weil der Mensch selbst Natur ist. Sich mit all dem und der Natur in sich selbst zu verbinden nährt die universelle Lebenskraft, stärkt die eigene Urkraft und hält uns durch und durch lebendig.
Im Rahmen unserer gemeinsamen Seminare führen wir unsere Teilnehmer öfter in den Wald, um sie zum sogenannten Utiseta einzuladen. Das Wort entstammt der germanischen Naturspiritualität: Uti bedeutet „draußen“ und seta heißt „sitzen“. Worum es also geht, ist damit im ersten Schritt erst einmal recht einfach umrissen: draußen sitzen und nichts tun. Für viele Teilnehmende ist das oft zuerst seltsam, eine oder mehrere Stunden an einem Fleck im Wald zu sitzen und einfach da zu sein. Doch allen fällt irgendwann auf, wie erholsam es sein kann, einfach dem Wald zu lauschen und alles achtsam an sich vorüberziehen zu lassen. Plötzlich ist ein vorbeikrabbelnder Käfer ein Ereignis, eine durch das Laub huschende Maus macht einen Höllenlärm und der Gesang der Vögel legt sich wie eine wärmende Decke um uns. Unter der Rinde der Bäume knackt es, Zweige reiben im Wind aneinander und selbst ein träge herabtrudelndes Herbstblatt macht bei der Landung auf dem Waldboden ein sanftes Geräusch. Bislang haben all unsere Teilnehmenden drei Erkenntnisse geteilt: dass sie sich selbst nur selten die Erlaubnis geben, einfach nichts zu tun (in was für Zeiten leben wir bloß?!); dass sie zum ersten Mal auch die leisen Töne im Wald wahrgenommen und dass diese ihre Seele berührt haben; und schließlich, dass sie selbst alles andere als leise sind, wenn sie durch den Wald gehen.
Die tiefere Bedeutung von Utiseta erschließt sich vor allem in der genannten Berührung der Seele. Es geht nicht nur um ein entspanntes Draußensitzen, sondern um eine tiefe Veränderung der Wahrnehmung beziehungsweise um ein Überschreiten der gewohnten Grenzen der eigenen Wahrnehmung. Im zweiten Schritt ist Utiseta eine Art Trancetechnik, ähnlich der Visions-suche nordamerikanischer Ureinwohner-Stämme. Die Stille, die bei einer solchen Übung in uns entsteht, stößt innere Türen auf, schenkt Raum und lässt uns wieder neu auf die Zwischentöne lauschen, in denen so manche Botschaft verborgen ist.
Wenn du dich im Wald oder auf einer freien Fläche in den Bergen mit weitem Blick tief in die dich umgebende Landschaft versenkst, deinen Blick weich werden lässt und innerlich still wirst, erweitert sich deine Wahrnehmung wie von selbst. Du webst dich hinein in die Landschaft und ihr Bild, du wirst Teil davon.
Möglicherweise nährt es dein Gefühl, zwischen Himmel und Erde gehalten zu sein, und unterstützt dich dabei, dich ganz natürlich noch mehr auf diese erweiterte Wahrnehmung einzulassen, die ein anderes Sehen ermöglicht.
All deine Sinne werden wach und lassen dich anders sehen als im Alltag. So kann es laut Sagen und Legenden leicht geschehen, dass du dich in die Natur versenkst und dabei in die Anderswelt gleitest … „away with the fairies“ (= „mit den Feen unterwegs“, wie man in Irland sagen würde – zugleich jedoch auch ein Ausdruck fürs Verrücktwerden, ähnlich unserem „sie/er hört Stimmen“). Dabei ist es einfach die hingebungsvolle Versenkung, die es erlaubt, ganz und gar in der Natur aufzugehen und sich nicht länger als von ihr getrennt zu empfinden – gleichzeitig alle Sinne zu erweitern und womöglich eine visionäre Eingebung zu erlangen.
Schamanismus, Seidr, Weissagungen aus Naturbeobachtungen und so vieles mehr sind in den nordischen Kulturen beheimatet und warten nur darauf, von uns allen wiederentdeckt, wieder erinnert und belebt zu werden. Dazu reicht manchmal schon eine Praxis des „Draußensitzens“, bei der du dich in dich selbst versenken und so Teil der Natur werden kannst, während du zugleich deinen Geist aussendest und etwas empfängst. Man könnte sehr vereinfacht auch sagen: naturbasierte Achtsamkeitsmeditation im Wald oder auf einem Hügel mit der Aussicht auf eine Vision …
Auf diese Weise kannst du alte Wurzeln neu nähren und etwas daraus erwachsen lassen, das dich auch heute trägt!
Diese Praxis des Utiseta ist dennoch nicht wirklich eine Meditationspraxis, die den Geist leert oder beruhigt, wenngleich sie durchaus erdend sein kann. Es ist eher so, dass durch das Sitzen und Verschmelzen mit der Natur der Anker gelegt wird, von dem aus sich der Geist innerhalb eines veränderten Bewusstseins weitet und aufmacht, um „in andere Welten zu reisen“. Leider wird in keiner der Quellen berichtet, wie diese willentliche Bewusstseinsveränderung oder Trance herbeigeführt wurde, und so können nur Vermutungen angestellt werden, dass wahrscheinlich auch hier Gesang (siehe Seite 178 – Vardlokkur etc.) eingesetzt wurde, da Klang und Galdr (siehe Seite 119) offensichtlich eine große Rolle spielten, und auch Atemtechniken oder das Einsetzen von Rhythmusinstrumenten denkbar wären. Allerdings gibt es hier scheinbar einen Unterschied zum Seidr- oder Spa-Ritual, zu dem wir im Teil IV dieses Buches (ab Seite 155) noch kommen werden: Die Seherin sitzt bei einem solchen Ritual allein und folglich würde sie auch allein für sich singen. Es gibt dazu eine berühmte Stelle in der Völuspa:
„Allein saß sie (die Seherin) draußen, als der Alte kam, der Yggjung43 der Asen“.
Die Seherin sitzt „allein draußen“, was vermutlich nicht nur ein „draußen in der Natur sein“ als ein Praktizieren im Freien meint, sondern auch ein „draußen“ im Sinne von außerhalb von menschlichen Siedlungen, womit zugleich eine bewusst aufgesuchte Einsamkeit einhergeht.
Ein weiterer Aspekt, der zur Praxis des Utiseta gehören könnte, ist das Klopfen auf den Boden. Da die Völva mit ihrem Stab klopft und damit etwas anzeigt, und im Gulathingslög (einem alten norwegischen Gesetzbuch) steht, dass dies dazu diene, die Trolle und Toten aufzuwecken, und an einigen Stellen der alten Schriften auch das Utiseta auf Grabhügeln benannt ist, ist es durchaus denkbar, dass bei diesem „Draußensitzen“ immer wieder auf die Erde geklopft wurde, um Erdgeister oder Verstorbene zu erwecken. Von Odin wirst du im kommenden Kapitel hören, dass er die verstorbene Völva aus Hels Reich (dem Reich der Verstorbenen) erweckt, und sowohl aus den nordischen Sagas als auch aus anderen Kulturen der Welt ist bekannt, dass man mit dem Klopfen auf den Boden die Ahnen aufzuwecken versuchte. Man ruft sie dadurch heran, um Rat, Botschaften und Visionen zu erhalten, und bittet sie um Beistand.
In Odins Fall wird die Zwiesprache mit der Völva mythologisch abgebildet, in der sich deutliche Bilder und Ereignisse im Leben von Göttern und Menschen (weltenübergreifend) zeigen und die Seherin immer tiefer blickt, während ihre Visionen mit der stetigen Frage „Wisst ihr noch mehr?“ an Aussagekraft gewinnen.
Wir können dir leider keine konkrete, traditionell überlieferte Übungsanleitung geben, wie du beim Utiseta deinen Kontakt mit der Geisterwelt, den Göttinnen und Göttern oder den Ahnen herstellen kannst, denn niemand weiß es genau. Simek schreibt dazu zum Beispiel: „Utiseta ist in den nordischen Quellen eine Form der praktischen Magie, sowohl im Totenzauber44 als auch im Rahmen des Wahrsagezaubers. … Nächtliches Utiseta diente dem Zweck, mit den Toten in ihrem eigenen Bereich (d.h. außerhalb menschlicher Behausungen) in Kontakt zu kommen.“45 Es gibt nur spärliche Hinweise in den überlieferten Quellen, diese zeigen jedoch deutlich, dass es um eine gewisse Kontaktaufnahme ging (also nicht um reine Meditation oder Naturachtsamkeit) und diese der Sichtigkeit zuträglich war. Es lässt sich also eine zielgerichtete Praxis herauslesen, die einen Kontakt zu anderen Welten und Wesen herzustellen vermag, wobei der Geist fokussiert, auf das Anliegen konzentriert ausgeschickt wird – ähnlich einer Brieftaube, der du eine Frage mitgibst und die irgendwann mit einer Botschaft zurückkehrt.
Es erinnert an die heutigen Beschreibungen von schamanischen Reisen, und so möchten wir die Erklärung einer solchen Reise hier nach der Ritualbeschreibung des Utiseta ebenfalls mit dir teilen, sodass du aus diesen Informationen alles Nötige für deinen Weg zusammenstellen kannst.
Trotz der spärlichen Quellenlage findest du dieses so zentrale Ritual unserer Ahnen in diesem Buch, denn du kannst es für dich mit deinem Tun und Sein wiedererinnern und wiederbeleben. Unsere Anleitung ist eher ein „Heranführen“ und ein Einladen jener alten Magie, das du bitte als eine Möglichkeit von vielen ansehen solltest und Schritt für Schritt durch deine eigenen Erfahrungen erweitern und vertiefen kannst.
42Mehr dazu findest du im Teil IV, Kapitel „Der Weg der Völva“, ab Seite 167, sowie auch im Teil V, Kapitel „Mythologie und Initiation“, ab S. 246.
43eine Umschreibung/ein Kenning für Odin
44Gulathingslög 32
45Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 454