DIE LOSE DER NORNEN

„Eine Esche weiß ich, heißt Yggdrasil,

Den hohen Baum netzt weißer Nebel;

Davon kommt der Tau, der in die Täler fällt.

Immergrün steht er über Urds Brunnen.

Davon kommen Frauen, vielwissende,

Drei aus dem See dort unterm Wipfel.

Urd heißt die eine, die andre Verdandi:

Sie schnitten Stäbe; Skuld hieß die dritte.

Sie legten Lose, das Leben bestimmten sie

Den Geschlechtern der Menschen, das Schicksal verkündend.“68

So beschreibt die Völuspa, der Seherin Weissagung, die geheimnisvollen Frauen, die während der ersten Momente der Schöpfung einfach aus dem Nebel auftauchen: die Nornen. Sie werden nicht erschaffen, sondern bilden sich einfach aus den Nebeln, die durch das Zusammenfließen der Feuer Muspelheims mit dem Eis Niflheims entstehen. Sie symbolisieren eine Naturkraft, die weder göttlich noch riesenhaft ist, sondern etwas ganz anderes und viel Geheimnisvolleres. Sie sind zu dritt und bilden daher im Weltbild der nordischen Kulturen ein Ganzes, ein Vollständiges – was sich auch in einer Deutung ihrer Namen widerspiegelt.

Ausgehend vom Verb verda beschreiben die Namen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: urdum (wurde), verdandi (werdend) und skulu (werden, wollen). Die Nornen sind also die personifizierte Zeit, der Ablauf des Weltgeschehens und das persönliche Schicksal. All diesen Phänomenen können auch die Göttinnen und Götter nicht entrinnen, und daher fürchten sie die Nornen, die mehr über diese Zusammenhänge wissen als sie selbst.

Die Nornen wohnen in einer Halle unter einer Wurzel Yggdrasils, direkt an einer Quelle, einem Brunnen oder einem See. Mit dem Wasser oder dem Schlamm benetzen sie täglich Yggdrasil, sodass dieser nicht vertrocknet. Sie haben also eine dem Leben gewidmete Aufgabe und sind fast wichtiger als die Asen und Vanen, die zwar verwalten und schützen, aber den Lebensbaum selbst nicht nähren. Die Nornen in ihrer Funktion als Zeit- und Schicksalsfrauen lassen den Baum wachsen, denn Wachstum geschieht innerhalb von Zeit. Wir wissen nicht, ob die Menschen, die die Mythen vor langer Zeit zum ersten Mal erzählten, tatsächlich so philosophisch abstrakt gedacht haben, aber offenbar war ihnen zumindest unbewusst klar, dass die Zeit oder das Schicksal letztlich alles verzehrt und darum vielleicht auch alles bestimmt. Auch wenn man heutzutage den Begriff „Schicksal“ in der Regel als etwas Drohendes und Unabänderliches auffasst, fragen wir uns, ob ein solcher Glaube an das Schicksal nicht auch viel weiter gefasst als ein Glaube an den Wandel gedeutet werden könnte. Denn letztlich ist es doch das, was Schicksal meint: dass sich Dinge und Umstände wandeln, dass zum Beispiel ein armer Bauernjunge zu einem großen Wikingerhelden wird und dass dieser große Wikingerheld zu einem alten Mann wird und irgendwann stirbt; oder dass ein Mädchen aus einem Armenviertel mit einer einzigartigen Idee Millionen macht, ein Wirtschaftsimperium aufbaut … und dennoch irgendwann krank wird und den Weg alles Zeitlichen geht; dass ein Schwerverbrecher sich ändert, einen anderen Weg einschlägt und vielen, vielen Jugendlichen hilft, ebenfalls einen heilsamen Pfad einzuschlagen … und dann alt wird und (Überraschung!) stirbt.

Alles unterliegt diesem Wandel, und die Nornen scheinen in der Vorstellung der alten nordischen Kulturen als Impulsgeberinnen dieses Wandels zu fungieren: Sie werfen Lose, heißt es. Wir verstehen diesen Hinweis in der Edda dahingehend, dass die Nornen hin und wieder „die Karten neu mischen“, jedem Spieler ein anderes Blatt zuteilen und sozusagen den „Zufall“ in die Welt bringen, Neues auftauchen lassen, mit dem man sich dann auseinandersetzen muss. Sie werfen Herausforderungen und Aufgaben in die Waagschale des Lebens und erzeugen kleine Veränderungen oder auch wahre Umwälzungen. Dabei sind auch sie nicht gut oder böse, sondern gänzlich neutral. Vor allem sind sie aber kein Ausdruck eines völligen Determinismus, also einer kompletten Vorherbestimmung jedes einzelnen Menschenlebens. Sie wissen lediglich, was sie da unter der Wurzel Yggdrasils „erwürfeln“, und haben Einblick in die Zusammenhänge, die von diesen Würfen abhängen. Sie durchschauen das Netz des Lebens und wissen, was geschehen kann, wenn man hier und dort an einzelnen Fäden zieht. Sie werfen möglicherweise Knochen, Steine oder kleine Ästchen auf die Erde und sehen in der Anordnung oder den Zeichen, mit denen diese Gegenstände versehen sind, die Wandlung der Ereignisse und deren zukünftige Entwicklung. Sie sind mit zwei Begriffen verbunden, die es lohnt, sich näher anzuschauen: Orlög69 und Wyrd. Orlög entspricht der Grundlage des Seins, den Urgesetzen des Lebens – wie eine Blaupause liegt es allem zugrunde und bestimmt die Rahmenbedingungen. Von den Nornen wird manchmal gesagt, dass sie dieses Orlög erschaffen. Wyrd meint das Netz des Lebens und die Muster, die wir mit unserem Tun in dieses Netz hineinweben, die Verbindungen und Verknüpfungen, die sich daraus ergeben. In der älteren Forschung wurde oft behauptet, dass die Nornen dieses Wyrd erzeugen, dass sie also das komplette Netz des Lebens weben, was eine fatalistische Haltung der nordischen Völker belegen würde. Doch wie bereits erwähnt, gehen wir ganz und gar nicht von einem Determinismus aus, und jüngere Forschungen haben auch gezeigt, dass das Wort „Wyrd“ „kaum heidnisch-germanisches Gedankengut tradiert, sondern einer auf spätantik-christlichem Glauben basierenden mittelalterlichen Weltsicht angehört“70 und man somit nicht wirklich davon sprechen kann, dass die Nornen das Schicksal des Einzelnen vorherbestimmen. Ihre Lose bestimmen vielleicht bei der Geburt die Rahmenbedingungen, also das Elternhaus, das Heimatland, den wirtschaftlichen Rahmen, die körperlichen Grundvoraussetzungen, aber was der einzelne Mensch dann daraus macht, obliegt ganz allein ihm oder ihr. Die Nornen werfen natürlich immer weiter Lose und beeinflussen damit die Rahmenbedingungen, erzeugen so also manchmal glückliche Fügungen und ein anderes Mal Pech auf ganzer Linie, aber wir Menschen können dann darauf reagieren und bleiben selbst die Handelnden.

Daher sollte man die Nornen auch nicht mit den Parzen, den römischen Schicksalsgöttinnen, verwechseln, obwohl sie auf verwandten Vorstellungen basieren. Letztere werden als Spinnerinnen und Weberinnen dargestellt, und ihr Einfluss scheint daher auch weiter zu gehen als der der Nornen. Die Parzen sind weit aktiver an der Herstellung des Lebensnetzes beteiligt, sie spinnen die Wolle (den Grundstoff des Lebens) zu einem Faden (dem einzelnen Leben selbst) und schneiden ihn irgendwann ab (der Tod). Die Nornen lassen den Menschen und Göttern hingegen weit mehr Freiraum, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Und so werden sie in der Edda auch nicht als Spinnerinnen und Weberinnen dargestellt, sondern als diejenigen, die Lose werfen und tiefe Einblicke haben. Ein großer Unterschied.

Wenn du dir diese Nornen also als diejenigen weisen Frauen vorstellst, die immer wieder einmal neue Lose werfen, die dann Rahmenbedingungen in deinem Leben verändern, so kannst du dir mit diesem Hintergrund eine Reihe von Fragen stellen, die dein Verhältnis zu Schicksal, Bestimmung, Freiheit und Selbstverantwortung in ein neues Licht tauchen:

Welche Dinge geschehen dir einfach und für welche bist du selbst verantwortlich?

Was kannst du beeinflussen und was nicht?

Wieso könnte es für dein Leben hinderlich sein, diese Dinge zu verwechseln?

Lohnt es sich für dich, wenn du dich über Dinge grämst, die dir ohne dein Zutun widerfahren?

Kannst du aus der Situation, die dir widerfährt, handeln und sie in etwas anderes verwandeln?

Kannst du eine besondere Form von Würde in deiner Handlungsfähigkeit entdecken?

Kannst du die immense Freiheit wertschätzen, die darin liegt, dass du fähig bist, dich gegen ein vermeintlich unausweichliches Schicksal aufzulehnen?

Kannst du der Welt ein freudiges und zugleich trotziges „Jetzt erst recht!“ entgegenrufen?

Was möchtest du selbst von Herzen ins Lebensnetz mit einweben? Und auf welche Weise möchtest du das tun?

Neben diesen drei Nornen, die am Urdbrunnen sitzen und Lose werfen, gibt es auch noch weitere Frauengestalten in der nordischen Mythologie, die als Nornen bezeichnet werden. Snorri Sturluson spricht im Gylfaginning71 davon, dass jedes Kind bei seiner Geburt eine Norne neben sich stehen hat, die ebenfalls Lose wirft oder deren Anwesenheit selbst wie ein Los wirkt.72 Snorri Sturluson meint, dass es gute Nornen mit göttlicher Herkunft gebe, die ein gutes Leben begünstigen, während auch Nornen aus dem Alben- oder Zwergengeschlecht bei der Geburt anwesend sein können, die dem Kind dann schon von Anfang an das Leben verhageln. Hier mischen sich vielleicht Vorstellungen von Nornen und Disen, wobei Letztere mythische Frauen sind, die sowohl als Schutzgeister wie auch als Todesbotinnen fungieren.73 Überreste solcher Vorstellungen finden wir zum Beispiel auch im Märchen von Dornröschen, bei deren Geburt ihr gute Feen nur das Beste wünschen, aber eine böse Fee ihr Schicksal recht negativ beeinflusst.

Eine wirklich schöne Geschichte ist in diesem Zusammenhang die Nornagest-Saga aus Dänemark, die noch einmal zeigt, dass es in der nordischen Vorstellungswelt keine unabänderliche Vorherbestimmung gibt, sondern dass immer Spielraum für eigene Entscheidungen bleibt. Diese Geschichte handelt von Nornagest, dem Sohn von Thord von Thinghusbit. Drei Nornen erscheinen bei seiner Geburt, von denen zwei ihm ein gutes Leben prophezeien und ihn segnen. Eine Norne aber zeigt den schockierten Eltern eine brennende Kerze und offenbart ihnen, dass ihr Sohn nur so lange leben werde, bis diese Kerze heruntergebrannt sei. Eine der anderen Nornen löscht diese Kerze jedoch sofort und gibt sie der Mutter mit dem Hinweis, sie gut zu verwahren. Durch diese Tat schützt sie den Säugling, der daraufhin den Namen Nornagest erhält, „der Gast der Nornen“. Später versteckt Nornagest diese Kerze selbst und wird dadurch 300 Jahre alt. Er lebt ein gutes und abenteuerreiches Leben, wird ein guter Kumpel des berühmten Wikingers Ragnar Lodbrok und dessen Sohn Björn Eisenseite, bekehrt sich dann eines schönen Tages zum Christentum und möchte sich nach einem so langen Leben aus dieser Welt verabschieden. (Die eigene Unsterblichkeit ist offenbar ein weit weniger faszinierendes Konzept, wenn man erst einmal merkt, dass alle, die man liebt, dennoch sterben.) Nornagest holt die Kerze hervor, zündet sie an, lässt sie – im inneren Frieden mit sich selbst – herunterbrennen und stirbt.

Auch hier sieht man, wie eng Leben und Tod miteinander zusammenhängen und wie die Nornen zwar eigentlich neutral sind, aber dennoch ihre lebensfördernde Qualität im Vordergrund steht. Diese Qualität stellt ja auch schon ihre Funktion als Versorgerinnen Yggdrasils unter Beweis. Sie sind die Verkörperung größerer Gesetze, die den gesamten Kosmos betreffen. Auch wenn wir Menschen diese Gesetze vielleicht nie verstehen werden, zeigen uns die Geschichten um die Nornen doch, dass wir alle in der Lage sind, mit dem, was sie uns zuteilen, umzugehen und trotz aller etwaigen Unbill ein gutes Leben zu führen. Ein Aspekt der nordischen Mythologie, der voller Hoffnung steckt und aufgrund seines Realismus sowie seiner Betonung der Freiheit eine große Seelenkraft weckt.

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68Völuspa 13 und 14

69Manchmal auch Örlög oder Ørlög geschrieben.

70Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 494

71Gylfaginning 15

72Dieser Glaube hat sich im nordischen Bereich sehr lange gehalten, und noch heute bekommt eine Frau, die gerade Mutter gewordenen ist, auf den Faröer-Inseln als erste Mahlzeit nach der Geburt die sogenannte Nornengrütze serviert.

73Um es zu komplettieren, widmen wir uns auch noch den Fylgien, ebenfalls meist weiblich dargestellten Schutzgeistern, im Kapitel „Alle die vor dir kamen: Der Weg deiner Ahnen“ ab Seite 200.