DIE NORDISCHE KUNST DES SEHENS: SEIDR

Die unglaublich facettenreiche Freyja ist also, wie schon erwähnt, ebenfalls die Göttin der Zauberkunst, der Magie. Bei den Vanen, wie bereits erwähnt, dem älteren, so stark naturverbundenen Göttergeschlecht, war die nordische Zauberkunst Seidr bekannt. Als sie und Freyr zu den himmelsverbundenen Asen kommen, bringt Freyja diese magische Kunst Odin bei, der stets gerne neues Wissen erlernt. Er zeigt ihr wiederum als Gott der Ekstase die magische Runenkunst, die er am Weltenbaum hängend erfahren hat.87 Freyja und Odin gelten hier als eine Art „Zauberpaar“: Sie fügen beide ihre Magie dem sprichwörtlichen Zauberkessel hinzu. Hier vereinen sich Frau und Mann, Erde und Himmel, Seidr und Runen zum kosmischen Ausgleich. So ist auch Odin beziehungsweise Wodan (oder Wotan) sehr mit den Seherinnen verbunden.

Der berühmte kleine Anhänger „Odin von Lejre“, der 2009 bei Ausgrabungen auf der dänischen Insel Seeland gefunden wurde, zeigt eine äußerst prächtig gewandete Gestalt auf einem detailliert ausgearbeiteten Hochsitz, umgeben von zwei Vögeln. Trotz dieses Namens für das Originalfundstück bildet es möglicherweise eine Völva auf ihrem wikingerzeitlichen Kastensitz und nicht den Göttervater Odin ab. Es scheint offenkundig, dass im ursprünglichen Seidr noch keine Runen enthalten waren, da diese erst durch Odin (aus dem jüngeren Göttergeschlecht) der bereits lange zuvor bekannten Zauberkunst der Vanen hinzugefügt wurden.88

Wir haben nach allerlei unterschiedlichen Angaben in Büchern nicht nur selbst visionär auf schamanischen Reisen Seidr zu ergründen versucht, sondern auch ganz direkt den bekannten Forscher Rudolf Simek befragt, der bestätigte, dass Seidr einfach „Zauberkunst“ bedeutet, welche im Kontext der nordeuropäischen Traditionen verortet war. Die Wahrheit ist also, dass letztlich niemand sicher sagen kann, was genau „gewirkt“ wurde … und das lässt es natürlich weiterhin wunderbar mystisch bleiben. Insgesamt scheint es äußerst wahrscheinlich, dass es sich bei Seidr um Überreste schamanischen Wirkens handelt, die von den Erdgöttern (Vanen) in die Zeit der Himmelsgötter (Asen) hinübergerettet wurden.

EINE MÖGLICHE DEUTUNG DES SEIDR

Seidr ist eine uralte schamanische Kunst, und die gängige Bezeichnung „arge Frauen“ für die Seidkonas („Seidr-Kundige“ beziehungsweise „Seidr-Frau“) ist absolut nicht vergleichbar mit unserer heutigen Bezeichnung für arg (= böse), sondern bedeutete „hinter die Dinge schauend“. Im Althochdeutschen, Altenglischen und Altschwedischen gab es diverse Bedeutungen für arg: „sündhaft, lustvoll, furchteinflößend“ und auch „gefährlich“ – und wieder gibt es hier eine eher wilde sexuelle Komponente, die jedoch nicht zugleich böse ist. Diese Unterscheidung ist wichtig. Doch eine sehr lebendige Sexualität wirkte auf die damaligen Beobachter aus bekannten Gründen möglicherweise eher teuflisch … Dennoch wird Seidr bis heute immer wieder auch als eine Art „böse Kunst“ dargestellt. So wird die letzte Zeile der Völuspa 22 auch häufig mit „Sie war immer das Vergnügen böser Frauen“ statt „… das Vergnügen arger Frauen“ übersetzt.

Arg lässt sich laut manchen Forschern möglicherweise etymologisch vom indoeuropäischen Wort ergh ableiten: „sich heftig bewegen, zittern, beben, erregt sein“ – was wiederum ein deutlicher Hinweis auf die Siedetrance wäre, bei welcher man den Körper schüttelt und wiegt. So siedeten die Seidkonas nicht nur im Kessel ihre bewusstseinserweiternden Dämpfe, sondern auch in ihren Körpern die Visionen und die Klarsicht.

Auch einer der Beinamen Freyjas würde zu dieser Sichtweise passen: Skjalf – die Schüttlerin. Ein Name, der in den Thulur – altnordischen Merkversen – für Freyja auftaucht.

Seidr würde demnach die Methode des Siedens oder Schüttelns, um in Trance zu geraten, mit den Bildern der germanischen Mythologie und den Kenntnissen der Kräuterkunde beziehungsweise des Räucherns verweben, um einen tiefen sowie ekstatischen Seelenflug zu erlangen.

Ganz sicher ist jedenfalls aus den Sagas überliefert, dass gesungen wurde, um eine Trance herbeizuführen, und dass die Seherin mit ihrem Stab in der Hand auf einem Hochsitz sitzend in andere Welten reiste, um Botschaften zu erhalten und mit in die Welt der Menschen zu bringen. In der Saga von Erik dem Roten wird zum Beispiel eine genaue Beschreibung von der Kleidung der Seherin, ihren Wünschen/Bedingungen und der gesamten Szenerie abgegeben, mittels derer man sich in etwa das Ganze vorstellen kann. Für uns ist aus der Saga89 insbesondere der Teil interessant, der beschreibt, wie die Seherin darum bittet, dass jemand die „alten Zauberlieder“ singt, da sonst die Weissagung nicht stattfinden könne. Niemand kennt diese (mehr), bis auf eine Frau, die diese von ihrer Amme erlernte. Dann singt diese Frau die sogenannten Galdr90 oder Galdra, die auch Vardlokkur91 (altnordisch in etwa „Seelenlocker“ und damit sehr wahrscheinlich ein Zaubergesang, der Seelen anlockt) genannt werden, und singt diese offensichtlich wunderschön und hilfreich, denn die Seherin kann daraufhin ihre Wahrsagesitzung abhalten. Dieser Zaubergesang dient also dazu, die Seherin in Trance zu versetzen und ihr so den Seelenflug zu ermöglichen sowie (dem Namen nach wahrscheinlich) jene hilfreichen Geister anzulocken, die der Seherin das Wissen zum Weissagen übermitteln. Interessanterweise werden in dieser Überlieferung die Zaubergesänge jedoch nicht von der Seherin selbst gesungen, sondern diejenigen, für die geweissagt wird, sind aktiv an der Zeremonie beteiligt.

Gesang, Klang und Ton sind uralte schamanische Werkzeuge, die Tausende von Jahren bis in die archaischen Zeiten der Höhlenmalerei und des sogenannten Kultursprungs92 zurückreichen. In den Überlieferungen zur Magie im früheren Nord- und Mitteleuropa spielten diese offensichtlich weiterhin eine große Rolle und werden in diversen Sagas benannt. Auch heute, wo solche alten Rituale wiederbelebt werden, setzt man dazu gern einen begleitenden Chor ein, während die Seidkona (altnordisch „Zauberin“) mit dem Stab in der Hand auf ihrem Stuhl sitzt und irgendwann ein Zeichen gibt, dass sie in der anderen Welt angekommen ist und nun Botschaften übermitteln kann.

Auf die möglichen Fehldeutungen und Einfärbungen bei der Bezeichnung „arge Frauen“ sind wir bereits eingegangen. Immer wieder liest man auch irgendwo, dass Seidr eine Art „böse Kunst“ oder schwarze Magie sei – was ganz sicher mit jenen Deutungen einhergeht.

Spa (ausgeübt durch die Seherin, die Weissagende, die Spakona) wird hier meist als „weiße“ Magie bezeichnet und umfasst unter anderem so etwas wie Wetterzauber, Wahrsagung, Liebeszauber, Fruchtbarkeitszauber, Runenzauber u.a. Dem Seidr heftet man hingegen das Etikett „schwarze Magie“ an und meint damit so etwas wie Schadenszauber, Totenzauber, aber auch das Aufstellen von hölzernen Stelen mit menschlichem Gesicht zur Verspottung des Abgebildeten (erinnert ein wenig an Voodoo mit Holzstelen statt Stoffpuppen). Magie oder Manifestationskraft kann sicherlich in beide Richtungen eingesetzt werden und liegt daher unseres Erachtens stets in der Hand der ausführenden Person und deren Absichten. Wir erinnern deshalb hier daran, dass Seidr wie oben beschrieben „Zauberkunst“ im nordischen Kontext bedeutet, und wenn diese in bester Absicht zum Wohle aller eingesetzt wird, sehen wir dies keinesfalls als schwarze Magie an. Von diesen Unterscheidungen abgesehen, wird allgemein die Spakona als die (weissagende) Seherin bezeichnet und die Seidkona (dem Namen nach) als die „Seidr-Kundige“, also die Zauberin.

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87Ynglingsaga 4; siehe dazu auch oben in Teil III das Kapitel zu „Odin“, ab S. 110

88Ynglingsaga 4

89Saga von Erik dem Roten 4

90Im Germanischen ist die Silbe gal mit Gesang oder Tönen verknüpft und uns ist bis heute im Sprachgebrauch, zum Beispiel durch die Nachtigall (die in der Nacht singt), erhalten geblieben.

91Diese Bezeichnung stammt aus der Thorfinns Saga Karlsefnis. Da sie an anderen Stellen nicht auftaucht, ist unbekannt, ob der Begriff relevant war. Im Landnamabok gibt es stattdessen Seidlaeti als Bezeichnung, die man als „Zauberton“ übersetzen kann.

92So bezeichnet man das geballte Auftauchen der ersten Instrumente und beweglichen Kultgegenstände, die man vor allem in den Höhlen der Schwäbischen Alb gefunden hat und die auf über 40.000 Jahre zurückdatiert werden.