Mit Odin hast du schon einen oftmals ambivalent erscheinenden Gott des nordischen Pantheons kennengelernt, doch mit Loki kommen wir nun sozusagen zum Meister der fragwürdigen Entscheidungen und der Doppeldeutigkeit. Ist bei Odin das Undurchschaubare eher ein Nebeneffekt seiner ganz eigenen Reise durch die neun Welten, so ist es bei Loki Absicht. Loki verbirgt sich, agiert mit Tricks und Listigkeit, spielt Menschen, Götter, Riesen und alle anderen Wesen gegeneinander aus, hat stets ein Ass im Ärmel, redet sich aus jeder Verantwortung heraus, lebt grenzenlos frei, bricht jedes Tabu und feiert seine Vielschichtigkeit.
All das ist jedoch nur eine Sichtweise auf seinen Charakter, und man sollte nicht dabei verharren. Es ist natürlich verlockend, auf solch einen unverschämten Kerl wie Loki herabzuschauen und sich im selben Moment moralisch aufgewertet zu fühlen. Lehnt man Lokis Verhalten ab, fühlt man sich gleich auf der richtigen Seite und klopft sich selbst auf die Schulter: Immerhin bin ich nicht so wie Loki!
Gerade Interpretationen aus dem christlichen Bereich sind mit Loki stets so verfahren, weshalb Loki auch oft mit dem Teufel gleichgesetzt wurde. Selbst Snorri Sturluson, dem zu verdanken ist, dass immerhin ein kleiner Teil der nordischen Überlieferung bis in die heutige Zeit erhalten blieb, ließ im Grunde kein gutes Haar an Loki, was wohl auch seinem christlichen Hintergrund geschuldet ist. Loki erscheint daher meist einfach wie das klischeehafte Abziehbild des Bösen, von dem man sich tunlichst fernhalten sollte.
Wir wollen in diesem Buch einen anderen Weg einschlagen und uns Loki vorurteilsfrei und mit einem offenen Blick nähern. Nach vielen Jahren der Beschäftigung mit diesen Geschichten sind wir überzeugt, dass Loki in der nordischen Mythologie eine ganz wichtige Rolle spielt, die weit über die bloße Besetzung als Gegenspieler und Bösewicht hinausgeht.
Loki ist für uns der nordeuropäische Trickstergott, ein Wesen, das als Schwindler, Scharlatan und Lügner auftritt, um alles durcheinanderzubringen, wobei hinter diesem Durcheinander aber immer eine gewisse Notwendigkeit steht.
C. G. Jung bezeichnete den Trickster als „Vorläufer des Heilsbringers“55, womit er eine mythologische Grundfigur meint, die jede Ordnung untergräbt, sich über alles lustig macht, dadurch aber oft versteckte Wahrheiten aufdeckt, über die andere gern den Mantel des Schweigens breiten. Der Trickster reißt Menschen, Dingen oder gesellschaftlichen Strukturen die Maske herunter und agiert damit wie eine herausfordernde, aber gute Form des Clowns oder des Kaspers. Ist es nicht vielleicht möglich, dass eine Gesellschaft gerade diejenigen braucht, die ihre Grundregeln von Zeit zu Zeit infrage stellen? Und könnte dies nicht auch ein Zeichen einer gesunden Gesellschaft sein, wenn sie solch einen Trickster in ihrer Mitte aushalten kann? Wie auch immer … Loki wird mit diesem Bild des Tricksters auf jeden Fall perfekt beschrieben, denn in nahezu jeder überlieferten Geschichte überschreitet er Grenzen, bricht Regeln, stellt das soziale Gefüge infrage, tut fragwürdige Dinge, aber bringt durch eben dieses Handeln, das andere zur Verzweiflung treibt, Bewegung in die Welt. Der Unsinn, den Loki macht, die Streiche, die er anderen spielt, sind zunächst ärgerlich, setzen aber Ereignisse in Gang, die es den anderen Göttern und Göttinnen überhaupt erst erlauben, sich als Helden und Heldinnen zu zeigen und ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Und auch wenn er Schaden anrichtet, macht er diesen Schaden dann durch sein Geschick (und oft auch weitere Lügen) wieder gut.
Als Loki eines Tages auf die wenig glorreiche Idee kommt, Thors Frau Sif, während sie schläft, ihr Kopfhaar komplett abzuschneiden,56 handelt er sich enormen Ärger mit Thor ein. Körperlich hat Loki Thor wenig entgegenzusetzen, als dieser ihn am Hals packt, ihn schüttelt und ihm droht, ihn umzubringen. Doch Loki kann reden, beschwichtigen, lügen wie kein Zweiter. Und so versichert er Thor, dass er Sif noch viel schönere Haare besorgen wird, wenn Thor ihn nur loslässt. Der an sich gutmütige Thor, der immer wieder auf das Gerede und die Schmeicheleien Lokis hereinfällt, lässt sich auch dieses Mal erweichen – und so zieht Loki los, um irgendwoher neue Haare für Sif zu organisieren, die währenddessen in ihrer Kammer sitzt und vor sich hin weint. Wenn Götter irgendetwas Kunstvolles benötigen, wenden sie sich üblicherweise an die Zwerge. Daran hält sich auch Loki, der als Gott des Feuers bei den Zwergen ohnehin recht angesehen ist, schließlich wären ihre Schmieden ohne Feuer zu nichts zu gebrauchen. Loki besucht also zwei Zwerge, die für ihn ein zartes Gewebe aus purem Gold herstellen, welches Sifs abhandengekommene Lockenpracht ersetzen soll. Und da Loki schon mal da ist, bittet er auch gleich noch um andere Dinge, die ihm die Zwerge anfertigen: einen Speer, der immer sein Ziel trifft57 und den er später Odin überreicht, sowie ein zusammenfaltbares Schiff58, das bald darauf Freyrs Eigentum wird. Doch Loki wäre nicht Loki, wenn die Geschichte hier schon zu Ende wäre. Auf dem Rückweg trifft er zwei weitere Zwerge namens Brock und Sindri, die ebenfalls für ihr handwerkliches Geschick bekannt sind. Kaum hat Loki sie getroffen, fängt er auch schon an, sie zu verhöhnen und ihnen zu sagen, dass ihre Kunst nicht mit den großartigen Werken mithalten könne, die er eben von den anderen Zwergen erhalten habe. Brock und Sindri werden bei ihrem Ehrgeiz gepackt und schließen mit Loki eine Wette ab, dass sie bessere Dinge herstellen können, die den Göttern weit gerechter werden als der Tand, den Loki schon habe. Siegessicher verwettet Loki seinen Kopf … und Brock und Sindri machen sich ans Werk. Sindri schmiedet wie ein Besessener und Brock bedient den Blasebalg mit der ganzen Kraft eines geschickten Zwergenhandwerkers. Loki merkt schnell, dass die Wette doch keine so gute Idee war, und verwandelt sich in eine fiese Stechfliege, um Brock bei der Arbeit zu stören und somit das Ergebnis nicht ganz so grandios werden zu lassen, wie es sich bereits andeutet. Doch Brock ist ein harter Hund, der einiges aushält, und so entsteht als Erstes ein Eber mit goldenen Borsten,59 der ebenfalls in den Besitz von Freyr übergehen wird. Danach stellen Sindri und Brock einen Zauberring60 her, von dem in jeder neunten Nacht weitere acht gleichwertige Ringe „abtropfen“ und an dem im weiteren Verlauf der Saga Odin großen Gefallen findet. Loki wird langsam wirklich mulmig, und so gibt er sich dann in Gestalt der Stechfliege große Mühe, Brock möglichst viele Schmerzen zuzufügen. Endlich gelingt dies, Brock schlägt nach der Fliege (erwischt sie natürlich nicht) und setzt daher kurz mit seiner Arbeit am Blasebalg aus. Daher misslingt das letzte Werkstück – ein Kriegshammer, den du bereits als Mjölnir im Kapitel über Thor kennengelernt hast.
Nach dieser Episode in der Schmiede reisen Loki, Brock und Sindri nach Asgard, um den anderen Göttern und Göttinnen die neu entstandenen Zauberkunstwerke zu zeigen und ihr Urteil über diese zu hören. Das goldene Gewebe wächst augenblicklich an Sifs Kopf fest und macht sie noch schöner als zuvor, die anderen Gaben werden ebenso verteilt und letztlich steht fest, dass Brock und Sindri tatsächlich die besseren Dinge hergestellt haben. Dass Loki sich auch aus dieser verlorenen Wette wieder herausredet und seinen Kopf nicht verliert, sondern „nur“ die Lippen zugenäht bekommt, damit man seine Lügen nicht mehr hören muss, ist dann fast Nebensache. Wichtig ist dabei jedoch, dass der ursprüngliche Streich die Voraussetzung dafür war, dass die Asen sechs neue Gegenstände voller Zauber überreicht bekamen und dass so Lokis zweifelhaftes Benehmen letztlich zu etwas Gutem geführt hat.
Dieses Erzählschema zeigt sich oft in den Mythen, die mit Loki in Zusammenhang stehen: Eine Schnapsidee führt zu Chaos, die Wiedergutmachung ihrerseits zu Wachstum. Dabei nutzt Loki immer wieder seine unnachahmliche Redegewandtheit und seinen Scharfsinn ebenso wie die Zauberkunst, die ihm die Vanen beigebracht haben und die auch den Gestaltwandel beinhaltet. Das alles macht Loki zu einem uralten und sehr einfallsreichen Schamanengott, der jenseits von Begrenzungen und Regeln seinen Weg geht und immer unglaublich kreativ ist, um sich aus jeder (selbst verschuldeten) misslichen Lage wieder herauszuwinden.
Auch Geschlechtergrenzen interessieren ihn nicht, da er mal als Mann, mal als Frau auftaucht. Mal verwandelt er sich in dieses Tier, mal in jenes. Jede Trennlinie wird von ihm übertreten, was zum Beispiel der sogenannte Mythos vom Baumeister61 verdeutlicht …
Als der Krieg zwischen den Asen und Vanen zu Ende ist, liegt der Wall um Asgard in Schutt und Asche. Und wie auch wir Menschen uns oft bei Dingen verhalten, die kaputt sind, sagen die Götter: „Irgendjemand müsste das mal reparieren …“, um sich dann wieder dem Müßiggang, den Saufgelagen, dem Erschlagen von Riesen oder sonst etwas zu widmen, was mehr Spaß macht.
Zum Glück erscheint ein riesiger Mann auf der Bildfläche, der anbietet, die Mauer innerhalb eines Winters wieder aufzubauen. Als Lohn für diese Arbeit fordert er in beispielloser Demut lediglich die Sonne, den Mond und die schöne Freyja. Die Götter beauftragen ihn trotzdem, denn sie denken, dass es ein Mann allein niemals schaffen kann, eine solche Mauer in so kurzer Zeit zu errichten. Und was schadet es, wenn er schon mal den Großteil der Arbeit erledigt, wenn er das vereinbarte Ziel nicht erreichen und somit keinen Lohn empfangen wird?! Da Thor gerade anderweitig beschäftigt und irgendwo in den neun Welten unterwegs ist, böte nur eine neue Mauer Schutz vor etwaigen Angriffen durch Frost- oder Eisriesen.
Der Baumeister bekommt also den Auftrag und beginnt mit der Arbeit. Allerdings kommt ihm dabei jemand zu Hilfe, obwohl zu der Abmachung gehört, dass er den Job ganz allein zu erledigen hat: Sein ebenso riesiger Hengst erscheint auf der Baustelle und schleppt unermüdlich Steine und Felsbrocken heran, sodass der Bau doch weit schneller vorangeht, als die Götter es sich vorgestellt hatten. Aber Loki beruhigt sie und meint, dass er die Aufgabe auch mit dem Pferd nicht innerhalb eines Winters zu Ende bringen könne und sie nichts zu befürchten hätten. Drei Tage vor Ablauf der Zeit ist die Mauer jedoch nahezu fertig und die anderen Götter geben Loki die Schuld für ihre Misere. Wie sollen sie ohne Sonne und Mond leben? Und noch viel wichtiger: Wer sagt Freyja, dass sie schon wieder als Faustpfand verhökert wurde, und riskiert damit den Zorn der mächtigen Göttin?
Loki sieht nur eine Möglichkeit: Er verwandelt sich in eine rossige Stute und lockt den Hengst des Baumeisters davon, sodass keine Steine mehr herbeigeschafft werden und die Arbeit an der Mauer nicht rechtzeitig vollendet wird. Der Baumeister ist außer sich vor Zorn, da er ahnt, dass er betrogen wurde. In diesem Moment kehrt jedoch Thor von seinem Abenteuer zurück und erschlägt kurzerhand den Baumeister, da er ja von der ganzen Geschichte und den Versprechungen, die die anderen Götter gegeben haben, durch seine Abwesenheit nichts mitbekommen hatte. Die Götter aber freuen sich, haben sie nun doch eine neue Mauer, ohne auch nur einen Finger dafür gekrümmt haben zu müssen.
Einige Wochen später taucht dann auch Loki wieder auf. Er hatte es geschafft, den riesigen Hengst wegzulocken, aber seine Täuschung war so gut, dass sie gewisse Konsequenzen hat. Steifbeinig schleicht er nun zurück über die Hügel nach Asgard, im Schlepptau ein graues Fohlen mit acht Beinen, welches er in Gestalt der Stute zur Welt gebracht und ihm den Namen Sleipnir gegeben hat. Im weiteren Verlauf der Mythen wird dieses achtbeinige Pferd das Reittier Odins werden.
Die Rolle des Tricksters scheint Loki auf den Leib geschrieben zu sein. Der Außenseiter, der die allgemein gültigen Regeln kritisch beäugt und sie mit seinem Tun hinterfragt, scheint einfach fester Bestandteil seines Charakters zu sein. Und in gewisser Weise ist Loki tatsächlich in diese Rolle hineingeboren worden.
Loki heißt mit Nachnamen Laufeyson und trägt damit den Namen seiner Mutter Laufey, einer Riesin oder auch Vanin.62 Da sich in den Kulturen, die uns die nordischen Mythen überliefert haben, der Nachname des Sohnes üblicherweise vom Vater herleitet und nicht von der Mutter, ist dies schon ein Hinweis auf seine außergewöhnliche Herkunft. Sein Vater Farbauti, wahrscheinlich ebenfalls ein Riese, zeugt ihn durch einen Blitz, findet nach der Geburt des Kindes aber keinen Zugang zu seinem Sohn. Loki ist ihm zu klein und zu schwach, weshalb er Loki ablehnt, sich sogar für ihn schämt. Eine ganz klassische und tragische Vater-Sohn-Konstellation, die nicht nur in den Mythen, sondern wahrscheinlich überall auf der Welt allzu oft vorzufinden ist. Auf irgendwelchen Wegen kommt Loki dann zu den Asen, wobei seine Herkunft immer zweifelhaft bleibt: Niemand weiß genau, ob Loki Ase, Vane oder doch eher ein Riese ist. Obwohl er manchmal als Bruder, Blutsbruder oder Ziehsohn von Odin bezeichnet wird, lachen die anderen Götter über ihn, wollen nichts mit ihm zu tun haben, meiden ihn. Immer wieder stößt er auf Ablehnung, doch immerhin lernt er von den Vanen die Kunst des Gestaltwandels und wie er aus sich selbst heraus Feuer erzeugen kann. Ebenso erhält er Zauberschuhe, mit denen er durch die Luft und über das Wasser laufen kann.
Durch seine mangelnde Zugehörigkeit entwickelt er sich zu einem regelrechten Klassenclown, der die anderen Götter und Göttinnen mit seinen Geschichten unterhalten kann – ein Hofnarr, der mehr geduldet als wirklich gemocht wird. Nirgendwo passt Loki wirklich hinein, nirgendwo ist er von Herzen willkommen. Und so beginnt er, in negativer Weise Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, bevor er gar keine bekommt. Er handelt aus einer inneren Wunde heraus, tut schlimme oder zumindest ungehörige Dinge, die das negative Bild von ihm immer wieder bestätigen. Ein Muster, das auch der modernen Psychologie und Pädagogik nicht unbekannt sein dürfte.
Daher sind die Geschichten um Loki uns Menschen vielleicht näher als andere Göttergeschichten. Wenn Menschen nicht für das anerkannt werden, was sie sind, kann dieses Gefühl des Abgelehntseins ebenso in destruktives Verhalten führen – entweder zu Wut und Aggression gegenüber anderen oder auch gegen sich selbst. Ebenso können Depressionen die Folge sein und bis hin zum Selbsthass führen.
Loki ist uns Menschen in diesen Gefühlswelten sehr nah, was sich auch darin zeigt, dass er in einer Version der nordischen Schöpfungsgeschichte mitwirkt.
Er ist einer von drei Göttern, die die ersten beiden Menschen erschaffen, und sein Anteil ist es, den Menschen Leidenschaft, Begeisterung, Gefühl und inneres Feuer zu schenken. Typisch für Loki ist dabei, dass dieses Feuer natürlich immer zwei Seiten hat: Es ist wärmend, kann aber auch verzehrend sein. (Wie könnte man die Wirkung menschlicher Gefühle besser beschreiben?)
Letztlich resultiert auch Ragnarök aus einer Zurückweisung Lokis durch die anderen Götter, die ein großes Fest veranstalten, zu dem er nicht eingeladen ist.63 Ihre (zugegebenermaßen recht makabren) Spiele, bei denen sie verschiedenste Waffen auf den unverletzbaren Baldur schleudern, nutzt Loki für eine Rache, die dann leider völlig über das Ziel hinausschießt. Da er weiß, dass Baldurs Unverletzbarkeit aus Eiden herrührt, die seine Mutter Frigg allen Wesen und Dingen auf der Welt abgenötigt hat, stellt Loki einen Pfeil aus der Mistel her – der einzigen Pflanze, die diesen Eid nicht geleistet hatte. (Sie wurde übergangen, so wie auch Loki übergangen wird.) Er drückt diesen Pfeil dem blinden Hödur in die Hand, der ihn auf Baldur wirft und ihn damit tötet, was wiederum Ragnarök auslöst, den Untergang der bekannten Welt und den Übergang in einen neuen Zyklus des Seins.
Interessanterweise ist es in dieser Geschichte eigentlich Loki, der die kosmische Ordnung der Dinge aufrechterhält, denn das „Spiel“, Waffen auf einen durch seltsamen Zauber unverletzbaren Gott zu werfen, behagt Loki so ganz und gar nicht, schließt es doch die Vergänglichkeit als integralen Bestandteil des Seins aus.
Loki erhält noch eine letzte Chance, diese durch List und Tücke erfolgte Tötung Baldurs wiedergutzumachen, denn Frigg erfährt, dass Baldur wieder von den Toten zurückkehren kann, wenn ausnahmslos alle Wesen um ihn weinen. Doch während alle Wesen aller Welten dies tatsächlich tun, weigert sich eine Riesin namens Thöck, auch nur eine Träne zu vergießen, womit Baldurs Schicksal besiegelt ist. Diese Riesin ist niemand anderer als Loki, abermals in Verkleidung einer Frauengestalt.64
Diese Tat verzeihen die anderen Götter Loki nicht, und auch mit dem geschickten Herausreden klappt es diesmal nicht. Die Götter jagen und fangen ihn, um ihn dann in einer Höhle an drei große Steine zu fesseln.65 Skadi, die Göttin der Jagd (und auch des Winters und des Skilaufens!), befestigt eine Giftschlange über Loki, deren ätzendes Gift unablässig auf ihn herabtropft. Nur Sigyn, Lokis treue Frau, kann ihm etwas Abhilfe verschaffen, indem sie das Gift in einer Schale auffängt, die sie schützend über ihn hält. Doch jedes Mal, wenn sie die volle Schale leert, trifft das Gift Loki, der sich vor Schmerzen aufbäumt und die Erde zum Beben bringt.66 (In alter Zeit eine mythologische Erklärung für Erdbeben.) Irgendwann kann Loki sich jedoch befreien … und dann geht wirklich alles den Bach herunter, während Loki sich gänzlich auf die Seite der Feinde Asgards schlägt. In einem letzten Gefecht kämpft er gegen Heimdallr, mit dem ihn schon zeitlebens eine Feindschaft verband, die sich einfach herleiten lässt:
Heimdallr ist der Wächter auf der Brücke, also der Wächter der Grenze. Loki ist dagegen die Auflösung jeder Grenze, das kreative Chaos, das sowohl Wunder als auch Verderben hervorbringen kann. Und so führt die letzte Zurückweisung durch die anderen Götter, der letzte Hieb in die seit Lokis Geburt bestehende Wunde, schließlich dazu, dass Loki sich gänzlich verliert und alle mit in den Untergang reißt. Ob er deshalb als grundsätzlich boshaft bezeichnet werden kann, wie es in der Rezeptionsgeschichte oftmals der Fall war, überlassen wir deinem Urteil …
Wenn du die Geschichten um Loki aus der Perspektive betrachtest, die wir eingenommen haben, können seine Verletzungen und seine Handlungen, die daraus folgen, dich aber sicher auf Folgendes hinweisen:
Eine Anerkennung all der verschiedenen Anteile in dir selbst verhindert, dass ein (nicht gesehener) Anteil völlig durchdreht. Wenn du dich selbst annehmen kannst und dabei auch deine inneren Gegensätze zu akzeptieren lernst, kannst du insgesamt heilsamer agieren. Wenn du deine Wunde wirklich anschaust und ihr Aufmerksamkeit schenkst, kannst du sie langsam vernarben lassen und diese Narbe dann mit Stolz anstatt mit dem chronischen Schmerz der offenen Wunde tragen. Vielleicht kannst du dann sogar wie Loki in seinen besten Momenten aus solch einer vermeintlichen Schwäche neue Stärke gewinnen. Dich mit Loki zu verbinden, die Mythen um ihn mit neuen Augen zu betrachten und alle Geschichten auch als sehr altes, aber dennoch zutreffendes Psychogramm zu begreifen, kann dir helfen, dich selbst in all deiner Vielschichtigkeit anzunehmen und dich ebenso in die Wesen aller Welten (mitsamt all ihren Wunden) einzufühlen.
Und noch etwas gibt es, das Loki dir zeigen kann und was mit einer inneren Balance zu tun hat: das Gleichgewicht der Elemente. Die Elemente der Welt sind alle in irgendeiner Form in Lokis (erweitertem) Wesen vereint … Zuerst einmal wird er auch Loptr genannt, was so viel wie „der Luftige“ bedeutet. Darüber hinaus hat Loki eine ganze Reihe wirklich seltsamer Kinder. Von Sleipnir, dem achtbeinigen Pferd, hast du schon gehört, aber es gibt auch noch den Fenriswolf, ein sehr erdhaftes Wesen; dazu Jörmungandr, die Weltenschlange, die im Wasser lebt und die ganze Welt umspannt (durch sie entstehen übrigens Ebbe und Flut, da Jörmungandr sechs Stunden lang ein- und sechs Stunden lang ausatmet); und letztlich Hel, seine Tochter, die die Unterwelt beherrscht und nah an den Feuern der Erde lebt.67 Der Name von Lokis Vater Farbauti heißt übersetzt „der kräftig Schlagende“, was hier nicht nur eine gewalttätige Ader meint, sondern ganz einfach auch für den Sturm (also die Luft) steht.
Alle Elemente sind also in oder durch Loki vertreten – unterschiedliche Kräfte, die er versucht, im Gleichgewicht zu halten, Gegensätze, die lebendig sind und Chaos verursachen können, dabei aber gleichzeitig lebendig machen und Leben schenken.
Hier kannst du zum einen wieder die schöpferische Kraft sehen, die aus Gegensätzen entsteht, als auch die Anstrengung, die es bedeutet, all diese Kräfte im Gleichgewicht zu halten. Loki kann mit all seinen Geschichten, seinem Schmerz und seinem Scheitern, seiner Kraft und seinem Geschick aufzeigen, wie wichtig dieses Gleichgewicht in uns Menschen ist. Was gebraucht wird, ist ein Ausgleich zwischen feurigen Elementen (deiner Leidenschaft) und dem kühlen Wasser deines Verstandes oder der Frische deines klaren Geistes; und ebenso zwischen bodenständigen Elementen (deinem ganz erdigen Dasein beziehungsweise dem, was wirklich wesentlich für dich ist) und deiner luftigen Fantasie, deiner Ideenwelt und deiner Inspiration. Solch ein Gleichgewicht der Elemente in Verbindung mit dem weiter oben genannten Akzeptieren deiner inneren Gegensätze, dem Anschauen deiner Wunde und dem heilsamen Annehmen dieser Wunde, führt dazu, dass du die menschliche Erfahrung in all ihrer Fülle auskosten kannst, ohne einen Anteil von dir abzulehnen oder zuzulassen, dass diesem durch die Ablehnung anderer Schaden zugefügt wird.
Wir sehen Loki in der Tat als sehr menschlichen Gott, als sehr menschlichen Charakter an, durch den wir unserer eigenen Menschlichkeit begegnen und es möglicherweise ein kleines bisschen besser als er machen können.
Vielleicht magst du dich ebenso – inspiriert durch einen alten nordischen Schamanengott – wieder deiner natürlichen Ganzheit zuwenden und dich selbst mit all deinen unterschiedlichen Aspekten umarmen.
55C.G. Jung: „Zur Psychologie der Tricksterfigur“, GW 9/1: §472
56Diese Geschichte findet sich im Skaldskaparmal der Prosa-Edda.
57Der Name dieses Speers lautet Gungnir und er wird auch dazu benutzt, ihn über ein gesamtes Heer zu werfen, um dieses Odin zu weihen.
58Dieses Schiff wird Skidbladnir genannt und hat immer günstigen Wind.
59Dieser Eber des Freyr hört auf den Namen Gullinborsti, kann schneller als ein Pferd rennen und das auch über Wasser oder durch die Luft. Praktisch ist auch, dass seine goldenen Borsten so stark leuchten, dass Freyr auch in dunkler Nacht unterwegs sein kann.
60Dieser Ring mit Namen Draupnir ist ein Symbol für Herrschaft und für Reichtum. Seine Zauberkraft des Hervorbringens immer wieder neuer Ringe steht für die stets wiederkehrende Fruchtbarkeit.
61Diese Geschichte findet sich im Gylfaginning der Prosa-Edda.
62Laufey bedeutet höchstwahrscheinlich „die Laubreiche“, was sowohl auf eine Riesin (als personifizierte Urkraft der Bäume) oder auf eine Vanin (als Baumgöttin) hindeuten kann.
63Siehe Gylfaginning in der Prosa-Edda.
64Zumindest behauptet das Snorri Sturluson im Gylfaginning: „Wir aber glauben, dass dieses Riesenweib Thöck, das den Asen so viel Leid gebracht hat, in Wirklichkeit Loki in verwandelter Gestalt war.“
65Vgl. Gylfaginning 50
66Die Fesselung Lokis hat unübersehbar gewisse Ähnlichkeiten mit der Strafe des Prometheus (der in der griechischen Mythologie übrigens ebenfalls ein listiger und betrügerischer Charakter ist), der den Menschen unerlaubterweise das Feuer brachte und dafür von Zeus an einen Felsen gekettet wurde, wo ein Adler jeden Tag von seiner Leber fraß. Vielleicht haben manche Menschen alter Zeiten Lokis Tat auch nicht gänzlich verurteilt, sondern konnten ebenso seinen Versuch sehen, die ursprüngliche Ordnung und das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Ob jemand zur damaligen Zeit Loki als einen Kulturheroen wie Prometheus betrachtete, der den Menschen etwas Lebensnotwendiges brachte, bleibt aber zu bezweifeln.
67Fenris, Jörmungandr und Hel sind Kinder, die aus Lokis Verbindung mit der Riesin Angrboda hervorgehen, deren Name übersetzt „die Kummer Bereitende“ bedeutet.