Wenn man sich auch nur ein wenig mit der nordischen Mythologie befasst, stößt man unweigerlich auf die Runen, denen man heute nahezu überall begegnet: auf Platten- und CD-Covern, auf T-Shirts, Tassen, Amuletten und so weiter. Ebenso sieht man sie immer wieder als Tätowierung, und auch in den Büchern und Verfilmungen von Tolkiens „Der Herr der Ringe“ tauchen sie auf.95
Runen sind dekorativ und stets von einem Nimbus des Geheimnisvollen umgeben, von daher ist es gut nachvollziehbar, dass sie sich recht großer Beliebtheit erfreuen. Allerdings geht der ursprüngliche Sinn dieser Schriftzeichen dabei oftmals verloren. Runen waren Inschriften, die etwas Besonderes verkündeten, und keine Alltagsschrift. Svanhild hat also damit keine Einkaufsliste verfasst und sie Erik auf seinen Raubzug mitgegeben, sie hat höchstens einen Runenmeister beauftragt, eine Steinsetzung für das Grab von Erik mit Runen zu versehen. Und das dann wahrscheinlich mit der Absicht, dafür zu sorgen, dass Erik auch in seinem Grab bleibt und nicht als Wiedergänger (Draugr) sein Unwesen treibt oder aber als Warnung an etwaige Grabräuber, die hier gleich mit einem Fluch belegt wurden.
Runen hatten neben ihrer Bedeutung als Buchstaben auch einen magischen Aspekt, den man stets mitbedenken sollte. Alle Runen hatten eine Lautbedeutung, ähnlich unseren lateinischen Buchstaben, aber eben auch eine tiefere Bedeutung, die sich auf Zauberei, Macht und Beschwörung bezieht. Wer sich damit auskannte – also ein Runenmeister –, war hoch angesehen, weshalb sich auf manchen Grabsteinen auch der Name des Runenmeisters verewigt findet, nicht aber der Name des Toten.
Das altnordische Wort rún, das dem Wort „Rune“ zugrunde liegt, hat eine große Bedeutungsbandbreite, die vor allem auf geheimes Wissen oder magische Künste hinweist. Diese Bedeutung hat eine lange Nachwirkung in der Sprachgeschichte: Noch im Althochdeutschen bedeutet das Verb rúnen so etwas wie „heimlich flüstern“, und unser deutsches Wort „raunen“ weist ja auch darauf hin, dass da etwas ist, das man nicht ganz genau definieren kann, etwas, das man nur hinter vorgehaltener Hand mitteilt.
Runeninschriften gibt es mit einem Zeichen bis hin zu 750 Zeichen (Runenstein von Rök in Schweden); sie alle sind zwischen dem 2. und dem 14. Jahrhundert entstanden und in einem riesigen Gebiet aufgetaucht, das von Grönland bis in die heutige Türkei reicht, von Irland bis zum Schwarzen Meer. Diese große Verbreitung scheint abhängig von den Eroberungsund Erkundungsfahrten der Wikinger zu sein, denn die meisten der bislang etwa 6.500 entdeckten Runensteine finden sich tatsächlich in Skandinavien (etwa 90 Prozent).
Jeder germanische Stamm scheint Runen benutzt zu haben, aber jeder Stamm mit seiner eigenen Sprache, was die Entzifferung manchmal erschwert. Ebenso hatten unsere nordischen Vorfahren die lästige Eigenart, sowohl von links nach rechts als auch von rechts nach links, wie auch abwechselnd von beiden Seiten oder von oben nach unten zu schreiben. Daher ist man sich bei einigen Inschriften bis heute überhaupt nicht einig, was diese bedeuten sollen.
Interessant ist auch die Abfolge der Runen im (nach den ersten sieben Runen in dieser Reihenfolge) Futhark genannten Alphabet: Die erste Rune ist Fehu, was wir schon im Kapitel über die Schöpfungsgeschichte erwähnt haben. Sie steht für den Laut [f], aber gleichzeitig auch für das Vieh und die damit zusammenhängende Fülle. Diese erweiterte Bedeutung kann man sich gut in magischen Zusammenhängen vorstellen, wenn zum Beispiel ein Bauer in einer entsprechenden Zeremonie eine Fehu-Rune auf seine Stalltür malt und währenddessen darum bittet, dass sein Vieh sich stets vermehren und gesund bleiben solle. Genauso kann man sich vorstellen, wie der gleiche Bauer die zwölfte Rune Jera(n) in den Boden seines Ackers ritzt. Diese Rune steht für den Laut [j] und gleichzeitig für die Ernte. Auf diese Weise kann der Bauer also für eine gute Ernte gebetet haben. Die fünfzehnte Rune Algiz hat er vielleicht auf den Türbalken seiner Hütte gemalt oder geritzt, denn sie wurde als Schutzzeichen verstanden. Und wenn unser fiktiver Bauer einen unausstehlichen Nachbarn hatte, der ihm das Vieh stahl oder ihm sonst wie zusetzte, hat er vielleicht heimlich die dritte Rune Thurisaz in dessen Hauswand geritzt – eine Rune, die für die Riesen stand und somit für die unkontrollierbaren, zerstörerischen Kräfte, die diesen Nachbarn heimsuchen sollten.
Das ist nun eine sehr vereinfachte Darstellung von der Verwendung von Runen, aber sie geht zumindest in eine ungefähre Richtung, die man sich vorstellen kann und die wohl auch historisch korrekt ist. Man muss bei dieser Art der magischen Verwendung aber bedenken, dass die Kombination von mehreren Runen hier noch ganz andere Bedeutungsebenen eröffnen kann und auch Rituale hinzukamen, die den geritzten Runen Kraft verleihen sollten. Blut machte die Runen „lebendig“, war ein Opfer, das ihre Macht erhöhen sollte. Daher sollte man sich unserer Meinung nach schon sehr gut auskennen und genau wissen, was man da tut, bevor man sich Runen tätowieren lässt. Selbst wenn man all diese Gedanken als Aberglauben abtut (hier würde sich aber die Frage stellen, warum man sich dann überhaupt uralte germanische Zauberzeichen tätowieren lassen möchte …), sollte man respektvoll mit einer solchen Tradition umgehen und anerkennen, dass diese Zeichen mehr als bloßer Schmuck sind.
Oft werden Runen auch zu Orakelzwecken verwendet, wobei sie auf Stöckchen, Knochen oder Holzscheiben gemalt bzw. geritzt werden, die man dann wirft, um Antworten auf Fragen zu erlangen, die einen bewegen. Solche Methoden können eingesetzt werden, um einen gänzlich anderen Blickwinkel einzunehmen, sich durch den „zufälligen“ Wurf inspirieren zu lassen und innerhalb einer solchen Runensitzung den eigenen Geist zu weiten. Unter Umständen kann das Werfen von Runen und das lange intensive Betrachten des Wurfs auch eine Art Trance induzieren, durch die man Zugang zu tieferen Bewusstseinsschichten erlangt, aus denen sich dann Antworten auf drängende Fragen ergeben können. Hier sollte man sich unserer Meinung nach zuerst intensiv mit den einzelnen Runen und ihren erweiterten Bedeutungsebenen auseinandersetzen und dann spielerisch an die Sache herangehen und eigene Erfahrungen damit machen. Letztlich geht es bei solchen Dingen und Praktiken immer um die eigene Intuition und die Bedeutung, die die einzelne Rune in der Beschäftigung mit ihr für einen selbst gewinnt. Ob man sich dabei auf Bücher oder Seminarangebote verlässt, die vorgeben, es ganz genau zu wissen (obwohl selbst Historiker und Linguisten immer noch vor einigen Rätseln in Bezug auf die Runen stehen), muss man selbst entscheiden.
Wissenswert ist auf jeden Fall, dass die Lose, die die Nornen werfen, oft auch als Runen bezeichnet werden, man in den alten Schriften aber keinerlei Hinweis darauf findet, dass diese Lose mit Runen versehen waren. Auch die Zusammenführung von Seidr und Runen ist eher neueren Ursprungs und bisher nicht historisch belegt. Und Freyja als Göttin des Seidr ist ja eine Vanin, die von Odin erst nach ihrem „Umzug“ zu den Asen von den Runen hört (und hier vielleicht mit ihm in einem Wissensaustausch war). Ursprüngliches Seidr ist also erst einmal etwas, das mit Runen nicht viel zu tun hatte, sondern vielmehr mit den Zaubergesängen, was sich jedoch über die Zeiten gewandelt haben mag. Ebenso kursieren in der Esoterikszene manche Theorien über Runenmagie, die nicht nur historisch haltlos, sondern auch ob ihrer Herkunft zweifelhaft sind. Der österreichische Schriftsteller Guido List (1848 – 1919), der seinem Namen gern ein herbeifantasiertes „von“ hinzufügte, hat beispielsweise die 18 im Havamal erwähnten Zaubersprüche Odins als Grundlage seiner Runenlehre verwendet und sie in sein völkisches Gedankengut eingefügt. Obwohl nirgendwo in der Prosa- oder der Lieder-Edda ein Hinweis darauf zu finden ist, dass diese Zaubersprüche in irgendeiner Weise mit den Runen in Zusammenhang stehen, halten sich die fixen Ideen Lists seitdem hartnäckig und werden leider heute noch eher unkritisch in einigen Werken weitergegeben.96 (Also: Augen auf beim Runenbuchkauf!)
Sagen wir es mal so: Magie ist ein heikles Thema. Vor Jahren hatten wir mit unserem gemeinsamen Freund Philip Carr-Gomm, der damals noch als gewähltes Oberhaupt des größten modernen Druidenordens der Welt fungierte, ein Gespräch über dieses Thema und kamen nach einigen Formulierungsversuchen auf folgende für uns nach wie vor stimmige und recht schlichte Definition: Magie ist das Fokussieren des eigenen Willens mithilfe eines Rituals. Das funktioniert für uns ebenfalls in Zusammenhang mit den Runen, die man nutzen kann, um sich zu sammeln, um den Geist von festgefahrenen Mustern zu befreien, um herauszufinden, was man wirklich will, und um diesen Willen für sich selbst mit einem Symbol (oder Symbolen) zu verbinden und somit zu stärken. Es geht immer um das Eigene, weshalb auch von der Absicht, jemand anderem zu schaden (und dafür zum Beispiel die Thurisaz-Rune zum Einsatz zu bringen), nur abzuraten ist – denn letztlich ist es unser eigener Wille, also unser eigener Geist, der mit solchen Vorhaben vergiftet wird. Sind die Runen mit einer bestimmten Symbolik verbunden, so können sie natürlich auch zur Weissagung, zum Orakeln eingesetzt werden.
Runen waren und sind in der Tat noch immer faszinierend, und es lohnt sich, sich damit eingehend zu beschäftigen. Die komplette Bandbreite dieses Themas würde den Umfang dieses Buches allerdings sprengen, und daher möchten wir es bei diesem kurzen Einblick belassen, für den praktischen Weg lieber auf die Rituale, Übungen und (schamanischen) Meditationsreisen dieses Buches verweisen und raten, sich den Runen langsam und geduldig zu nähern. Dabei bietet sich erst einmal eine historische Auseinandersetzung und ein Kennenlernen der verschiedenen Bedeutungsebenen an, bevor man sich auf die magischen Aspekte einlässt.
95Tolkien hatte allerdings eine besondere Vorliebe für die Runenreihe des englischen Futhorc, das im Gegensatz zum älteren Futhark über 31 statt 24 Zeichen verfügt.
96Die auf Guido List zurückgehende List-Gesellschaft hatte großen Einfluss auf die Thule-Gesellschaft und dadurch letztlich auf die NSDAP. Lists Gedanken begeisterten auch Heinrich Himmler und somit die SS. Und auch der neuheidnische Armanenorden, der 1976 in Deutschland gegründet wurde und sich auf List beruft, trägt dieses Gedankengut – das absolut NICHTS mit der nordischen Tradition zu tun hat – weiterhin in sich. („Armanen“ ist ein Kunstwort, das sich List ausgedacht hat und das die Begriffe „Arier“ und „Germanen“ vereint. Seiner Meinung nach waren diese Armanen die geistigen Führer der Germanen. Historisch ist das alles absoluter Unfug! Vom Menschlichen her ganz zu schweigen …!)