Ein Dorf am Rande einer sanft geschwungenen Bucht. Flache, etwas windschiefe Hütten mit reetgedeckten Dächern, davor Holzgestelle, auf denen Fische zum Trocknen hängen. Man hört einen Hammer, der auf einen Amboss trifft, hier und dort Gelächter, eine Frauenstimme singt ein sehnsuchtsvolles Lied. Ein großes Langboot und einige kleinere Kähne dümpeln in den seichten Wellen des natürlichen Hafens. Menschen laufen hin und her, tragen Fässer und Säcke, gefaltete Stoffbahnen, Pelze und vieles mehr. Die Gesichter der Menschen sind offen und wettergegerbt, den Händen sieht man die jahrelange harte Arbeit an. Die Felder, die direkt hinter den Hütten beginnen, sind frisch gepflügt, die Saat ist ausgebracht, und heute versammeln sich die Menschen, um den Segen der Götter und Göttinnen zu erbitten, die für ihre Gemeinschaft eine so große Rolle spielen.
Eine der Ältesten erhebt das Wort, spricht von Fruchtbarkeit und der Vereinigung von Gott und Göttin, während ein mit Met gefülltes Horn die Runde macht und jeder einen Schluck nimmt, nachdem er ein paar Tropfen als Opfer auf die Erde geschüttet hat. Dieser Ort ist ein Zuhause, ernährt die Menschen und lehrt sie, wer sie sind. Der Wind trägt die Worte der alten Frau gemeinsam mit den Wünschen der Dorfbewohner davon, über die Felder, über das Meer … dorthin, wo ein Wesen sie hört, dessen Seele die Weite der Welten durchdringt. Ein Gott, der die Wärme der Sonne auf die kargen Felder lenkt und für neues Leben sorgt.
Ungefähr so kannst du dir die Lebenswirklichkeit deiner Ahnen vorstellen. Von all dieser Lebendigkeit, diesem Glauben und dem Vertrauen ist kaum noch etwas übrig. Ein paar Nägel, die die Planken des Langbootes zusammenhielten, liegen heute in einem Museum, ebenso wie vielleicht die Brosche der alten Frau, die einst einen Umhang zierte und nun in einer Glasvitrine den Blicken von mehr oder weniger interessierten Besuchern ausgesetzt ist. Von den Hütten sind nur noch Spuren im Boden zu sehen, und die Grenzen der Felder sind nur noch mit Spezialkameras aus Flugzeugen auszumachen. Ein verbeultes Schwert, rostig und ohne den sorgfältig gefertigten Griff, den es früher einmal trug, ist das Highlight einer Ausstellung. Aber vom Leben der Menschen, von ihren Schicksalen sind nur noch Ahnungen geblieben. Und doch – so würde wohl die Älteste des Dorfes dir sagen, wenn sie könnte – liegt das Land weiterhin unter deinen Füßen, doch berührt der Wind dein Gesicht, doch kannst du die Stimmen der Vögel hören und die Wellen sehen, die am flachen Strand sanft heranrollen.
All das Göttliche (beziehungsweise all das von unseren Ahnen als göttlich Angesehene) ist noch da … und mit jedem Schritt bewegst du dich in einer Welt, die erfüllt ist von Leben und Heiligkeit, wirst begleitet von einem Schutzgeist, der durch alle Zeiten von deinen Vorfahren zu dir weitergewandert ist. Dieser Schutzgeist war für die Menschen alter Zeiten eine Selbstverständlichkeit: ein sogenannter Folgegeist, ein vom Leib losgelöstes Seelenwesen, eine Fylgja99.
Gesehen werden kann diese Fylgja meist nur von Sehern oder Seherinnen in Trance, oder aber im Traum und zum Zeitpunkt des eigenen Todes beziehungsweise in großer Gefahr. Dann taucht sie entweder in Gestalt einer bewaffneten Frau auf, als schemenhaftes Abbild des eigenen Körpers oder aber in Tiergestalt. Aufgrund dieser Vielschichtigkeit wird die Fylgja auch manchmal als Hamingja100 bezeichnet, was so viel wie „Gestaltwandler“ oder „Gestaltwandlerin“ bedeutet. Dieser Folgegeist kann also unterschiedliche Formen annehmen – Formen, die in gewisser Weise (durch ihre jeweilige Erscheinung oder Beschaffenheit) Botschaften weitergeben können.
Das Konzept der Fylgja ist nicht philosophisch ausgearbeitet worden (oder diese Ideen haben sich im Laufe der Zeit verloren), wie überhaupt die Seelen- und Jenseitsvorstellung im germanischen Bereich nicht so dezidiert ausformuliert wurde wie beispielsweise im christlichen Kontext. Daher bleibt heute so manches unklar, was einige Historiker zu der Vermutung geführt hat, dass diese Unklarheit schon damals bestand, als diese Vorstellungen noch sehr lebendig waren, beziehungsweise dass mehrere Glaubensvorstellungen nebeneinander existierten. Und das ist vielleicht etwas, was bei der Betrachtung der Mythen, der Überreste von Religionsausübung und Ideengeschichte generell hilfreich sein kann: Es ist höchst unwahrscheinlich, dass alle Völker, alle Stämme, alle Kulturen des nordischen Europas die exakt gleichen Vorstellungen hatten und die Göttinnen und Götter in der genau gleichen Weise gesehen haben. Wir denken eher, dass dies von Region zu Region sehr unterschiedlich war, was unter Umständen auch dazu geführt hat, dass es verschiedene Versionen ein und desselben mythologischen Motivs gibt. Mit relativ großer Wahrscheinlichkeit kann man aber in Bezug auf die Fylgja festhalten, dass sich die Seelenvorstellung der nordischen Kulturen stark von der christlichen Variante unterschied: Die Fylgja verlässt beim Tod den Körper des Menschen und kann eigenständig existieren oder aber auf Verwandte übergehen und diese damit stärken. Das heißt, dass die Kraft des Verstorbenen auf seinen Nachfahren übergeht und ihm fortan als Schutzgeist dient. Eine interessante Vorstellung, die letztlich auch bedeutet, dass jeder Mensch über ein sehr direktes Band zu seinen Vorfahren verfügt und in gewisser Weise von ihren Erfahrungen und ihrem Wissen profitiert.101 Die eigene Seele steht in Verbindung mit den Seelen der Ahnen, ist ganz stark in die Vergangenheit, in den Ursprung verwoben.
Zugleich ist die Fylgja aber ein eigenständiges Wesen, was es vielleicht ein wenig erschwert, es gedanklich zu greifen. Möglicherweise geht es hier um eine Symbiose zwischen Seelen, die sich gegenseitig stärken und gemeinsam wachsen, weil ja im Laufe der Generationen immer mehr Seelenanteile zur Fylgja „hinzugerechnet“ werden.
Es wird angenommen, dass manche Menschen eine Fylgja haben, andere hingegen mehrere. Manche Fylgjas sind schwach, andere stark, was sich wiederum auf die Stärke und auch das Glück des jeweiligen Menschen auswirkt. Und ein weiteres spannendes Detail: Ganz gleich, welches Geschlecht der Verstorbene hatte, seine sich nach dem Tod zeigende Fylgja scheint nahezu immer weiblich zu sein, was auf die Wertschätzung des Weiblichen als fruchtbare Quelle des Lebens hinweist, wofür unser aller Ahnen offensichtlich einen Sinn hatten. Wie sehr die Fylgja mit dem Menschen verbunden ist, wie sehr sie dem „Ich“ zugehört und wie sich die Eigenständigkeit dazu verhält – all das fällt in den Bereich dessen, was niemand mehr sagen kann, der es nicht selbst erfahren hat.
Wir vermuten jedenfalls, dass die Fylgja als Abbild des eigenen Körpers, also sozusagen als geistiger Doppelgänger, derjenige Teil der eigenen Seele ist, der im Traum oder auch bei einer schamanischen Reise agiert. Dass hat uns zu dem Gedanken geführt, dass die nordischen Kulturen vielleicht nicht von einer in sich geschlossenen Seele ausgingen, sondern von verschiedenen miteinander verwobenen und interagierenden Seelenanteilen (und zwar sowohl Ahnenanteilen als auch ganz individuellen Elementen). Dies ist eine weitverbreitete Vorstellung bei schamanisch geprägten Kulturen auf der ganzen Welt.
Auch bei diesem Thema gibt es nur sehr wenig Vorgefertigtes, und dir fällt für die eigene Beschäftigung damit wieder einmal die Aufgabe zu, dir selbst Gedanken dazu zu machen:
Wie stehst du in Kontakt zu deiner Ahnenlinie?
Was haben deine Ahnen an dich weitergegeben?
Was davon kannst du wertschätzen und mit was möchtest du lieber nichts zu tun haben?
Wo liegen deine Wurzeln?
Welchen Weg – materiell oder ideell – haben deine Ahnen dir geebnet?
Was wirst du an kommende Generationen weitergeben?
Fühlst du dich so, als stände deine Ahnenreihe geschlossen hinter dir?
Stehst du hinter denen, die dir nachfolgen?
Gibt es Momente, in denen du die Kraft deiner Fylgja spüren kannst?
Was mögen wohl die frühesten Erinnerungen deiner Fylgja sein?
Was trägst du zur Kraft und Weisheit deiner Fylgja bei?
Was soll sie denen, die dir nachfolgen, mit auf den Weg geben?
Bist du eine/r oder viele?
Gibt es mehrere Stimmen in deiner Brust?
Ist deine Seele ein rein individuelles Phänomen oder könntest du dir vorstellen, dass es sich auch um eine Symbiose aus vielen verschiedenen Anteilen handeln könnte, die miteinander interagieren?
Wie auch immer du die Fylgja siehst, es steht wohl fest, dass es da irgendeine Art der Verbindung zu deinen Ahnen gibt. Wären sie nicht gewesen und hätten sie ihr Leben nicht zumindest so weit gemeistert, dass sie Kinder in die Welt setzen konnten, gäbe es dich heute nicht. Diese Verbindung bezieht sich jedoch nicht ausschließlich auf den Körper, also auf die Gene, die weitergegeben wurden. Es gibt hierbei – und diese Ebene ist für dieses Buch weit wichtiger – eine seelische Komponente, die ein kaum näher zu beschreibendes Mosaik aus Erinnerungen, Sehnsüchten, tief wurzelnden Kräften und einem geheimnisvollen Raunen aus längst vergangenen Tagen bildet – irgendetwas, das in dir lebendig ist und dich wahrscheinlich auch dazu gebracht hat, ein Buch wie dieses hier überhaupt zu lesen. Und dieses komplizierte Mosaik mit all seinen unterschiedlichen Bestandteilen ist vielleicht mit dem Wort „Fylgja“ gut umrissen. Eine Fylgja, die dir immer wieder einmal etwas zuflüstert, die dich das Land und das Meer, die Wälder, Berge und Seen, die Bäume und Tiere mit anderen Augen sehen lässt.
Die Wege deiner Ahnen waren zu der Zeit, in der die Glaubensvorstellungen, mit denen wir uns hier befassen, entstanden und tatsächlich gelebt wurden, sehr vielschichtig. Deine Ahnen waren keine Wilden, auch wenn andere Völker sie vielleicht so gesehen haben mögen. Sie waren zwar Krieger (und darin wahrscheinlich ziemlich gut), aber vor allem jedoch Bäuerinnen und Bauern, Handwerker, Händler, Künstlerinnen und Dichter, Priester und Seherinnen, Kräuterkundige und insgesamt Menschen, deren Alltag von ihren Mythen durchdrungen war. Vereint hat sie wohl auch ein großer Freiheitsdrang und die Ablehnung von Dogmen, weshalb viele Wege und Ansichten nebeneinander existieren konnten. Eine kohärente Philosophie, die logisch und widerspruchsfrei aufeinander aufbaut, haben diese Menschen nicht entwickelt – ihre Weltsicht wurde von Geschichten bestimmt, die immer weitererzählt wurden und sich lebendig veränderten, bis sie dann irgendwann doch jemand niederschrieb. Doch auch wenn es keine ausformulierte Moralphilosophie gab, konnten sich diese Menschen dennoch auf gewisse Werte einigen, die auch heute noch bedenkenswert sind. Einige dieser Werte sind im Havamal versammelt, einer Schrift aus dem Codex regius, die im 13. Jahrhundert entstand, aber wie alle Texte, die in diesem Buch eine Rolle spielen, auf viel älteren Quellen beruht. Das Havamal wird auch „Die Sprüche des Hohen“ genannt, weil es angeblich Odin war, der diese Sinn- und Merksprüche an die Menschen weitergab, um ihnen zu vermitteln, was für ein ehrbares und gutes Leben notwendig sei.
Manchmal wird diese Schrift auch als „Das alte Sittengedicht“ bezeichnet, was ziemlich deutlich darauf hinweist, dass es hier ausnahmsweise nicht um Geschichten, sondern viel eher um echte Ermahnungen geht.
Die Themen des Havamals sind breit gefächert, grundsätzlich dreht sich aber alles um recht praktische Dinge des täglichen Lebens und um Tugenden wie Fleiß, Klugheit, Gastfreundschaft, Ehrlichkeit, Tapferkeit, Bescheidenheit, Genügsamkeit, Freundschaft und Großherzigkeit. Zynischen Zeitgenossen mögen diese Werte überholt vorkommen, doch glauben wir, dass sie immer noch das Leben des Einzelnen wie auch der Gemeinschaft bereichern.
Ein hohes Gut war die Gastfreundschaft, die ja auch Odin immer wieder in seiner Grimnir-Gestalt erprobt und dabei die Herzen der Menschen prüft. Daher spricht auch das Havamal von dieser Tugend und misst ihr eine große Bedeutung zu:
„Heil den Gebern!
Ein Gast trat ein.
Sagt, wo er sitzen soll!
Nicht behaglich hat’s,
wer auf dem Holz sein Glück versuchen soll.
wer fernher kam,
an den Knien kalt;
Gewand und Speise
der Wanderer braucht,
der übers Hochland hinzog.“102
Der Gast soll also einen guten Platz am Feuer bekommen, dazu trockene Kleidung und etwas zu essen. Dabei ist mit „Gast“ hier ein jeder Mensch gemeint, der an die Tür klopft, auch Fremde. Und sollte man selbst einmal Gast sein, hat das Havamal ebenfalls Ratschläge parat, wie man sich zu benehmen habe:
„Nicht klebe man am Becher,
trinke Bier mit Maß,
spreche gut oder gar nichts;
niemand wird dein Benehmen tadeln,
gehst du bald zu Bett.“103
Der kluge Austausch untereinander („spreche gut oder gar nichts“), die gegenseitigen Besuche, das Pflegen der Freundschaft sind der soziale Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält:
„Wenn du einen Freund hast,
dem du fest vertraust
und von dem du Gutes begehrst,
tausch mit ihm Gedanken
und bedenk ihn mit Gaben,
suche oft ihn auf!“104
Die Gesellschaftsform unserer Ahnen konnte sich keinen isolierten Individualismus leisten, wie er heute so oft zu finden ist. Man musste sich mit anderen verbinden, musste sich in Notzeiten auf sie verlassen können. Grundbedingung dafür war Ehrlichkeit – eine Forderung, die auch im sogenannten „Dritten Sittengedicht“, das ebenfalls zum Havamal gehört,105 deutlich anklingt:
„Das rat ich zum ersten,
dass du rechtschaffen dich
gegen deine Nächsten benimmst …
Das rat ich zum anderen,
dass du Eide nicht schwörst,
die der Wahrheit zuwider sind …“106
Hier muss man allerdings sagen, dass solche Ratschläge aus dem Mund Odins schon ein wenig seltsam anmuten, ist er doch jemand, der es mit Eiden nicht so genau nimmt und für seinen eigenen Vorteil gern die Wahrheit zurechtbiegt. Etwas, was ihn des Öfteren mit seinem Sohn Thor in Konflikt bringt, der solche Dinge weitaus ernster nimmt. Was Ehrlichkeit und Gerechtigkeit angeht, sollte man sich im nordischen Pantheon daher besser an Thor halten oder sich mit Tyr befassen.
Die Edda erzählt, dass Odin und seine Brüder die Welt aus Ymirs erschlagenem Körper geschaffen haben und somit die ersten Götter gewesen seien. Doch Tyr ist nachweislich ein viel älterer Gott beziehungsweise eine viel ältere Vorstellung einer Göttergestalt, die schon als großer Himmelsvater der Indo europäer bekannt gewesen sein dürfte. Sein Name, der auch als Ziu oder Tiuz auftaucht und der so viel wie „der Leuchtende“ bedeutet, lässt sich in vielen Götternamen wiederfinden: Das rekonstruierte urgermanische Wort Teiwaz oder Tiwaz ist verwandt mit dem griechischen Zeus, dem kleinasiatischen Tiyaz oder auch Dyauh, was in den vedischen Schriften des alten Indiens auftaucht. All diese Begriffe bezeichnen Sonnen- oder Himmelsgötter ihrer jeweiligen Kulturen und meinen stets auch den Vater aller Götter oder den Vater allen Seins. Es sind jedoch keine Namen im eigentlichen Sinne, sondern bedeuten ganz allgemein „Gott“. Auch das lateinische Wort deus für „Gott“ leitet sich aus den gleichen Wortwurzeln ab.
Im Laufe der Zeit ist Tyr jedoch verdrängt worden und hat dann nicht mehr die Rolle des Himmelsvaters inne, sondern wird zum Gott des Krieges, der Gerechtigkeit und des Things, also der Volks- und Gerichtsversammlung. Letzteres ist eine Aufgabe, für die er wie geschaffen ist, denn an Tyr ist – ganz anders als bei Odin – nichts zweideutig. Er hat keine dunkle Seite, die Dinge verheimlicht, listig ist oder den eigenen Vorteil sucht. Tyr ist geradeheraus, unbestechlich und völlig dem ergeben, was die Ordnung aufrechterhält. Er ist die personifizierte Tugend und wäre als Sprecher des Havamal weit besser geeignet als Odin.
Die berühmteste Geschichte, die sich um Tyr dreht, beschreibt dessen Qualitäten recht eindrücklich, daher sei sie auch hier kurz wiedergegeben:
Loki hat mit der Riesin Angrboda drei Kinder, von denen eines der Fenriswolf ist – ein Tier von unglaublicher Stärke, das immer weiter wächst. Als die Asen ihn zum ersten Mal erblicken, wollen sie ihn aufgrund seiner Wildheit erschlagen, doch Odin will ihn lieber zähmen und ihn im Kampf gegen die Riesen einsetzen. Baldur setzt sich für den jungen Wolf ein und weist darauf hin, dass Asgard ein heiliger Ort sei, an dem niemand einfach erschlagen werde – und auch Thor findet es ehrlos, einen Welpen zu töten. Aber allesamt fürchten sie den Fenriswolf und seine Kraft, alle außer Tyr, der sich irgendwie mit dem Wolf anfreundet und sich ihm gefahrlos nähern kann. Die Götter beschließen daraufhin, den Wolf zu fesseln und sich so vor seiner Kraft zu schützen. Sie fertigen eine starke Kette an und überreden den Wolf, sie sich als Kraftprobe anlegen zu lassen, doch Fenris zerreißt sie wie einen Bindfaden. Daraufhin stellen sie eine doppelt so starke Kette her, die der Wolf wiederum mit Leichtigkeit zerreißt. In solchen Momenten können eigentlich nur noch die Zwerge helfen, die in ihren Schmieden ein mit machtvollen Zaubern versehenes Band herstellen, was dann dem Fenriswolf umgelegt werden soll. Doch der Wolf ahnt, dass hier etwas faul ist und er mit einem Zauber betrogen werden soll. Um auf Nummer sicher zu gehen, stimmt er dem Anlegen des Bandes zu, aber nur, wenn einer der Götter dabei eine Hand in sein Maul legt. Niemand will das tun, nur Tyr erklärt sich bereit – wahrscheinlich schon von einem schlechten Gewissen bewegt.
Er legt seine rechte Hand in das Maul des Wolfes, die anderen Götter fesseln Fenris … und tatsächlich kann er sich nicht aus eigener Kraft befreien. Er zerrt und tritt um sich, und die Götter lachen, haben sie es nun doch geschafft, den Wolf hereinzulegen und ihn zu bändigen. Der Einzige, der nicht lacht, ist Tyr. Nicht aus Angst um seine Hand, sondern weil er findet, dass sich ein solches Verhalten nicht gehört. Schon gar nicht für Götter. Und Fenris, der sich nicht mehr zu helfen weiß, beißt zu, sodass Tyr fortan als der einhändige Gott bekannt ist.
Diese Geschichte zeigt, wie sehr Tyr an der Erhaltung der Ordnung interessiert ist. Er hätte seine Hand frühzeitig aus dem Maul ziehen können, er hätte mit den anderen Göttern lachen können … doch er hat sein Wort gegeben. Und dies ist bindend. Daher lässt er sich lieber die Hand abbeißen, anstatt sich mit List und Tücke aus der Situation herauszuwinden. Er übernimmt Verantwortung für sein Tun und stellvertretend auch für das Tun der anderen Götter. Das macht ihn zum Gott der Gerechtigkeit, der jedem Thing symbolisch vorsitzt und dessen fehlende Hand einen jeden daran erinnert, dass Handeln Konsequenzen hat und niemand von solchen Folgen seines Tuns ausgenommen ist. Die fehlende Hand ist Ausdruck von Ehrlichkeit, Unparteilichkeit und dem Opfern des eigenen Vorteils zum Wohle der großen Ordnung.
Tyr beteiligt sich an der Fesselung des Fenriswolfes, weil er weiß, dass der Wolf gefährlich ist. Zugleich hat er aber ein ganz starkes Empfinden dafür, dass hier etwas falsch läuft und dass ein Tier (oder genauer gesagt ein Welpe, also ein Kind) mit List übervorteilt wird. Diese Falschheit verlangt einen Ausgleich, in diesem Fall Tyrs Hand.
Dass diese Geschichte überliefert wurde, lässt tief in die Vorstellungen von Gerechtigkeit und Ehrlichkeit der nordischen Kulturen blicken. Auch wenn es viele Geschichten um Odins und Lokis Listigkeit gibt, ist hier doch ganz klar benannt, was richtiges Handeln bedeutet: einzustehen für das, was man tut; aufrecht stehen; sich einsetzen für das große Ganze; der Ordnung gemäß handeln und ehrbar bleiben. Nichts war für die Menschen in jenen Zeiten schlimmer als die Vermutung, sie könnten unehrenhaft sein. Der gute Ruf war wichtig, und man konnte nicht einfach behaupten, dass Erkenntnisse, die andere über das eigene Verhalten gewonnen hatten, nur „Fake-News“ seien. Man musste sich der Wahrheit stellen – und diese Wahrheit war das oberste Gebot!
Lieber opferte man die Hand oder auch das eigene Leben, statt ehrlos dazustehen. Dazu passt auch ein weiterer Vers des Havamal:
„Der feige Mann glaubt immer zu leben,
wenn er dem Kampf ausweicht;
doch das Alter gibt ihm keinen Frieden,
auch wenn ihn die Speere gewähren.“107
Die Lüge, also die Feigheit vor der Wahrheit, das ehrlose Verhalten, der mangelnde Mut, zu seinem eigenen Tun zu stehen – all das lohnt sich nicht, denn es schenkt keinen Frieden. Man weiß ja, dass falsch war, was man getan hat … und dieses Wissen wird einen bis auf das Totenbett verfolgen. Dies ist kein leeres Geschwätz von Ehre, die nur so tut, als würde sie existieren. Die nordischen Kulturen waren sich offenbar sehr bewusst, dass Ehre mit dem eigenen ehrbaren Verhalten beginnt und nicht mit vielen Worten darüber.
„Froh lebt,
wer freigebig und kühn,
selten quält Sorge ihn;
Furcht hegt immer
der feige Mann …“108
Im Mythos von Tyr und dem Fenriswolf, und ebenso im Havamal, zeigt sich eine praktische Lebensphilosophie, die relativ einfach gestrickt scheint, die aber dennoch alle Bereiche des Lebens berührt und jeden Menschen auffordert, wirklich erwachsen zu sein und Verantwortung zu übernehmen. Eine Forderung, die jeder funktionierenden Gesellschaft zugrunde liegen sollte und die uns Menschen in jedem Augenblick mit wichtigen Fragen konfrontiert:
Kannst du die Wahrheit sagen, auch wenn diese Wahrheit unangenehme Folgen für dich haben könnte?
Kannst du zu deinen Fehlern stehen und Verantwortung für sie übernehmen?
Kannst du mutig unangenehmen Dingen und Situationen entgegenschreiten?
Kannst du das, was du als falsch oder nicht heilsam erkannt hast, wirklich lassen? Kannst du das Gute tun, auch wenn andere dabei über dich lachen?
Kannst du geben, ohne haben zu wollen?
Kannst du anderen den Vortritt lassen und dich für sie freuen?
Kannst du ein echter Freund, eine echte Freundin sein?
Es mag eine einfache Ethik sein, aber es ist eine, die unserer Meinung nach gut funktioniert und an deren Ansprüchen jeder Mensch wachsen kann.
99Der Begriff Fylgja oder Fylgjur kommt aus dem Altnordischen und bedeutet so viel wie „etwas folgt, kommt nach“.
100 Abgeleitet von Ham-gengja: Wesen, die ihre Gestalt (Hamr) „gehen“ lassen können. Vgl. Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 167
101 Du kannst dich diesem Band (erstmals) widmen oder es für dich stärken mit unserem Ritual zum Ahnenboot auf S. 230 ff.
102 Havamal 2 und 3
103 Havamal 12
104 Havamal 40
105 Dieses sogenannte „Dritte Sittengedicht“ ist jüngeren Ursprungs und trägt schon christliche Einflüsse in sich.
106 Havamal, Drittes Sittengedicht 1 und 2
107 Havamal 54, hier in der Übersetzung von Arnulf Krause aus dem Buch „Die Weisheit der Wikinger“, S. 31
108 Havamal 53